Kapitel neun

Aramis und ich redeten den ganzen Nachmittag lang. Über lustige Dinge, ernste Dinge, alles Mögliche. Er hatte ein schönes Lachen, fast noch schöner als sein Lächeln, aber ausnahmsweise schämte ich mich nicht einmal mehr für mein eigenes Aussehen. Ihm schienen weder mein fettiger Haaransatz noch die kleinen Löcher am Saum meines Pullis aufzufallen, und als er seinen leeren Kuchenteller beiseite schob, bedankte er sich so bei mir, wie er sich auch bei einem reichen Mädchen bedankt hätte, dass nur einen kleinen Teil seines vielen Geldes für diesen Kuchen ausgegeben hatte - und nicht, wie ich, den gesamten Inhalt seiner Geldbörse. 

Er gab mir das Gefühl, normal zu sein, weder minderwertig noch abstoßend noch sonst etwas in der Art. Er war reich und das merkte man ihm an, bei allem, bei dem, was er erzählte, an seinem gepflegten Äußeren, an seiner Kleidung und seiner Ausdrucksweise. 

Ich hingegen war arm und wusste, dass man mir das garantiert auch anmerkte. 

Aber an diesem Nachmittag schien das alles gar keine Rolle zu spielen. Wir waren einfach nur zwei Leute, die den Tag in einem Café verbrachten und redeten, lachten, Kuchen aßen. 

Und schon viel zu bald neigte sich der Tag dem Ende zu. Draußen ging die Sonne unter und China zündete die ersten Kerzen an, während sie die wahrscheinlich letzten Gäste begrüßte und bediente; nach sieben Uhr kam meist niemand mehr. 

Aramis stand auf. "Ich sollte gehen", sagte er und sah mich dabei an, als würde ihm das wirklich leid tun. "Sehen wir uns nächsten Mittwoch?"

Wann hatte mein Herz das letzte Mal normal geschlagen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. 

Ich lächelte, die Lippen wie immer zusammengepresst, um meine Zähne zu verbergen. "Das wäre schön", sagte ich. 

Er erwiderte mein Lächeln, und einen Moment lang standen wir einfach so da. 

Er war es, der schließlich die Stille brach und sich verabschiedete.

"Danke für den schönen Nachmittag", sagte er noch, bevor er ging. 

"Kann ich nur zurückgeben", erwiderte ich, und nachdem die Tür des Cafés hinter ihm zugefallen war, stand ich bestimmt noch fünf Minuten da und sah ihm nach. 

Ich war in Gedanken so beim nächsten Mittwoch, dass ich beim Gehen beinahe meine Schreibmaschine vergessen hätte. 

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Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass die Menschen früher noch jederzeit miteinander hatten kommunizieren können. Damals, als es noch Strom gab und etwas, das man Internet nannte. Mir war die Vorstellung immer verrückt und ein bisschen beängstigend vorgekommen - wer wollte schon jederzeit erreichbar sein?

Aber jetzt wünschte ich mir, Internet zu haben, oder zumindest ein Telefon, um Aramis anrufen zu können. Sechs Tage waren so lang! Und kein Liebesroman der Welt konnte mich mehr davon ablenken, was gerade in der Wirklichkeit passierte. 

Nun überprüfte ich den Briefkasten mindestens doppelt so oft am Tag wie vorher. Wegen der Antwort von Lilium Publishing - wobei ich mit der immer noch längst nicht rechnete - und wegen Aramis. Vielleicht hatte er mir einen Brief geschrieben? Ich wusste natürlich, dass das keinen Sinn machte, er kannte meine Adresse nicht einmal, aber ich musste trotzdem nachsehen. Vielleicht hatte er sie irgendwo herausgefunden?

