Kapitel 3
Mit einem äußert schnellen Tempo, fuhren Isabella und Ihr Vater mit dem Automobil die Straßen entlang.
Schon von weiten konnte sie die großen, verrosteten Tore des Viertels erkennen.
Sie schluckte und hoffte sehnlichst, dass es zu keinen unangenehmen Situationen kommen würde.
Kurz vor den Toren, bremste Isabellas Vater stark ab und stieß Isabellas Meinung nach, die Tür ein wenig fester als sonst hinter sich zu.
Der Wachmann erkannte den Mann sofort und riss überrascht die Augen auf.
Er hatte wohl nicht mehr mit einem Besuch vom System gerechnet.
„Guten Tag Sir", sagte er und machte eine kurze Verbeugung.
„Was kann ich für sie tun?" Wonach sieht es denn aus", blaffte Isabellas Vater den Wachmann an.
„Ich möchte gerne hinein!"
Der Wachmann zuckte zusammen, versuchte dies aber mit einem lächeln zu überspielen.
„Sicher Sir, einen schönen Aufenthalt!"
Schnell schlüpfte Isabella mit ihrem Vater durch die Absperrung und lief nervös neben ihm her.
Noch immer gingen viele Bewohner durch die dreckigen Straßen des Viertels.
Vereinzelt auch noch ein paar Kinder und Isabella wusste beim besten Willen nicht, wie ihr Vater gedachte, diese Tasche zu finden.
Doch Ihr Vater ging entschlossenen Schritts voran, biss er zu einer Art Marktplatz kam.
Hier befanden sich die meisten Leute.
Einige Händler, die noch die restlichen, unverkauften Lebensmittel in ihre Kisten packten, Kinder die noch auf den Straßen spielten und ihre Mütter, die ihre Kinder suchten, um sie ins Haus zu holen.
Als jedoch Isabellas Vater mit erhobenen Haupt in der Mitte des Marktplatzes stand, blickten alle auf und unterbrachen ihre Tätigkeiten.
Mit einer Mischung aus Furcht und Neugier betrachteten die Bewohner den hochgewachsenen Mann.
„Meine Tochter hat ihre Tasche hier verloren", begann er mit einer tiefen und rauen Stimme.
„Und ich werde nicht eher ruhen, bis derjenige der die Tasche gestohlen hat, sie wieder rausrückt!"
„Wenn ihr diesen Forderungen nicht nachgeht, werde ich weitere Wachmänner zur Durchsuchung eurer Häuser einschalten!"
Nun wirkte seine Stimme nicht nur tief, sondern auch so bedrohlich, dass sogar Isabella die Gänsehaut überkam.
So ging es nicht nur Isabella, nahezu jeder Bewohner blickte ihren Vater mit mehr als nur Respekt an.
Besonders das kleine Mädchen, dass in der Mitte des ganzen geschehen stand, betrachtete den Mann, als wäre er das schrecklichste Monster, das sie jemals gesehen hätte.
Ihre Hände begannen vor Angst zu zittern und auf einmal viel aus ihren zarten Händen, die hinter ihrem schmutzigen Rock versteckt waren, eine kleine, rosafarbige Tasche hinaus.
Eine kleine Träne kullerte die Wange des Mädchens hinunter und ehe irgendjemand reagieren konnte begann es laut zu schluchzen und zu weinen.
Für eine Millisekunde hoffte Isabella, dass ihr Vater das so eben geschehene nicht mitbekommen hatte, obgleich das ihre Tasche war und das Mädchen so laut heulte, dass es nicht zu überhören war.
Doch ihr Vater trat entschlossenen Schrittes auf das Mädchen zu, biss er genau vor ihr Stand.
Obwohl Isabella wusste, dass ihr Vater nur das richtige Tat, fürchtete sie sich davor, was wohl als Nächstes passieren würde.
„Dir ist doch wohl klar, dass du eins der wichtigsten Gesetzte des Systems gebrochen hast, nicht Mädchen?"
Das Mädchen antwortete nicht, sondern begann nur noch weiter zu schluchzen.
„Warum hast du die Tasche meiner Tochter geklaut?"
Doch das Mädchen antwortete nicht, stattdessen begann es vor lauter Furcht hektisch ein und auszuatmen.
