Kapitel zwei
Schon am nächsten Tag, gleich nachdem ich die zwanzig Manuskripte von der Druckerei abgeholt hatte, begann ich meine Tour durch die Stadt, um ebendiese Manuskripte in die Briefkäste neunzehn zufällig ausgewählter Leute zu werfen - und in den einer ganz bestimmten Person.
Mein Herz klopfte so laut, als wollte es jeden Moment explodieren, als ich die sorgfältig zusammengehefteten Blätter Papier in den Briefkasten vor dem Hauptgebäude von Lilium Publishing warf - und dann schnell wegrannte, damit Terrell mich auch ja nicht sah. Es war das letzte Manuskript gewesen und ich machte mich auf den Weg zurück zu meiner Wohnung.
Einige Tage lang passierte gar nichts. Ich wagte mich nicht mehr aus dem Haus, bereute es abwechselnd, dass ich Javier Terrell das Manuskript gebracht hatte, und war stolz darauf. Ich hoffte, dass er mich nicht fand. Die Wohnung war auf Chinas Namen registriert, ich selbst war offiziell obdachlos.
Ich blieb also in meiner Wohnung, wo ich mich zumindest halbwegs sicher fühlte, und erfuhr nichts von den Ereignissen draußen, bis irgendwann China an meine Tür klopfte.
"Ich habe Gerüchte gehört, dass irgendjemand sich mit Javier Terrell anlegt", begrüßte sie mich. Um ihre Mundwinkel herum zuckte es. "Bist das zufällig du?"
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, möglichst locker zu wirken. "Ja."
Sie lachte. "Und du hast diese Manuskripte wirklich einfach zufälligen Leuten in die Briefkästen geworfen?"
"Ich wusste nicht, was ich sonst damit machen soll!"
"Na ja, es scheint funktioniert zu haben. Im Café höre ich immer wieder von Leuten, die eines bekommen haben. Manchen gefällt es. Andere denken, du bist eine Lügnerin, die nur Aufmerksamkeit will. Aber es gibt mehr als genug Leute, die genug davon haben, dass ein einziges Unternehmen alle Informationen kontrolliert."
"Und von Terrell selbst hast du nichts gehört?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Aber davon gehört muss er haben. Geht gar nicht anders."
"Ja, muss er. Ich habe ihm eines in den Briefkasten geworfen", gab ich zu.
Sie starrte mich einen Moment an, dann brach sie in lautes Lachen aus. "Du bist ganz schön dreist."
"Ja, und die Hälfte der Zeit wünsche ich mir, ich wäre es nicht gewesen." Ich biss mir auf die Unterlippe. "Es wäre übrigens nett, wenn du mir Kaltbrot und Gemüse besorgen könntest. Ich kann die Wohnung nicht mehr verlassen."
Ihr Lachen brach ab, wahrscheinlich begriff sie den Ernst der Situation gerade. "Mache ich. Und setz ja keinen Fuß nach draußen. Ich habe keine Lust, dass du umgebracht wirst."
Wir verabschiedeten uns, bevor sie sich auf den Weg machte, um die Einkäufe zu erledigen.
.
Als sie nach drei Stunden noch nicht zurück war, wurde ich langsam unruhig. Ich erinnerte mich an Aramis im Café, wie er die ganze Zeit umhergelaufen war und sich Sorgen gemacht hatte, und nun ging es mir nicht anders. Ich starrte andauernd auf meinen Wecker und versuchte vergeblich, mir einzureden, dass ihr nichts passiert war. Drei Stunden waren lang für Einkäufe. Sehr lang.
Aber im Gegensatz zu Aramis damals konnte ich nichts tun. Ich konnte nur weiter an meinem Fenster sitzen, abwechselnd hinaus und auf meinen Wecker starren und mir Sorgen machen. Mann, ich konnte diese Wohnung ja nicht einmal verlassen! Selbst wenn China etwas zugestoßen war, - und das begann ich langsam wirklich zu denken - konnte ich ihr nicht helfen. Zumindest nicht ohne mein eigenes Leben ernsthaft zu gefährden.
Als es dann nach dreieinhalb Stunden an der Tür klopfte, war ich unheimlich erleichtert - bis ich öffnete.
Denn davor stand nicht China.
Sondern Aramis.
Mit blassem Gesicht und schnell gehendem Atem.
"China ...", japste er. "Lily, du musst mir helfen."
Wenn ich zuvor noch gehofft hatte, dass meine Freundin nur wieder unterwegs jemanden getroffen, mit ihm geredet und dabei die Zeit vergessen hatte, dann wusste ich spätestens jetzt, dass es nicht so war. China war etwas zugestoßen. Etwas Ernsthaftes, sonst würde Aramis nicht so aussehen.
Warum wusste es Aramis überhaupt?
Vielleicht war China gar nichts zugestoßen.
Vielleicht würde ihr etwas zustoßen, wenn wir nicht sofort etwas taten.
"Was ist passiert?", brachte ich heraus.
"Mein Vater ... er hat sie mitgenommen", keuchte Aramis noch immer völlig außer Atem.
"Mitgenommen?", wiederholte ich, und es fühlte sich an als würde ich den Boden unter den Füßen verlieren. "Zu euch? Zu Lilium Publishing?"
Er nickte. "Ich glaube, er will dich erpressen. Er hat sie in eines der Gästezimmer gesperrt, in der Nähe meines Zimmers. Er weiß, dass du sie kennst."
"Wir müssen sie da rausholen!"
"Ich habe dir gesagt, dass es keine gute Idee ist, dieses Buch zu veröffentlichen."
"Mann, deine Besserwisserei kann hier niemand gebrauchen."
Einen Moment lang sahen wir uns schweigend an, bevor er die Stille brach. "Wir müssen los. Wir holen sie da raus, irgendwie. Ich kann meinen Vater ablenken, du schließt das Gästezimmer auf, und dann rennt ihr los, so schnell es geht."
Das klang nach einem ziemlich dürftigen Plan, aber ich protestierte nicht. Legte auch nicht die vielen Einwände dar, die ich eigentlich hatte. Ich nickte nur und folgte Aramis, stolperte die beiden Treppen von meiner Wohnung ins Erdgeschoss hinunter und rannte dann hinter ihm her durch die Straßen. Meine Kondition war nicht die Beste, aber ich ignorierte das einsetzende Seitenstechen. Schwäche konnte ich mir jetzt nicht leisten.
Vor dem Hauptquartier von Lilium Publishing blieben wir beide stehen. In meinem Kopf malte ich mir unweigerlich aus, was gerade mit China da drin passierte, was Javier Terrell ihr antat. Wie Javier Terrell meine beste Freundin folterte. Bei der Vorstellung wurde mir schlecht.
Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass seine Konsequenzen sich nur auf mich bezogen.
Aber scheinbar gab es noch weitaus Schlimmeres, was er mir antun konnte.
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