Kapitel sieben

Es musste mitten in der Nacht sein, als meine Tür das nächste Mal geöffnet wurde. Ich rechnete mit Javier Terrell und brach beinahe in Tränen aus, aber es war nicht der Geschäftsführer von Lilium Publishing. Der Mann, der in mein Zimmer schlich und vorsichtig die Tür hinter sich schloss, war Aramis.

"Lily?", flüsterte er.

"Aramis", erwiderte ich.

"Ich hole dich hier raus."

Ich schüttelte den Kopf, und als mir auffiel, dass er das gar nicht sehen konnte, flüsterte ich: "Nein."

"Was nein?"

"Wenn wir versuchen, zu fliehen, wird alles nur noch schlimmer. Ich habe dein Leben schon genügend ruiniert." Meine Stimme zitterte. "Geh wieder. Er findet uns sowieso."

"Okay", flüsterte er. Sein warmer Atem strich über die Haut meines Gesichts, als er sich vorbeugte und die Hand in meinen Nacken legte. Vorsichtig, fast zögerlich, küsste er mich. Einen Moment lang war ich schockgefroren, dann zog ich ihn näher zu mir heran, küsste ihn zurück. Es war ein verzweifelter Kuss, mit dem Geschmack von allem, was wir nicht haben konnten.

Er löste sich von mir. Einen Moment lang verharrten wir beide in dieser Position, unfähig, uns zu bewegen. Dann drückte er mir einen zweiten, kürzeren Kuss auf die Lippen und richtete sich danach auf. Er ging zur Tür. "Ich hoffe, du überlebst, was auch immer er mit dir macht", flüsterte er in die Dunkelheit des Zimmers, bevor er ging.

Ich blieb sitzen, mit dem Geschmack des Kusses und des Schweigens auf den Lippen, und starrte in die Richtung, wo die Tür sein musste. Es dauerte nicht lange, bis die Angst zurückkehrte, die Angst davor, was passieren würde, so bald Javier Terrell sich entschieden hatte, wie er mich dafür bestrafen wollte, dass ich sein Verhalten mir gegenüber öffentlich gemacht hatte.

Ich hoffte auch, dass ich überleben würde, was auch immer er mit mir machte.

.

.

.

Die nächsten Tage vergingen mit Warten. Mir wurde zweimal am Tag Essen gebracht, mehr passierte nicht. Javier Terrell genoss die Macht, die er über mich hatte, offensichtlich sehr.

Irgendwann betrat er das Zimmer zum zweiten Mal. "Ich denke, ich töte dich einfach", sagte er statt einer Begrüßung.

Vielleicht hätte ich erleichtert sein sollen, aber ich war es nicht. Ich wollte immer noch nicht sterben.

Terrell ging langsam auf das Bett zu, auf dem ich saß. "Wie ich dich töte, habe ich allerdings noch nicht entschieden."

Ich gab ein leises Wimmern von mir. Er lachte.

"Ich mache nur Spaß. Ich bin kein Monster. Ich muss dich töten, damit du meinen Ruf nicht noch weiter zu ruinieren versuchst. Aber ich habe nicht vor, dich zu foltern."

Er machte sich immer noch über mich lustig.

"Dann gehen wir mal", sagte er.

Ich stand auf, konnte mich kaum auf den Beinen halten. Terrell richtete eine Pistole auf mich und zwang mich, vor ihm her zu gehen. Wir verließen den Raum. Die Gedanken drehten sich so sehr in meinem Kopf, dass ich es zuerst gar nicht mitbekam, als wir abrupt stehen blieben. 

Eine Frau hatte sich uns in den Weg gestellt. Sie war etwa in Terrells Alter, gegen Ende vierzig, und trug teuer aussehende Kleidung. Ihr Gesichtsausdruck war wütend. 

"Javier, lass sofort dieses Mädchen gehen", forderte sie. 

"Aelia! Das ist meine Angelegenheit!", erwiderte Javier Terrell genervt. 

"Ist es nicht. Unter meinem Dach bringst du kein unschuldiges Mädchen um." Sie stemmte die Hände in die Hüften. 

"Unschuldig?", schrie Terrell. "Sie hat versucht, meinen Ruf zu ruinieren! Außerdem ist das hier mein Haus. Lilium Publishing finanziert es."

"Dein Ruf ist bereits ruiniert, Javier. Und ich habe von der Geschichte mit ihr und Aramis gehört ... ich nehme an, das hier ist Lily Marshall?" Die Frau - Aelia - nickte in meine Richtung. Auf die letzte Bemerkung ging sie gar nicht ein. 

"Ja. Sie hat ein Dokument veröffentlicht, in dem sie mich beschuldigt, sie Schlampe genannt zu haben."

"Er hat das getan!", mischte ich mich ein. "Als Notiz unter einem Absagebrief für mein Manuskript."

"Sei still", zischte er. 

"Mich würde es interessieren, was sie zu sagen hat." Die Frau kam näher. "Du bist also das Mädchen, in das sich Aramis verliebt hat."