„Kannst du nicht reden?, antworte Mädchen, woher hast du die Tasche?"
Sie antwortete nicht.
„Woher hast du die Tasche?"
Nun, hatte sich ihr Vater so bedrohlich vor dem kleinen Mädchen aufgebaut, dass Isabella so große Angst davor hatte, was als Nächstes passieren könnte, dass sie die Augen fest zusammenkniff.
„Von mir!"
Hörte sie plötzlich eine Stimme rufen.
Überrascht öffnete sie wieder die Augen und blickte wieder zum Marktplatz.
Dort stand der Straßenmaler, denn sie nur wenige Stunden zuvor begegnet war.
Isabellas Vater blickte vom kleinen Mädchen auf und ging langsam zu den Jungen.
Doch dem Jungen schien das nicht sonderlich viel auszumachen.
Er schien genauso gleichgültig und unbeschwert, wie er auch beim Malen gewirkt hatte.
„Und was gibt dir das Recht, die Tasche meiner Tochter zu stählen?"
Ich stehle nicht, ihre Tochter sollte einfach besser auf ihre Sachen aufpassen, wer findet, der behält, außerdem besitzt ihre Tochter sicherlich so viel Taschen, da fällt eine weniger sicherlich auch nicht auf."
Nun wusste Isabella genau, dass ihr Vater seine noch eben einigermaßen ruhige Stimme schon längst überwunden hatten, gleich würde seine Wut überhand gewinnen.
Dies merkte sie daran, wie die Ader an seiner Stirn dick hervortrat und er seine Faust fest zusammen ballte.
Doch ehe es zu einem Wutausbruch kommen konnte, war Isabella schon dazwischen gegangen.
„Er hat recht Vater, ich habe meine Tasche auf den Boden gelegt und sie dann wohl vergessen, jetzt weiß ich es wieder!"
„Tritt beiseite Kind!", erwiderte ihr Vater trocken ohne seinen Blick vom Jungen zu lösen.
Doch Isabella dachte gar nicht erst dran.
„Vater, weder er noch das Mädchen haben Unrecht getan und wir haben die Tasche, also können wir nun gehen!"
Als ihr Vater noch immer nicht zu reagieren schien, wurde Isabellas Stimme schärfer.
„Vater!"
Schließlich wandte ihr Vater seinen Blick ab und ging ohne ein weiteres Wort Richtung Absperrung.
Isabella schluckte und blickte vorsichtig hoch, zum Gesicht des Jungen.
Doch sobald sie das getan hatte, bereute sie es wieder.
Schon wieder betrachtete er sie mit einem solch hasserfüllten Blick, der in Isabella ein schreckliches Unbehagen erweckte.
„Es tut mir leid", piepste sie, wahrscheinlich so leise, dass es kein einziger Mensch hören konnte, dann lief sie mit schneller Schritten ihrem Vater hinterher.
Noch nie zuvor hatte Isabella eine solch kühle Stimmung zwischen ihr und ihrem Vater erlebt.
Dieser blickte, während er fuhr, starr gerade aus.
Die ganze Fahrt über, wagte Isabella es nicht, auch nur ein Wort von sich zu geben.
Noch nie zuvor war sie so froh gewesen, endlich aus dem Auto steigen zu können.
Nach einem unangenehmen Abendessen, bei dem niemand auch nur ein Wort sagte, begab sich Isabella erleichtert in ihr Zimmer.
Leise ließ sie die Tür hinter sich zu fallen und lehnte ihren Kopf gegen das kühle, weiße Holz.
Endlich hatte sie den Tag überstanden, endlich war sie nur für sich.
Müde streifte sie sich ihre Schuhe von Füßen, während sie die kleine Rosafarbene Stofftasche auf ihr Bett warf.
Dann öffnete sie ihren Schrank und suchte einen warmen, bequemen Schlafanzug heraus.
Als Isabella wieder Richtung Bett ging, fiel jedoch ihr Blick zu der Tasche.
Sofort wurden wieder diese Bilder in ihrem Kopf geweckt.
Das kleine Mädchen, dass zitternd vor Angst in der Mitte des Marktplatzes stand.
Isabellas Vater, der das Kind voller Wut und Abschaum betrachtete und der Junge, der sich Isabellas Vater in dem Weg stellte.
