Kapitel neun
Als meine Mutter mir die Tür öffnete, weiteten ihre Augen sich vor Überraschung.
"Lily!", rief sie. "Wo warst du?"
Ich erzählte ihr, was passiert war, und als ich fertig war, schlang sie ihre Arme um mich. "Du hättest sterben können", murmelte sie.
"Tut mir leid", flüsterte ich und drückte sie an mich.
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"Komm rein", sagte sie, als sie sich von mir gelöst hatte. "Du schaffst es vor der Ausgangssperre nicht mehr zurück in deine Wohnung."
Ich willigte ein. Drinnen setzte ich mich auf das Sofa, während sie mir ein Sandwich machte. Eigentlich wollte ich ablehnen, aber sie machte jeden Versuch zunichte. Wahrscheinlich sah sie mir an, wie wenig ich in letzter Zeit gegessen hatte.
Kurz nach mir betrat der Mann die Wohnung, der mein Zimmer gemietet hatte. Er war um die dreißig, hatte sonnengebräunte Haut und trug Jeans und T-Shirt, auf seinem Kopf saß ein Strohhut. Er wirkte ein wenig überrascht, mich zu sehen, sagte aber nichts. Er grüßte meine Mutter nur mit Kopfnicken und ging dann in das Zimmer, das vorher mir gehört hatte.
"Er ist sehr nett", sagte meine Mutter, als sie ihm nachsah. "Er arbeitet in der Landwirtschaft. Er zahlt einen anständigen Preis für das Zimmer."
"Ich dachte immer, landwirtschaftliche Arbeiter verdienen genug, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können", sagte ich.
"Vielleicht wollte er einfach nicht allein wohnen." Meine Mutter zuckte mit den Schultern.
Womöglich hätte ich an einem anderen Tag weiter darüber nachgedacht, aber ich war schon wieder müde und meine Gedanken begannen, sich um China und die anderen, die Javier Terrell der Polizei ausgeliefert hatte, zu drehen.
"Ist es okay, wenn ich mich hinlege?", fragte ich meine Mutter und sie nickte verständnisvoll.
"Natürlich. Möchtest du vorher noch etwas essen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, danke." Ich war zwar hungrig, aber die Müdigkeit war stärker. Mit einem müden Lächeln legte ich mich aufs Sofa, dankte meiner Mutter und schlief innerhalb von wenigen Sekunden ein.
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Am nächsten Morgen schlief ich wieder lang, danach frühstückte ich. Meine Mutter war schon bei der Arbeit, aber sie hatte etwas für mich bereitgestellt. Der Mann, der mein Zimmer gemietet hatte, war ebenfalls nicht da, also hatte ich die Wohnung für mich alleine.
Kurz überlegte ich, einfach in meine eigene Wohnung zurückzukehren, entschied mich dann aber dagegen. Ich machte nur einen kurzen Abstecher dorthin, um meine Schreibmaschine zu holen - nach den Ereignissen der letzten Tage fühlte sich das Schreiben im Wohnzimmer meiner Mutter einfach besser an als in meinem.
Ich kam ganz gut voran, obwohl ich eigentlich gar nicht wusste, warum ich überhaupt noch schrieb. Davon leben würde ich nicht können, nicht so lange Lilium Publishing das einzige Unternehmen war, das ein Buch veröffentlichen konnte. Ich sollte mir einen Job suchen; vielleicht würde der Laden, in dem meine Mutter arbeitete, mich einstellen.
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Als Mom abends zurückkam, wirkte sie ein wenig überrascht davon, dass ich immer noch hier war, bereitete aber wortlos das Abendessen vor. Wir sprachen kaum, ich war in Gedanken wieder bei China und den anderen und sie sah mir wahrscheinlich an, dass mir nicht nach einer Unterhaltung zumute war. Ich ging früh schlafen.
Die nächsten Tage verliefen alle ähnlich. Am Tag darauf fragte ich meine Mutter nach dem Job und sie sagte, sie würde nachfragen. Wenige Tage später erhielt ich die Nachricht, dass ich an drei Tagen in der Woche im Laden arbeiten und Regale auffüllen konnte. Ich konnte in einer Woche anfangen.
Diese Woche verbrachte ich in der Wohnung meiner Mutter. Ich schlief, aß, schrieb und dachte darüber nach, wie ich meine Unterstützer aus dem Gefängnis holen konnte - erfolglos.
Mein erster Tag bei der Arbeit verlief ganz gut. Ich bekam eine Einführung darin, wie alles funktionierte, und begann am Nachmittag bereits, zu arbeiten. Es überraschte mich, wie viel ich erledigen musste; die meisten Lebensmittelläden waren nach dem großen Stromausfall bankrott gegangen, und da es nur noch wenige gab, war der Ansturm der Kunden groß. Das hatte ich gewusst, meine Mutter hatte es mir erzählt. Aber dass da tatsächlich so viele Leute kamen und so viel kauften, überforderte mich zunächst völlig.
Gegen Abend hatte ich jedoch schon eine gewisse Routine entwickelt. Die Arbeit war anstrengend und eintönig, aber ich verdiente das Geld, das ich zum Leben brauchte. Mehr Geld als beim Hunde ausführen.
So vergingen einige Wochen. Ich arbeitete an drei Tagen, schrieb an den anderen. Für welchen Zweck, wusste ich immer noch nicht, aber ich wollte es auch nicht einfach aufgeben. Irgendwann zog ich in meine eigene Wohnung zurück. Ich fand eine Freundin bei der Arbeit, Alexandria, die nur wenige Jahre älter war als ich. Sie hatte gerade die Schule beendet und arbeitete nun, bis ihre Ausbildung begann. Im Gegensatz zu mir mochte sie die Arbeit im Laden.
Irgendwann begann ich sogar, weniger an China und die anderen zu denken. Ich meine, natürlich dachte ich immer noch dauernd an sie, aber zum Teil war ich mit den Gedanken woanders. Zum Teil lebte ich mein Leben weiter.
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