Kapitel 10
An diesem Abend fiel es Isabella besonders schwer das Südviertel zu verlassen.
Vielleicht lag es daran, dass Isabella noch immer nicht wusste, wie sie sich gegenüber ihrer Eltern verhalten sollte, vielleicht aber auch an dem, was ihr Collin soeben gesagt hatte.
Heimat.
Einen Ort den man vermisst, wenn man fort muss...
Isabella fragte sich, ob sie tatsächlich eines Tages so einen Ort finden würde.
Einen perfekten Ort, der weder das Südviertel noch das Nordviertel war, sondern einen Ort der all diese Dinge vereinte.
Während Isabella durch die dunkle Nacht fuhr, blickte sie forschend in den Sternenhimmel.
Fieberhaft fragte sie sich, ob es tatsächlich einen Ort gab, an dem Isabella all das hatte, was ihr am Herzen lag.
In allererster Linie waren das ihre Eltern.
Natürlich hatte sie ganz besonders in letzter Zeit, so ihre Schwierigkeiten mit ihnen gehabt, dennoch lagen ihre Eltern Isabella sehr am Herzen und waren ihr das liebste auf der Welt.
An einem Ort ohne ihre Eltern konnte sie es sich daher kaum vorstellen.
Wer auch nicht fehlen konnte, war Collin und seine Familie natürlich.
Erst nach dem Isabella Collin kennengelernt hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie außer ihm, keine wirklichen Freunde hatte.
Natürlich hatte sie ab und an mal etwas mit den anderen Mitschülern aus ihrer Klasse unternommen, jedoch hatte sie sich nie zugehörig zu Ihnen gefühlt.
All ihre Gespräche und treffen die stattfanden, fühlten sich zwanghaft und aufgesetzt an und so sehr sie sich auch bemühte, verlor Isabella schnell das Interesse an diesen Menschen.
Bei Collin war es jedoch ganz anders.
Er hörte ihr zu, gab ihr Ratschläge und leerte sie zahlreiche Dinge.
Bei Collin hatte sie endlich das Gefühl jemanden gefunden zu haben, der sie wirklich verstand.
Doch Collin liebte seine Familie mehr als alles andere.
Er würde niemals ohne sie irgendwo hingehen, also würde er Peter und seine Mutter mitnehmen müssen.
Das würde Isabella nicht stören, sie konnte seine Mutter sehr gut leiden, ganz zu schweigen von Peter, obgleich er Isabella noch nicht ganz zu mögen schien.
Von ihr aus, könnte sogar Mila mitkommen, wenn sie Collin und Peter so wichtig war, Hauptsache er würde mitkommen.
Doch gleichzeitig verwarf Isabella diese Gedanken wieder.
Collin, seine Familie, vielleicht Mila und ihre Eltern an einem Ort?
Würde das überhaupt funktionieren?
Konnte es tatsächlich eine Welt geben, an der die Vorurteile beider, einfach keine Rolle mehr spielten?
Isabella schüttelte Gedankenverloren den Kopf.
Nein, so einen Ort gab es nicht!
Denn um die Vorurteile ihrer Eltern zu vernichten, um die Vorurteile von Collin und Mila zu zerstören, grenzte es schon an Magie, all diese Gedanken verschwinden zu lassen.
Und Magie gab es nun mal nicht.
Isabella wusste nicht, was es war, doch auf einmal machte sie dieser Gedanke unglaublich traurig.
Egal was sie tat, egal wie lange sie hoffen würde, wie lange sie suchen und wandern würde, sie würde niemals diesen Ort, ihren Wunsch einer Heimat finden.
Gedankenverloren fuhr sie in die Straße ihres Elternhauses ein, öffnete das Gartentor und schmiss ihr Fahrrad hinter einen der großen Apfelbäume.
Sie hatte keine Lust dazu, sich die Mühe zu machen extra geräuschlos und leise zu versuchen ihr Fahrrad in die Garage zu stellen.
Hinter dem Apfelbaum liegend, würden ihre Eltern mit großer Sicherheit ihr Fahrrad nicht entdecken.
Möglichst leise ging Isabella in Richtung ihres Fensters.
Doch die Lichter im Haus waren bereits dunkel.
Isabella nahm den Stein, öffnete das Fenster und kletterte in ihr altbekanntes Zimmer.
