Kapitel zehn
Ich hatte drei wütend-traurige Gedichte geschrieben, aber die Gefühle waren noch genau so frisch wie am Anfang. An diesem Abend wollte ich meine Schreibmaschine am liebsten in die Ecke werfen und wieder mit der Schule beginnen, nur, um Aramis nicht mehr sehen zu müssen.
Als ich spätabends meine Sachen packte, war er immer noch da, putzte irgendetwas und ignorierte mich.
Ich ignorierte ihn ebenfalls, ging an ihm vorbei zur Tür und verließ das Café. Ich vergaß sogar, mich von China zu verabschieden, was mir sogleich leid tat - sie konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Kellner sich so verhielt. Ich würde mich morgen bei ihr entschuldigen. Aber jetzt musste ich es erst einmal nach Hause schaffen, ohne zusammenzubrechen.
Am liebsten hätte ich die Enttäuschung und den Schmerz einfach vergessen. Beiseitegelegt und archiviert wie ein altes Manuskript. Doch das war im realen Leben nicht so einfach, und zurück in meinem Zimmer folgte auf jede weggewischte Träne die nächste.
Ich wünschte mir nur, ich hätte ihn gar nicht erst kennengelernt. Scheiß auf die Verbesserungen, die er an meinem Buch vorgenommen hatte, scheiß auf den ersten Satz, scheiß auf das Ende. Selbst das alles gab ihm noch lange nicht das Recht, so auf mir herumzutrampeln.
Es musste schon nach Mitternacht sein, als ich in einen traumlosen Schlaf fiel, und am nächsten Morgen wachte ich erst gegen Mittag wieder auf. Kurzerhand entschied ich mich, heute einfach im Bett zu bleiben, die Wand anzustarren und wütend zu sein. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen, die danach verlangt hätten, dass ich aufstand. Mein neues Buch konnte warten. China konnte ich einen Brief schreiben, um mich zu entschuldigen. Und zum Briefkasten konnte meine Mutter gehen, wenn sie heute Abend von der Arbeit kam. Ich wollte ohnehin keinen Blick hineinwerfen, das erinnerte mich viel zu sehr an meinen blöden Wunsch, einen Brief von Aramis zu bekommen - der sich nicht erfüllt hatte. War ja klar gewesen.
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Aber abends brachte mit meine Mutter doch einen Brief. Nur war der nicht von Aramis.
Als ich die feine Gravur einer Lilie im Papier des Umschlags sah, konnte ich das im ersten Moment gar nicht glauben. Sie waren früh. Es war gerade mal ein Monat vergangen, seit ich mein Manuskript abgesendet hatte.
Mom lächelte vielsagend. Sie fragte nicht einmal nach, warum ich den ganzen Tag im Bett verbracht hatte, sondern beobachtete mich nur schweigend dabei, wie ich den Brief eine Weile in meinen Händen hin und her drehte und schließlich öffnete.
Ich hielt die Luft an, als ich den Brief aus dem Umschlag zog. Es war dickes, stabiles Papier, nicht das billige dünne, auf dem ich meine Manuskripte schrieb. Die Buchstaben waren so gleichmäßig und sauber, dass ich mich fragte, ob sie von einem elektronischen Gerät geschrieben worden waren.
Langsam las ich die erste Zeile, nicht sicher, ob ich wissen wollte, was darin stand.
Sehr geehrte Frau Marshall
Ich schloss die Augen. Nein, ich wollte es eindeutig nicht wissen. Meine ganze Zukunft entschied sich in diesem Moment, mit der Nachricht auf diesem schönen Papier in meinen Händen. Ob ich noch eine Enttäuschung verkraften konnte, wusste ich nicht. Vielleicht würde ich dann für den Rest meines Lebens in diesem Bett liegen bleiben. Oder zumindest so lange, bis meine Mutter mich eigenhändig auf die Straße setzte, weil sie mein Zimmer vermieten wollte.
Ich legte den Brief vor mir auf die Bettdecke und öffnete die Augen, um ihr ins Gesicht zu sehen. Sie sah besorgt aus. Unsicher. Ihr lag bestimmt genau so viel an dieser Antwort und ihren Folgen wie mir. Sie wollte mich nicht rauswerfen, das war mir von Anfang an klar gewesen. Wir wollten beide, dass ich bleiben konnte.
"Möchtest du den Brief nicht lesen?", fragte sie und konnte dabei das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen.
"Doch. Einfach noch nicht jetzt. Gib mir bitte eine Nacht Zeit, in Ordnung?", bat ich.
Ich wusste kaum, was ich in diesem Moment schlimmer gefunden hätte.
Eine Absage, die mich dazu zwang, mir eine neue Unterkunft zu suchen.
Oder eine Zusage, die ich Aramis zu verdanken hatte, dem Jungen, der mich gestern so beleidigt und herabgesetzt hatte.
Meine Mutter nickte verständnisvoll, - obwohl sie den wahren Grund gar nicht kannte - drückte mir einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Ich legte den Brief mangels eines Nachttisches neben mir auf den Boden und schloss die Augen, im Versuch, zu schlafen.
Natürlich gelang es mir nicht.
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