Kapitel eins
Er hatte doch mit mir geflirtet.
Und nicht umgekehrt.
Wenn ich Javier Terrell je so etwas wie bewundert hatte, dann war diese Bewunderung spätestens jetzt in Wut umgeschlagen. Im Kopf musste ich die Worte in dem Brief immer wieder wiederholen: Halt dich von meinem Sohn fern, du kleine Schlampe. Wenn du Aramis je wiedersiehst, wird das Konsequenzen haben, die du dir nicht in deinen schlimmsten Albträumen vorstellen kannst.
Und ich konnte mir eine Menge vorstellen, Dinge, bei denen ich die Vorstellung nicht akzeptieren wollte, dass irgendein Mensch sie tatsächlich tun würde, nur weil jemand nett zu seinem Sohn gewesen war. Jemand, der nichts für seine leere Geldbörse konnte, Mann, glaubte der vielleicht, ich hätte es mir ausgesucht, arm zu sein? Das war doch nicht meine Entscheidung gewesen!
Ich blieb bis spätabends in Chinas Café und weinte mich bei mir aus. Sie tat ihr Bestes, mich aufzumuntern, aber es half nicht viel. Irgendwann schickte sie mich mit einem Stück Schokoladenkuchen (den ich nicht essen würde, weil er mich zu sehr an Aramis erinnerte) weg und sagte: "Geh schlafen. Vielleicht hilft das ein wenig. Du wirst über ihn hinwegkommen. Er ist es nicht wert, so traurig zu sein, wenn er dir nicht einmal die Wahrheit sagen konnte."
"Wie lange wusstest du es?" Ich schniefte.
"Seit ich ihn eingestellt habe. Aber ich dachte, er hätte es dir gesagt. Von Anfang an." Sie schüttelte den Kopf. "Ich muss schließen. Du solltest gehen."
Ich nickte, bekam nicht mal mehr ein Danke heraus. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich mir die Tränen aus den Augen und verließ das Café.
"Lily."
Ich fuhr herum. "Aramis, wenn du nicht sofort gehst, dann mache ich Chinas Drohung wahr und rufe die Polizei."
Er kam näher, sodass ich im schwachen Mondlicht sein Gesicht erkennen konnte. Er sah aus, als hätte er ebenfalls geweint. Tja, er hätte sich überlegen müssen, wie das rauskommen würde, bevor er mich anlog. Selber Schuld.
"Das kann jetzt nicht so aufhören. Ich muss das wiedergutmachen ..." Er sah mich eindringlich an.
"Lass mich in Ruhe", zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. "So machst du es am besten wieder gut."
"Ich wollte nur ... Ich wollte eine Freundin, bei der ich mir sicher sein kann, dass sie nicht nur wegen meines Geldes und meiner gesellschaftlichen Stellung bei mir zusammen ist. Oder weil sie an Javier Terrell herankommen will, um ihn umzubringen."
"Und weißt du, was ich wollte?" Ich blinzelte meine Tränen weg. "Einen Freund, der mir die Wahrheit sagt."
Dann drehte ich mich um und ging. Erst als ich mir sicher war, dass er mir nicht folgte, warf ich so unauffällig wie möglich einen Blick über die Schulter nach hinten. Er war nicht mehr zu sehen, aber ich glaubte, eine Bewegung wahrzunehmen, die sich von mir entfernte.
Einen kurzen Moment blieb ich so stehen, dann drehte ich mich wieder um, richtete den Blick nach vorne und ging so aufrecht wie möglich weiter.
.
.
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Am nächsten Morgen beschloss ich, Javier Terrell den Kampf anzusagen.
Ich meine, so etwas beginnt nicht wegen einer Lüge und einer schmerzhaften Enttäuschung. Theoretisch zumindest nicht. Aber das war mir egal. Dieser Mann hatte so viel kaputt gemacht, hatte mir den Jungen, in den ich verliebt gewesen war, genommen, und in wenigen Wochen würde ich mir wegen ihm sogar eine neue Unterkunft suchen müssen. Nur weil er der Meinung war, dass ich nicht gut genug für Aramis war. Aramis, der von sich aus begonnen hatte, mit mir zu reden.