Müde ließ sie sich auf ihr Bett fallen.
Nun wollte sie einfach nur schlafen.
Schlafen und möglichst nicht mehr nachdenken.
Als Isabella am nächsten Morgen erwachte, musste sie sich mehr als sonst bemühen, sich für die Schule fertig zu machen.
Was war denn bloß mit ihr los, sonst freute sie sich doch immer auf die Schule.
Lustlos schlüpfte Isabella nach dem sie sich gewaschen hatte, in ihre gewohnte Uniform.
Als sie nach unten eilte, verzichtete sie auf das Frühstück, obwohl sie noch recht viel Zeit vor Schulbeginn hatte, doch schon wieder bescherte ihr der Gedanke an essen Übelkeit.
Also machte sich Isabella auf in die Schule.
Als sie im Klassenraum angekommen war, ließ sie sich wie gewohnt auf ihren Schulplatz fallen.
An diesem Tag bemühte sie sich nicht, Kontakt zu den anderen Mädchen in ihrer Klasse aufzubauen.
Stattdessen blieb sie lieber auf ihrem Platz sitzen und wartete, bis die Lehrerin hereintrat und den Unterricht begann.
Nachdem die Lehrkraft hereingekommen war, die Schüler sie begrüßt hatten und den Schwur aufsagten, begann die ältere Frau einige Zettel an die Schüler zu verteilen.
Als Isabella auf ihr ausgeteiltes Blatt blickte, rutschte ihr das Herz in die Hose.
Befriedigend stand unter ihren Mathematiktest.
Sie schluckte.
Noch nie zuvor hatte sie ein befriedigendes Ergebnis erhalten, ein oder zweimal vielleicht ein gutes, jedoch niemals schlechter.
Fieberhaft betrachtete Isabella ihre Rechnungen, versuchte nachzuvollziehen, wo der Fehler steckte, doch schon bald wurde es ihr klar.
Ihre Arbeit war schlampig, ohne viel Mühe und Aufmerksamkeit dahin gekritzelt.
Im Vergleich zu den anderen Fächern, hatte Isabella Mathematik immer am wenigsten gemocht, trotzdem war sie immer außerordentlich gut in dem Fach gewesen.
„Isabella, auf ein Wort!", sagte ihre Lehrerin und wies mit dem Finger Richtung Tür.
Seufzend erhob sich Isabella und folgte ihr, im Moment war ihr gar nicht nach reden zumute.
„Ich denke, du kannst erahnen, warum ich ein Gespräch mit dir aufgesucht habe", begann sie.
Nervös biss Isabella auf ihrer Lippe herum.
„Erzählen Sie bitte nicht meinen Eltern davon!"
Die ältere Frau schüttelte zu ihrer Erleichterung den Kopf.
„Ich habe es nicht vor deinen Eltern zu sagen, solange das die einzige vergleichsweise schlechtere Arbeit von dir ist"
„Was mir nur aufgefallen ist, ist , dass es so scheint als wärst du überaus abwesend in den letzten Wochen gewesen und hättest noch dazu deinen ganzen Spaß am Lernen verloren!"
Auf einmal verspürte Isabella eine ungewöhnliche Wut in ihr hochkommen, obwohl sie wusste das ihre Lehrerin nichts getan hatte.
Doch sie war wütend, wütend das jeder etwas an ihrem Verhalten auszusetzen hatte, wütend, dass sie für niemanden gut genug war.
„Na und", blaffte sie die Lehrerin an.
„Was bringt es mir denn, was kann ich schon großes von meiner Bildung werden?", Isabella biss sich auf die Zunge.
Ihr wurde steht's beigebracht höflich und respektvoll gegenüber Erwachsenen zu sein, dass sie so mit ihrer Lehrerin sprach, überraschte und schämte sie zugleich.
Anscheinend schien es ihrer Lehrerin genauso zu ergehen.
„Du weißt, dass wenn du stehtsm fleißig lernst und gute Noten schreibst, du es womöglich als eine von wenigen als Sekretärin oder Assistenten ins große Rathaus des System schaffen könntest, ist das nicht das lernen wert?"
Isabella lächelte verbittert.