Doch nicht etwa diese Bilder bereiteten Isabella Gänsehaut, wenn sie auch nur daran dachte, nein am schlimmsten war der Blick aller Menschen, die sie gesehen hatte.
Ein Blick voller Furcht, Trauer, voller Scham!
Ein Blick, wie man ihn sich nur allzu gut in jener Stelle eines Romans vorstellen kann, in dem der Bösewicht auf die Bevölkerung trifft und droht, diese zu Zerstören.
Doch Warum?, warum schauten all diese Menschen voller Furcht und voller Abschaum, wenn sie doch zu den Guten gehörten?
So oft hatte die Schule, in zahlreichen Schriften, Magazinen und Büchern mehr als deutlich gemacht, wie wichtig doch das System für die Menschheit war.
Das System stellte Sicherheit dar, Schutz, Erfolg, ein ruhmreiches Leben...
Es war eindeutig.
Das System stellte die Helden dar, das Südviertel die Bösen.
Isabella schüttelte den Kopf.
Sie durfte nicht weiter so denken!
Ihr Vater hatte richtig gehandelt, sie hatte richtig gehandelt.
Das Mädchen hatte ihr leidgetan, zugegeben sogar sehr, dennoch war es Tatsache das sie Isabellas Tasche gestohlen hatte und dies konnte nun mal nicht geduldet werden.
Um auf andere Gedanken zu kommen, lies sich Isabella auf ihr Bett fallen, um ihren Roman hervorzuholen, als sie bemerkte, wie ungewöhnlich leicht ihre Tasche doch war.
Ein Blick in das Innere ihrer Tasche gab ihr Bestätigung.
Kein Roman war in der Tasche!
Verzweiflung breitete sich in Isabella aus.
Sie brauchte diesen Roman, mehr als alles andere.
Der einzige Ort, an dem der Roman hätte sein können, musste einfach das Südviertel sein.
Dann vielen Isabellas Gedanken zurück zu dem Jungen.
Er war der gewesen, bei dem Isabella ihre Tasche verloren hatte, er war der gewesen, der dem kleinen Mädchen die Tasche geschenkt hat, er musste einfach ihren Roman haben.
Fieberhaft überlegte Isabella was sie als Nächstes tun sollte.
Ihren Vater oder gar ihre Mutter um Hilfe zu bitten stand außer Frage.
Erstens hielten ihre Eltern nicht viel von den Romanen die Isabella las, schon gar nicht von diesem hier und zweitens würden sie nach dem Verhalten, das sich Isabella geleistet hatte nicht auf die Idee kommen, noch einmal mit ihr ins Südviertel zu fahren.
Also musste Isabella alleine handeln und das bedeutete, dass sie wohl oder übel alleine zu Fuß zum Südviertel gehen musste, um ihren Roman zu holen.
Der Marsch zum Südviertel hatte mit der gesamten Schultruppe zusammen eine Dreiviertelstunde gedauert, würde Isabella alleine gehen, so war sie sich sicher, würde sie nur eine gute halbe Stunde brauchen.
Die Strecke war also nicht das Problem, sondern viel eher, wie sie sich unbemerkt auf den Weg machen konnte, ohne dass ihr Vater sie bemerkt.
In der Schulzeit war definitiv keine Option und zu Nachmittagsstunden war Isabella mit zahlreichen Hobbys beschäftigt, die ihr nur wenig Zeit beschafften.
Außerdem befürchtete sie, dass einer der Wachmänner sie an ihren Vater verraten würde, wenn er Isabella alleine am Südviertel sehen würde.
Also blieb Isabella nur die Möglichkeit, bei Nacht nach ihrem Roman zu suchen.
Leise ging sie Richtung Tür und horchte.
Ihre Eltern waren bereits in ihr Schlafzimmer gegangen, Isabella hörte sie zwar noch leise tuscheln, dies war aber nicht weiter schlimm.
Wenn ihre Eltern erstmal im Bett waren, guckten sie auch nicht nochmal ob Isabella auch wirklich zu Bett gegangen war, abgesehen davon taten sie es erst recht nicht, wenn sie nicht gerade gut auf ihre Tochter zu sprechen waren.
Und heute war definitiv einer dieser Tage, an dem sie nicht besonders gut auf ihr Mädchen zu sprechen waren.