Aber er schrieb nicht. Bis wir uns am Mittwoch wiedersahen, hörte ich nichts von ihm. Und so wiederholte sich das auch die beiden Wochen darauf. Ich unternahm Spaziergänge durch die Stadt, versuchte, ihn zufällig irgendwo zu treffen, aber Nomine war groß genug, dass man sich nicht allzu häufig über den Weg lief. Ich versuchte zwei Mal, ein Treffen zu organisieren, aber er hatte beide Male schon etwas anderes vor. 

Irgendwann fragte ich ihn sogar nach seiner Adresse, um ihm einen Brief zu schreiben. Er wollte sie mir nicht geben, fragte mich auch nicht nach meiner. Sowieso verhielt er sich an dem Mittwoch zwei Monate nach unserem Treffen plötzlich seltsam. Er schien mir richtig ausweichen zu wollen, schob Arbeit vor, ging unaufhörlich im Café umher, obwohl es gar nichts zu tun gab und er sich eigentlich zu mir hätte setzen können, um mit mir zu reden. 

"Aramis?", rief ich seinen Namen, als er an mir vorbeiging, um die Fenster zu putzen. 

Er drehte sich zu mir um, schien beinahe überrascht zu sein, dass ich ihn ansprach. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen, hatte dunkle Augenringe. "Was ist?", fragte er. 

"Geht es dir gut?", wollte ich wissen. "Du verhältst dich so ... komisch."

"Mit mir ist alles in Ordnung", sagte er und wandte sich wieder von mir ab. "Ich kann nur nicht jeden Mittwoch damit verbringen, mit dir zu reden. Dafür hat mich China nicht eingestellt."

Es lag garantiert nicht an China. Er log. Ich kannte China und sie hätte sich mir nie in den Weg gestellt, wenn es um so etwas ging.

Ich stand auf und hielt Aramis' Arm fest, bevor er weitergehen konnte. "China braucht dich überhaupt nicht. Sie ist gut alleine zurecht gekommen."

Er befreite sich mit einer unsanften Bewegung aus meinem Griff. "Lass mich los. Ich sollte dich wohl eher fragen, ob es dir gut geht, als umgekehrt."

"Mir geht es bestens", fauchte ich. "Ich kann nur nicht verstehen, warum du auf einmal so ... abweisend bist."

Er fuhr sich durch die Haare. "Ich bin überhaupt nicht abweisend! Was erwartest du, soll ich mit dir Kaffeekränzchen machen, wenn ich eigentlich arbeiten muss? Du hast auch eine Arbeit, wenn ich dich daran erinnern darf, Frau Schulabbrecherin." 

Mein Märchen, meine schöne Liebesgeschichte zwischen arm und reich, zersplitterte in ihre Einzelteile.

Ich zog scharf die Luft ein. "Wenn du glaubst, du könntest so mit mir reden ..."

"Dann was? Wirst du dann deine Bodyguards rufen, die du dir natürlich problemlos leisten kannst?"

Nun hatte ich wirklich genug. Ich war doch nicht sein Spielzeug, mit dem er umspringen konnte, wie es ihm gerade passte! Vielleicht war ich nicht so reich wie er, gut, aber ich musste mich deswegen bestimmt nicht von ihm beleidigen lassen. 

Langsam entfernte ich mich von ihm und setzte mich zurück an meinen Platz. Noch langsamer legte ich meine Finger wieder auf die Tasten meiner Schreibmaschine. Ich sah, wie er mich aus dem Augenwinkel beobachtete, jeden meiner Schritte verfolgte. Was wollte er denn jetzt noch?

Ich löste den Blick von ihm und begann, mit einer solchen Wucht auf die Tasten meiner Schreibmaschine einzuhämmern, dass ich danach fürchtete, diese schon wieder reparieren lassen zu müssen.

Aramis machte sich wortlos daran, mit aggressiv wirkenden Bewegungen die Fenster zu putzen. Ich versuchte, mich aufs Schreiben zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. Ich musste immer wieder zu ihm hinübersehen und mich fragen, was wohl passiert war, dass er so wütend war. 

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