„Ja, trotzdem bin ich nur ein einfaches Mädchen und kein Mann, ich erreiche nicht die gleichen Ziele wie sie, egal wie sehr ich kämpfe!"
Nun musste Isabella an Mila denken und obwohl sie das Mädchen eigentlich nicht leiden konnte, empfand sie plötzlich großes Mitleid mit ihr.
„Die Mädchen im Südviertel haben nicht mal eine Schulausbildung, die wenige Bildungsmöglichkeiten werden nur den Jungen geboten."
„Umso dankbarer solltest du sein, dass dir eine Ausbildung geboten ist!"
Auf einmal realisierte Isabella was sie gesagt hatte und schlug sich innerlich auf die Stirn.
Sie hatte sich offen kritisch gegenüber der Gesellschaft geäußert, für viele Menschen war das Strafbar!
Eilig räusperte sie sich.
„Das stimmt!"
„Nun ist es so, Isabella, es wirkt oftmals so, als würden die Frauen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden, doch letztendlich, bekommen die Frauen nur die Aufgaben zugeteilt, in denen sie besondere Stärke und Begabung aufweisen!"
Aufmunternd tätschelte sie ihre Hand.
„Es wirkt vielleicht zunächst schwer zu begreifen, aber irgendwann wirst du auch die Liebe zu deinem zukünftigen Leben finden!"
„Sicherlich, ich danke Ihnen und keine Sorge, ich werde mich ab nun nur noch auf die Schule konzentrieren!"
Lächelnd erhob sich Isabella und ging wieder in die Klasse.
Sie hoffte, dass ihre Lehrerin die gespielte Versprechung ernst nehmen würde.
Die Worte ihrer Lehrerin sollten sie beruhigen, doch gegenteilig beunruhigten diese sie nur mehr.
Schon bald würde Isabella mit der Schule fertig sein und auf einmal hatte Isabella so große Angst vor der Zukunft, wie noch nie.
Sie hatte nur eine Handvoll begrenzter Möglichkeiten ihrer Zukunft.
Was war, wenn sie nicht gut in dem war, was sie ihr restliches Leben tun würde?
Oder noch schlimmer, was war, wenn sie das, was sie in Zukunft tun würde, nicht Spaß machen würde, wenn sie sich überhaupt nicht erfüllt fühlen würde?
Isabella schluckte.
Schon bald würde sie 18 werden.
18 Jahre, dann würde ihr Leben richtig beginnen.
Doch Isabella hatte das Gefühl, als würde ihr Leben beendet werden.
Sie wusste, was auf sie zukam, wenn sie erstmal 18 war und mit der Schule abgeschlossen hatte.
Wenn sie Glück hatte, könnte sie einiger der wenigen sein, die die Chance hatte, Angestellte des Systems zu sein.
Wenn sie die Stelle nicht bekommen würde, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als zu Heiraten und ihren eigenen Haushalt zu führen.
Isabella überlegte kurz.
Vielleicht hatte sie mit etwas Glück auch die Möglichkeit, einen der kleinen Läden im Einkaufszentrum zu führen.
Mit etwas Glück konnte sie vielleicht ähnlich wie Collins Mutter in einer Schneiderei arbeiten, oder noch besser, in einer Bibliothek arbeiten.
Der Gedanke, einen eigenen kleinen Bücherladen zu führen, beruhigte Isabella ein wenig.
Vielleicht hatte sie ja die Chance, doch wenigstens ein paar ihrer Interessen zu verfolgen, wenn sie erstmal erwachsen war.
Doch ihre Eltern würden das alles andere als Gut heißen.
So etwas gehörter sich für Frauen aus Isabellas Familie nicht.
Ihre Mutter hatte immer gesagt, „ Wenn du erstmal 18 bist, dann hast du keine Zeit mehr für kindlichen Schnickschnack, dann musst du eine Frau sein, und für eine Frau gehört es sich, Hobbys und belanglose Kindheitsbegeisterungen beiseite zu legen und wie es sich gehört, für Kinder und Mann da zu sein!"
Isabella schüttelte sich förmlich bei dem Gedanken.
Sie war noch nicht bereit, sie war noch lange nicht bereit dafür.
Doch eine kleine, ängstliche Stimme in ihrem Kopf fragte sich, ob sie wohl jemals dafür bereit sein würde.
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