So lautlos wie möglich schloss Isabella wieder die Tür hinter sich.
Dann schlüpfte sie in ihre Ballerina und streifte ihren elfenbeinfarbenen Mantel über.
Vorsichtig schlich sie Richtung Fenster und schob den Rahmen hoch.
Von dem Fenster aus war es nicht allzu tief bis zum Boden, also könnte Isabella ohne Problem springen.
Das versuchte sie sich zumindest einzureden, während sie mit weichen Knien und klopfenden Herzen auf den Fensterrahmen kletterte.
Doch dann schloss sie widerwillig die Augen und sprang ins feuchte Gras.
Ein wenig schwankend richtete sich Isabella wieder auf, nahm einen winzigen Stein, der ihr soeben ins Auge gefallen war und packte ihn so zwischen Fenster und Rahmen, dass man kaum erkennen konnte das das Fenster nicht geschlossen war.
Dennoch würde es Isabella später ermöglichen, wieder unbemerkt in ihr Schlafzimmer zu gelangen.
So lautlos wie möglich öffnete Isabella das weiße Gartentor ihres Anwesens und schloss es auch leise wieder hinter sich.
Doch als Isabella dann durch die dunklen Straßen ging und der kalte Wind durch ihr Haar fegte, war sie sich nicht mehr allzu sicher, ob es eine gute Idee gewesen war bei Nacht alleine durch die Straßen zu gehen.
Doch je weiter sie ging, desto entschlossener wurde sie.
Während sie also durch die ausgestorbenen Orte lief, versuchte sie das Knistern aus den Gebüschen und das bedrückende Gefühl, das Sie beobachtet wurde, zu ignorieren.
Minuten vergingen.
Minuten, die sich für Isabella wie Stunden anfühlten und verdeutlichten, dass sie den Weg zum Südviertel definitiv kürzer in Erinnerung hatte.
Doch nach dem sie zügig weitergegangen war, solange, dass sie nicht einmal mehr ihre Finger vor Kälte spüren konnte, sah sie bereits die hohen Drahtzäune.
Die Tore der Eingänge wahren geschlossen und mit Schlössern und Stacheldraht versehrt.
Innerlich schlug sich Isabella gegen die Stirn.
Sie hätte sich ruhig mal mehr Gedanke darüber machen können, wie sie sie in dieses Verdammte Viertel gelangte.
Unsicher begann sie um das Gelände herumzugehen, weit entfernt von den hellen Laternen aus Angst, dass sie jemanden auffallen konnte.
Als sie so weiter ging, fiel ihr Blick auf den dunklen Steinboden und die riesigen Malereien die sich auf ihm befanden.
Faszinierend blieb Isabella stehen und blickte zu Boden.
Noch immer konnte sie nicht glauben, wie ein einfacher Junge etwas so unfassbares zeichnen konnte.
Am faszinierendsten war Isabella von der Zeichnung, die wie ein großes Loch wirkte, ihn ihr wahren dunkle Wälder und Hügel zu sehen, doch es wirkte so als wäre Isabella nur eine fingerbreite von einer neuen Welt entfernt.
Wie bereits am Tag konnte sie es nicht lassen, sich hinunter zum Asphalt zu beugen und ihre Hand Richtung Bild zu bewegen.
Doch wieder trafen ihre Finger auf kalten Asphaltboden.
Was Isabella nur alles tun würde, um so malen zu können, dachte sie sich instinktiv, als ihr Blick auf einmal auf ein kleines Gebüsch fiel.
Es war ein gutes Versteck, ein ziemlich gutes Versteck und Isabella war sich sicher, dass wenn sie sich nicht so eben auf dem Boden gehockt hätte, um das Bild zu berühren, dass das Loch im Zaun versteckt hinter dem Busch, niemals bemerkt hätte.
Isabella atmete tief ein, richtete ihr blondes Haar und krabbelte durch das Gebüsch.
Als sie nun vor dem besagten Loch saß, klopfte ihr Herz so stark, dass sie befürchtete es würde beinah explodieren.
Was würde sie erwarten, wenn sie durch dieses Loch steigen würde?
Was wäre, wenn die Leute auf der anderen Seite, ihr etwas wirklich schlimmes antun würden?
