Kapitel vier

"Was hast du momentan?" Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Ich war doch ein wenig erstaunt, dass China noch nicht wieder da war und ihm so lange die Kontrolle über ihr Café überließ - sie musste ihm wirklich vertrauen. 

"Ich starrte meinen Koffer an, unsicher, ob ich genügend eingepackt hatte für meine Reise ins Ungewisse", zitierte ich den Satz, den ich längst auswendig kannte.

"Nicht schlecht." Er schien zu überlegen. "Aber ein bisschen lang, wenn du mich fragst. Hast du schon mal überlegt, es in eine Frage umzuformulieren? Hatte ich genügend eingepackt für meine Reise ins Ungewisse?"

"Oder einfach: Wie viel Gepäck brauchte man für eine Reise ins Ungewisse? Ich starrte meinen Koffer an, unsicher, ob ich die Antwort auf diese Frage kannte", schlug ich vor. 

"Genau! Sehr gut." Er sah noch einmal auf die Uhr und biss sich auf die Unterlippe. "Ich sollte jetzt wirklich wieder an die Arbeit. Ich muss die Küche putzen."

Ich nickte. Für mich war es auch Zeit, weiterzuarbeiten. Ich bedankte mich bei ihm und begann, endlich meine erste Seite zu schreiben. Heute Abend würde ich die Leseprobe ansenden, egal, wie weit ich mit der Überarbeitung war. Dann war der Rest halt unüberarbeitet, ich konnte das in den Tagen nach der Einsendung machen. So bald würden die garantiert weder eine Stichprobe noch das ganze Manuskript von mir verlangen.

Nachdem ich die ersten beiden Sätze hatte, war ich relativ schnell zufrieden mit der ersten Seite. Ich korrigierte noch ein paar Tippfehler, bevor ich das Blatt zu den anderen legte und erleichtert aufatmete. So bald ich genug Geld dazu hatte, würde ich Aramis auf ein Stück Kuchen einladen. Oder besser auf zwei, eines, um mich für das zu revanchieren, das er mir spendiert hatte, und eines, um mich zu bedanken. 

Momenan schien es aber, als wäre der Kellner gar nicht bereit dazu, Kuchen zu essen. Statt in der Küche zu bleiben und sie zu putzen - wie er eigentlich gesagt hatte - ging er die ganze Zeit im Café umher, putzte Tische, fegte den Boden, putzte irgendwann sogar die Fenster. Er wirkte gestresst, beinahe wütend, und schien offensichtlich nicht zu wissen, was er tun sollte. 

"Ist alles in Ordnung? War die Küche schon geputzt?", rief ich ihm zu. 

Er hielt in der Bewegung inne. "China sollte seit einer Stunde da sein", sagte er. "Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt."

Ich versuchte, mir keine Sorgen zu machen, aber es gelang mir nicht. Wenn China etwas zugestoßen war ... Ich wollte es mir gar nicht vorstellen. 

Ich war nur eine Seite weiter gekommen, da blieb Aramis neben mir stehen. "Weißt du, wo sie wohnt? Du kennst sie recht gut, oder?"

"China? Ja, sie hat eine Wohnung über dem Café", antwortete ich überrascht. 

"Dann sollten wir nachsehen, ob es ihr gut geht. Kommst du mit?"

Ich sah meine Schreibmaschine an, das eingespannte Blatt Papier, das darauf wartete, eingespannt zu werden. Dachte an meine Deadline von heute Abend. 

"Bitte", sagte Aramis. "Ich möchte ihre Wohnung nicht alleine betreten müssen ... falls es ihr nicht gut geht ..."

Ich stand auf. Meine Sorge um China war größer als meine Angst vor der Deadline heute Abend. "Gehen wir", sagte ich. 

Wir gingen. 

Nach kurzem Suchen fanden wir die Tür, die vom Café ins Treppenhaus führte, einen engen, dunklen Raum, in dem sich eine schmale Treppe nach oben in den ersten Stock wand.

"Alter geht vor Schönheit", sagte ich und wies auf die Treppe.

"Hey, ich bin erst sechzehn!", protestierte er. "Werde in ein paar Tagen siebzehn."

"Du darfst doch noch gar nicht arbeiten, wenn du noch nicht siebzehn bist?"

"Ich verdiene kein Geld damit." Er zuckte mit den Schultern. 

"Was? Aber warum arbeitest du denn dann in einem Café, wenn du kein Geld damit verdienen willst?", hakte ich irritiert nach. 

Er schüttelte nur den Kopf, schien nicht darüber reden zu wollen, und ich hakte nicht weiter nach. Wir konnten unsere Zeit nicht damit verplempern, über solche Dinge zu diskutieren, wenn China sich womöglich in Lebensgefahr befand. 

Aramis ging zuerst die Treppe hoch, ich folgte ihm. Die Stufen knarrten unter unseren Füßen, aber wir waren bald oben und er klopfte an Chinas Tür. 

