Kapitel sechs

Nachdem ich die Arbeit an meinem Manuskript beendet war, ging ich einige Tage lang nicht in Chinas Café. Ich verbrachte ein wenig Zeit mit meiner Mutter, jedoch nicht allzu viel, denn sie hatte vor kurzem einen zweiten Job angenommen, um uns über die Runden zu bringen. Nun hatte sie praktisch keine Zeit mehr und war konstant müde; möglich, dass sie kaum schlief. Ich wäre sofort ausgezogen, hätte sie mich darum gebeten, aber ich wusste, dass sie das nicht wollte. Nicht, so lange ich keine Absage von Lilium Publishing erhalten hatte. 

Wenn meine Mutter bei der Arbeit war, dann las ich Bücher - viele besaß ich nicht und die meisten davon waren alt, aber wenn man keine andere Möglichkeit hatte, konnte man ein Buch auch fünf Mal lesen. Oder mehr. Oder ich unternahm Spaziergänge durch Nomine, unsere Stadt, meist kurz vor der Ausgangssperre, wenn es draußen ganz ruhig war und fast keine Leute mehr unterwegs waren. 

Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass es vor dem großen Stromausfall noch viel lauter in der Stadt gewesen war. Als noch Autos durch die Straßen gefahren waren, Handys geklingelt hatten und Musik durch Ladentüren geschallt war. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Meiner Meinung nach war die Stadt heute schon laut. Zumindest tagsüber. Deswegen war ich so gerne nachts unterwegs. 

Zweimal führte ich den Hund der Nachbarn aus und verdiente ein wenig Geld damit. Die Hälfte davon gab ich meiner Mutter, und dann blieb noch genau genug übrig, um Aramis auf ein Stück Kuchen einzuladen. Zwar nur ein Stück, aber immerhin. 

Schon am Montag nach der Fertigstellung des Manuskripts saß ich wieder in China's Café, eine neue Idee im Kopf, meine Schreibmaschine vor mir. Ich wusste nicht, ob ich dieses Buch würde beenden können - vielleicht musste ich irgendwann meine Schreibmaschine verkaufen, um mir eine Unterkunft leisten zu können. Wie viel Geld mir das alte Gerät wirklich einbringen konnte, wusste ich zwar nicht, aber daran wollte ich eigentlich noch gar nicht denken. Also schrieb ich einfach weiter, damit aufhören konnte ich schließlich auch nicht einfach. 

Am Mittwochmorgen zog ich meine schönste Jeans und einen meiner Lieblingspullis an, ließ meine Haare ausnahmsweise offen und legte sogar ein wenig Lipgloss auf. Die ganze Zeit klopfte mein Herz viel schneller als gewöhnlich. 

In Büchern brauchten die Protagonistinnen immer lange, bis sie sich eingestanden, dass sie in einen Jungen verliebt waren. Irgendwie war das bei mir viel schneller gegangen; ich hatte Aramis erst zwei Mal gesehen und wusste schon, warum ich in seiner Nähe so nervös war. Ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, wusste ich nicht. 

Aber besonders wichtig war mir das nicht, als ich mich auf den Weg zu Chinas Café machte. Ich war ganz aufgeregt bei der Aussicht, den Kellner mit den blauen Augen und dem schönen Lächeln wiederzusehen, und in Gedanken so bei der bevorstehenden Bewegung, dass ich zwei Mal fast mit jemandem auf der Straße zusammenstieß.

Und das dritte Mal tatsächlich in jemanden hineinlief.

Die Tasche mit meiner Schreibmaschine darin rutschte mir von der Schulter und fiel auf den Boden. Ein lautes Scheppern verriet mir, dass mein wertvollster Besitz wahrscheinlich gerade kaputt gegangen war.

"Kannst du nicht aufpassen?", schnauzte mich der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, an, aber ich achtete gar nicht auf ihn. Ich bückte mich, um den Schaden zu inspizieren - und hätten am liebsten geweint. Ein feiner Riss zog sich durch das Gehäuse meiner Schreibmaschine und die Halterung oben, in die man das Papier einspannte, war auseinander gesprungen. Als ich vorsichtig auf die Tasten drückte, saßen sie ungewöhnlich locker.

Schreiben würde ich damit nicht mehr können.

"Können Sie nicht aufpassen?!", rief ich dem Mann zu, der sich aber schon von mir entfernte.

Seufzend packte ich die Schreibmaschine wieder ein, hob meine Tasche hoch und beschloss, trotzdem zu China zu gehen. Ich brauchte dringend einen Kaffee.  

Die Besitzerin meines Lieblingscafés merkte sofort, dass etwas passiert war. Wortlos lotste sie mich zu meinem Tisch und stellte mir eine Kaffeetasse hin, bevor ich überhaupt dazu kam, etwas zu erzählen. 

"Also, was ist passiert?" Sie setzte sich mir gegenüber. 

"Meine Schreibmaschine ... ich bin mit jemandem zusammengestoßen und sie ist ... auf den Boden gefallen." Nun kamen mir wirklich fast die Tränen, was mir ein wenig lächerlich erschien - schließlich war es nur eine Schreibmaschine. Aber ich konnte nichts dagegen tun. 

"Und nun ist sie kaputt?", hakte China nach. 

Ich nahm einen großen Schluck von meinem Kaffee und nickte. 

"Zeig mal her."

Es kostete mich jede Menge Überwindung, das kaputte Gerät auszupacken und vor mir auf den Tisch zu stellen. 

In diesem Moment kam Aramis aus der Küche. "Hey, Lily!", begrüßte er mich, als er näherkam, fiel sein Blick auf die Schreimaschine. "Was ist denn mit der passiert?"

"Auf den Boden gefallen. Ich bin mit jemandem zusammengestoßen", erklärte ich. Weil ich mich so darauf gefreut habe, dich zu sehen, fügte ich in Gedanken hinzu. 

Er verzog das Gesicht. "Mist. Und jetzt ist sie kaputt?"

Es war eine rhetorische Frage. Dass meine Schreibmaschine kaputt war, war mehr als deutlich zu sehen. 

"Was machst du jetzt? Lässt du sie reparieren?", fragte China. 

"Von welchem Geld?", entgegnete ich trocken. "Du musst mir ja schon meinen Kaffee bezahlen. Eine so teure Reparatur kann ich mir erst recht nicht leisten."

"Und wenn ich dir das Geld dafür gebe?", kam es von Aramis. 

"Das meinst du nicht ernst." Ich sah ihn an, doch nichts in seinem Gesicht wies darauf hin, dass er einen Witz machte. 

"Doch", sagte er schlicht. "Möchtest du eine neue Schreibmaschine oder die alte reparieren lassen?"

"Aramis, das kann ich nicht annehmen." 

"Ich möchte aber, dass du es annimmst." Er lächelte mich an und ich senkte den Blick. 

"Wenn du darauf bestehst, dann hätte ich die alte gerne repariert", sagte ich und schämte mich für meine Schwäche. Aber nicht weiter schreiben zu können war auch keine Option. 

"Dann bringe ich sie heute Abend zur Reparatur."

"Du kannst sie auch jetzt zur Reparatur bringen", mischte China sich ein. "Ich komme hier auch ohne dich zurecht."

Aramis bedankte sich, packte ungefragt meine Schreibmaschine ein und machte sich auf den Weg. 

Ich blieb an meinem Tisch sitzen, sah ihm nach und fragte mich, was das jetzt zu bedeuten hatte. 

Und noch mehr fragte ich mich, wer er war, dass er einfach so das Geld hatte, die Schreimaschine eines beinahe fremden Mädchens reparieren zu lassen. 

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