In diesem Moment wünschte sich Isabella, dass sie so mutig wie all die Helden ihn ihren Büchern wäre.
Dann seufzte sie und kletterte vorsichtig durch die aufgeschnittene Drahtöffnung, bedacht darauf, dass der wirklich bedrohlich wirkende Stacheldraht sie nicht verletzte.
Dann war Isabella drinnen.
Im Südviertel.
Es wirkte wie ausgestorben.
Keine Menschenseele war auf der verdreckten Straße zu sehen.
Ein kalter Wind fegte durch Isabellas Haar und ließ sie erschaudern.
War es im Südviertel kälter als bei ihr zu Hause oder bildete sie sich das nur ein?
Sie ging weiter so umher, als sie plötzlich die leise Melodie einer Gitarre oder etwas ähnlichen hörte.
Sie blickte sich um, doch nirgendwo sah sie jemanden.
Neugierig folgte Isabella der Melodie und sah sich verwirrt um.
Auf einmal erlosch das Gespiele.
„Kann ich dir helfen?", rief plötzlich eine Person und lies Isabella so erschrecken, dass sie leicht aufschrie.
Sie blickte nach oben.
Auf einem verdreckten und schon etwas kaputten Scheunendach saß ein Junge mit einer kleinen Ukulele in der Hand.
Erst nach genauerem hinsehen erkannte Isabella, dass es sich um den Straßenmaler handelte.
„Hast du meinen Roman geklaut?", rief sie schließlich zurück als sie wieder Worte fand.
„Was soll ich geklaut haben?"
„Meinen Roman!"
Der Junge überlegte kurz, dann verzog er seinen Mund zu einem schiefen grinsen.
„Wenn du etwas von mir willst, dann komm selber hoch!"
Isabella verzog das Gesicht und betrachtete unsicher das Dach.
Wie sollte sie denn bitte da hochkommen, ohne ihre schöne Kleidung zu verdrecken?
Der Junge deutete ihren kritischen Gesichtsausdruck und verzog sein Gesicht zu einem spöttischen grinsen.
„Dort ist ein Baum", er wies auf eine alte Eiche.
„Von den Ästen aus gelangst du ohne Probleme aufs Dach."
Isabella war sich noch immer nicht allzu sicher, ob sie es tatsächlich wagen sollte auf dieses Dach zu klettern, doch der Junge blickte sie auf einer so spöttischen Art und Weise an, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen konnte.
Also straffte sie die Schultern, ging auf den Baum zu und begann sich vorsichtig die Äste hinaufzuangeln.
Dies war um einiges schwerer als sie zuvor befürchtet hatte.
Isabellas Ballerina rutschten beinah von den Füßen und noch dazu verfing sie sich ständig mit ihrem Kleid in den kratzigen Ästen.
Nun war sie auf der Höhe des Hausdaches angekommen und prüfte unsicher den Abstand zwischen Baum und Dach.
Die Entfernung war zugegeben nicht allzu weit, dennoch befürchtete sie aufgrund der schräge des Hausdaches, hinunterzufallen.
Hilfesuchend richtete sich ihr Blick auf den Jungen, doch dieser dachte nicht mal daran, aufzuspringen und ihr die Hand zu reichen, stattdessen betrachtete er sie wieder einmal mit diesem Blick, diesem Blick aus einer Mischung von Abscheu und Spott der Isabella beinah zur Weißglut trieb.
Schließlich überwand sie ihre Angst und sprang.
Wackelig landete sie auf dem Ziegeldach, schwankte kurz ein wenig zappelig mit den Armen, konnte sich dann aber aufrichten und vorsichtig zum Jungen gehen um sich neben ihn zu setzten.
„Und, war doch gar nicht so schwer, oder?", fragte er mit einem spöttischen grinsen.
Grimmig klopfte sich Isabella den Dreck von ihrem Rock.
„Stimmt, aber es wäre um einiges leichter gewesen, wenn du einfach heruntergekommen wärst, oder mir vielleicht geholfen hättest wie es ein wirklicher Gentleman tut!"
„Ich bin sicher nicht wie die ganzen Blondköpfigen Kavaliere aus deiner Klasse" prustete er.