Niemand öffnete und mein Herz schien stehen zu bleiben. 

Er klopfte noch einmal, lauter, hämmerte richtig an die Tür. Noch immer öffnete niemand. 

"China!", schrie ich, so laut ich konnte. Meine Stimme hallte im Treppenhaus wider. "China!"

Niemand antwortete. 

"Was machen wir jetzt?" Aramis rüttelte an der Türklinke, aber die Tür war verschlossen. "Hast du einen Schlüssel oder so was?"

"So gut kenne ich China auch wieder nicht", seufzte ich. "Aber denkst du nicht, dass sie im Café irgendwo noch einen Ersatzschlüssel hat?"

"Die Frage ist nur, wo."

"Du suchst in der Küche. Ich im Café selbst. In Ordnung?" Ich wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern stürzte schon die Treppe hinunter. Ich suchte unter den Tischen, unter dem bunten Teppich, der auf dem Boden lag, unter den Fenstersimsen. Ich sah mir sogar Decke und Wände an, aber der Schlüssel war nirgends zu sehen.

"Hab ihn!", kam es in diesem Moment aus der Küche. Aramis kam heraus, den Schlüssel schwenkend. "War in der Küche." 

Er ließ mir gar keine Zeit, zu reagieren. Ich folgte ihm die Treppe hoch, und als ich keuchend oben ankam, steckte er bereits den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. 

"China?", rief er. 

Keine Antwort. 

"Vielleicht ist sie gar nicht hier", gab ich zu bedenken. 

Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. "Aber wo sonst?"

"Das weiß ich doch auch nicht!" Ich ging langsam in die Wohnung herein, rief Chinas Namen noch einige Male, aber es wurde immer offensichtlicher, dass sie nicht hier war. Ich bemühte mich, nicht in Panik auszubrechen, aber es gelang mir nur begrenzt. Ich hatte wirklich Angst um die Leiterin meines Lieblingscafés, die dazu noch eine der wenigen Freundinnen war, die mir seit meinem Schulabbruch geblieben waren. 

"Ich werde versuchen, die Polizei zu kontaktieren", sagte Aramis. "Ich nehme an, sie besitzt kein Telefon?"

"Ein Telefon vielleicht schon, aber dass sie Zugang zu Strom hat, bezweifle ich."

"Dann versuche ich, sie anzurufen. Vielleicht hatte sie ihr Handy vor der Zeit des großen Stromausfalls aufgeladen und hat jetzt noch ein wenig Akku für Notfälle. Das machen viele Leute so. Schreib du weiter. Ich kümmere mich darum", sagte er. 

"Kommt gar nicht in Frage", protestierte ich. "Ich komme mit."

"Okay, könntet ihr mir bitte verraten, was ihr in meiner Wohnung macht?"

Wir fuhren gleichzeitig herum. China stand in der Wohnungstür, zwei volle Einkaufstaschen in den Händen, und sah uns streng an. 

Ich umarmte sie kurzerhand. "Du lebst!", rief ich erleichtert. "Wir dachten langsam wirklich, dir sei etwas zugestoßen."

"Wir haben dich gesucht", fügte Aramis hinzu. "Deswegen waren wir in der Wohnung. Den Schlüssel hatten wir aus der Küche."

Sie schob mich sanft, aber bestimmt von sich weg. "Tut mir leid. Ich habe eine alte Bekannte getroffen und die Zeit vergessen. Ihr hättet euch keine Sorgen zu machen brauchen."

"Konntest du mich nicht irgendwie benachrichtigen?", fragte Aramis. 

"Wie denn, hätte ich dir einen Brief schreiben sollen? Nicht alle haben die Kommunikationsmöglichkeiten von euch reichen Leuten", erwiderte sie. 

Aramis warf mir einen langen Blick zu. Ich tat so, als würde ich das nicht bemerken, während ich über Chinas Aussage nachdachte. Ihr reichen Leute? Was meinte sie damit? Geld schien Aramis ja offensichtlich genug zu haben, aber wieso er trotzdem im Café arbeitete, war mir immer noch ein Rätsel. 

"Kannst du bitte zurück ins Café gehen?", sagte China zu ihrem neu eingestellten Kellner. "Ich mag es nicht, wenn so lange niemand dort ist."

"Tut mir leid", murmelte er und ging hastig die Treppe hinunter. 

Ich sah ihm nach. "Warum hast du ihn eingestellt?", fragte ich China.

"Das brauchst du nicht zu wissen", sagte sie mit einem genervten Unterton in der Stimme, den ich gar nicht von ihr kannte. "Könntest du jetzt bitte ebenfalls gehen? Ich würde mich gerne etwas frisch machen."

"Natürlich." Ich verließ die Wohnung.

"Danke für den Kaffee", konnte ich gerade noch sagen, bevor sie die Tür hinter mir schloss. 

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