Es klang nicht einmal abwertend. Ich nickte zögerlich. 

"Ich verstehe nicht, wie du ihnen das verbieten konntest, Javier. Obwohl, du weißt bestimmt schon lange nicht mehr, wie es ist, überhaupt etwas zu fühlen", wandte sie sich an Terrell. 

"Das ist nicht deine Angelegenheit, Aelia." Der Geschäftsführer von Lilium Publishing schien sich vergeblich um Ruhe zu bemühen. 

"Oh doch", hielt sie dagegen. "Das ist meine Angelegenheit. Du bist nicht der einzige Mensch, der hier etwas zu sagen hat, Javier. Vielleicht hast du mich ignoriert, mich allein gelassen, aber du wirst hier niemanden töten, nur weil er eine wahre Geschichte öffentlich gemacht hat. Wenn du das tust, ziehe ich aus."

"Und dann lebst du auf der Straße?", höhnte Terrell. "Du würdest es ohne diesen Komfort hier keine Sekunde aushalten."

"Wollen wir wetten?" Sie verengte die Augen zu Schlitzen. 

Einen Moment lang schwiegen wir alle. 

"Wo ist Aramis?", fragte die Frau dann.

"Ich habe ihn eingesperrt. In seinem Zimmer", erwiderte Terrell bissig. 

"Ihn holen wir nachher raus. Du kannst keine Menschen einsperren, Javier. Du bist nicht so mächtig, wie du immer denkst. Du hattest ein bisschen Glück, das ist alles. Und nun lass dieses Mädchen frei. Mord ist auch für dich ein Verbrechen." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. 

Es überraschte mich, jemanden so mit Javier Terrell reden zu hören. Bis ich begriff, wer sie war. Aelia Terrell. Javier Terrells Frau. 

"Damit sie die Leute weiter gegen mich aufhetzen kann?" Terrell schnaubte. 

"Vielleicht muss mal jemand die Leute gegen dich aufhetzen. Ich könnte das auch tun, wenn du sie tötest. Und wenn ich beginne, zu erzählen, wie du mit mir umgehst, dann könnte ich damit wesentlich Schlimmeres anrichten als Lily", sagte sie. 

"Das würdest du nicht tun. Damit schadest du dir selbst."

"Ich schade mir selbst noch mehr, wenn ich es nicht tue und weiter damit lebe, dass du mir die kalte Schulter zeigst. Du hast die Wahl. Entweder du lässt Lily frei oder ich sorge dafür, dass Lilium Publishing nicht mehr lange existiert."

"Aelia ... Das ist lächerlich! Sie hat Lilium Publishing angegriffen, zusammen mit anderen Leuten! Sie wird uns ernsthaft schaden!"

"Falsch. Sie wird dir ernsthaft schaden. Und das ist auch gut so."

Javier Terrell biss die Zähne zusammen. "Und wenn ich euch beide töte?"

Seine Frau lachte nur. "Das würdest du nicht tun."

"Wollen wir wetten?", fragte er mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. 

"Und weißt du was, es wäre mir egal. Manchmal stehe ich auf dem Dach oben und denke darüber nach, zu springen. Ich habe nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Du ignorierst mich und Aramis flieht sich vierundzwanzig Stunden am Tag in virtuelle Welten, um vor dem Leben zu fliehen, in das du ihn gezwungen hast. Wenn du mich unbedingt töten willst, dann hindere ich dich nicht daran."

Tränen traten in ihre Augen und sie schniefte. 

Javier Terrell sah seine Frau einen Moment lang nur fassungslos an. Dann stieß er sie beiseite, richtete die Pistole auf meinen Kopf und zwang mich, weiterzugehen. 

"Wenn du sie tötest", brüllte sie uns hinterher. "Dann springe ich das nächste Mal!"

Javier Terrell blieb stehen. Drehte sich langsam zu ihr um. Ich hielt den Atem an, unsicher, was jetzt geschehen würde. Würde er ausrasten? Würde er sie ebenfalls als Schlampe bezeichnen? Würde er sie erschießen?

Aber nichts von dem passierte. Stattdessen ließ er von mir ab und machte ein paar vorsichtige Schritte auf seine Frau zu. 

"Ich lasse sie gehen", sagte er. "Aber nur wenn du am Leben bleibst."

Sie schniefte erneut. "Nur wenn du beginnst, wieder mit mir zu reden."

Er wischte ihr eine Träne von der Wange. Okay, was war das hier? Das war doch nicht der Javier Terrell, den ich kannte. Der Javier Terrell, den ich kannte, war ein Monster. Er war drauf und dran gewesen, mich zu erschießen. 

"Mache ich", sagte er zu seiner Frau und ich konnte die beiden nur anstarren, fassungslos. Ich verstand nicht, was sich da gerade abspielte. War Javier Terrell trotz all seiner Grausamkeit immer noch so etwas wie ein Mensch? 


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