Innerlich kochte Isabella vor Wut, wie konnte man sich nur so gegenüber ihr aufführen, jetzt wahr ihr eindeutig wieder bewusst, warum sie das Südviertel hasste.
„Diese sind wenigstens nett, was man von dir nicht behaupten kann!"
Ungeduldig streckte sie die Hand aus.
„Jetzt gib mir mein Buch wieder!"
Grinsend griff der Junge hinter sich.
Erst jetzt bemerkte Isabella, dass eine Decke mit allerlei Dingen hinter ihm lag.
In erster Linie fiel ihr die riesige Auswahl an Kreiden, Wachsmalstiften und allerlei anderen abgenutzten Farbutensilien auf.
Außerdem lag dort verschiedener Schmuck sowie drei abgenutzte Bücher und unter anderem ihr Roman.
„Warum schleppst du den das alles mit dir mit?", fragte Isabella verwirrt.
Doch der Junge antwortete nicht, stattdessen faltete er die Hände hinter seinen Kopf, lehnte sich zurück gegen seine zusammengeknüllte Jacke und blickte hinauf zum Sternenhimmel.
„Wolltest du mir nicht mein Buch zurückgeben?", missbilligend verschränkte Isabella die Arme voreinander.
„Warum die Eile Prinzessin, ich wette, du hast noch nie so gut die Sterne gesehen wie von hier aus."
„Die Prinzessin hat auch einen Namen!"
Belustigt wendete er seinen Kopf zu ihr.
„Ach ja? Und der wäre?"
„Isabella."
Und da war er wieder.
Der Blick, der Isabella so verrückt machte, sodass er sie beinah die Beherrschung verlieren ließ.
Dieser Blick aus einer Mischung aus Spott und Abscheu, als wäre sie die minderwertigste Person des ganzen Planeten.
„Passt", sagte er dann lediglich trocken und wandte den Kopf wieder in Richtung der Sterne.
„Ach ja", fauchte Isabella wütend.
„Und wie heißt du bitte?"
„Collin", gab dieser vollkommen neutral zurück.
Isabella versuchte extra ihren abfälligsten Gesichtsausdruck darzustellen, obwohl sie sich innerlich eingestehen musste, dass sie den Namen um ehrlich zu sein ziemlich hübsch fand.
Doch Collin schien das kein bisschen zu stören.
Stattdessen griff er hinter sich und warf Isabella ihr Buch zu.
„Hier hast du es!"
Vorsichtig strich Isabella mit ihren Fingern über das Buch, zum Glück sah es so makellos aus wie sie es zurückgelassen hatte.
„ Sag mal Prinzessin, wie bist du eigentlich hierhergekommen? Bringen deine Eltern dich nicht um wenn du im Südviertel bist?"
„Ja" gab Isabella zu.
„Aber ich musste einfach meinen Roman wiederhaben."
„Und da hast du mich nicht verpfeift so wie du es heute Nachmittag getan hast?"
Scham breitete sich in Isabella aus und sie lief knallrot an.
„Naja..", fuhr Collin fort.
„Jetzt hast du ja deinen Roman, also kannst du ja gehen!"
Isabella nickte.
Auf einmal fühlte sie sich so unbehaglich und Fehl am Platz, dass ihr ganz flau im Magen wurde.
Sie hätte nicht ins Südviertel kommen sollen, es war viel zu gefährlich hier.
Doch als sie sich aufrappelte und sich zum Gehen wandte, fiel ihr noch etwas ein.
„Hier!", murmelte sie, fischte ihre Rosafarbene Handtasche hervor und warf sie Collin zu.
„Das kleine Mädchen kann die Tasche gerne haben, ich möchte sie nicht mehr."
„Das macht trotzdem nicht das Benehmen deines Vaters wieder gut.", entgegnete er.
Isabella schluckte.
„Ich weiß", dann drehte sie sich um und kletterte vorsichtig auf den Baum zurück.
Doch als sie schließlich wieder auf dem sicheren Boden angekommen war, konnte sie es nicht lassen einen letzten Blick nach oben zum Hausdach zu werfen.
Collin blickte ebenfalls nach unten.
„Wie hat dir der Roman gefallen?", rief Isabella und blickte hinunter zu dem abgelesenen Buch, das in ihrer Hand lag.
„Er hatte ein zugegeben überraschendes Ende!", erwiderte er.
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