Also nahm ich meine Schreibmaschine, ging zu Chinas Café und begann, zu schreiben.
Ich schrieb den ganzen Tag, ohne eine einzige Pause, aber auch ohne das kleinste Anzeichen einer Schreibblockade. Mein davor angefangenes Buch hatte ich links liegen lassen und mich etwas weitaus wichtigerem gewidmet: Meiner Rache.
Das Buch trug den Arbeitstitel Wie Javier Terrell mich Schlampe nannte und war eine auf realen Ereignissen basierende Geschichte, die ich jedoch zu einem Roman machen würde. In den Hauptrollen: Aramis Terrell, reicher Junge, Sohn des Geschäftsführers von Lilium Publishing. Und Lily Marshall, erfolglose Schriftstellerin, deren großer Traum dank Javier Terrells privaten Abneigungen gegen arme Menschen geplatzt war.
Der erste Satz lautete:
"Ich hatte versucht, den perfekten ersten Satz zu schreiben, aber scheinbar war es mir nicht gelungen."
Und der zweite. "Aber selbst mit dem besten ersten Satz konnte man nicht bei einem Verlag unterkommen, wenn der Inhaber ebendieses Verlages einen so sehr hasste, dass er einem mit dem Tod drohte."
Ich begann mit der Szene, wie ich den Brief vom Verlag - in meinem Buch wörtlich zitiert - bekam, als eine Art Prolog, und erzählte die vorherigen Ereignisse dann als eine Art Flashback. Obwohl das Buch als Roman geschrieben war, wollte ich alles so genau und real wie möglich wiedergeben, damit jeder, der es las, die Wahrheit über den Menschen erfuhr, der unsere Meinung über das Weltgeschehen so stark prägte. Denn Javier Terrell verlegte nicht nur Bücher, sondern veröffentlichte auch die einzige Zeitung des Kontinenten, sowie alle Zeitschriften.
Es gab mehr als genug Menschen, die ihn bereits kritisierten. Mein Buch würde diese Menschen noch mehr gegen ihn aufhetzen. Vielleicht würde es so etwas wie eine Rebellion geben, ob ich das wollte, wusste ich nicht. Aber so weit war ich noch gar nicht. Erst einmal musste ich dieses Buch hier fertig schreiben.
Die nächsten paar Tage saß ich beinahe pausenlos vor meiner Schreibmaschine, verbrachte aber nicht mehr jeden Tag in Chinas Café. Jetzt, da ich wusste, dass ich bald würde ausziehen müssen, verbrachte ich mehr Zeit in der kleinen Wohnung von meiner Mutter und mir und schrieb dort. Mom kam bis spätabends nicht nach Hause, aber wenn wir uns noch kurz sahen, redeten wir viel miteinander. Ich sah ihr an, dass es ihr leidtat, dass ich gehen musste, dass sie aber trotz aller Mühe nichts dagegen tun konnte.
Was mich betraf, so hatte ich mich damit abgefunden. Na ja, mehr oder weniger. Ich war immer noch wahnsinnig wütend auf Aramis und noch wütender auf Javier Terrell. Aber ich musste etwas tun, aktiv werden, wenn ich Terrell wirklich schaden wollte.
Ich musste weitermachen, irgendwie. Die Protagonistinnen in meinen Büchern schafften das schließlich auch.
Gut eine Woche verging und ich hörte nichts mehr von Aramis. Die Arbeit an meinem Buch machte es mir logischerweise nicht leichter, ihn zu vergessen, aber es tat gut, mal alles aufzuschreiben.
Manchmal weinte ich mich in den Schlaf und wachte mit Kopfschmerzen auf, manchmal wollte ich mich nur noch in meinem Zimmer einschließen, einmal schrie ich so laut, dass die Nachbarin aus der Wohnung unter uns kam, an der Tür klopfte und fragte, ob alles in Ordnung sei.
Ich bejahte die Frage, obwohl ich mir nicht sicher war.
Manchmal wünschte ich mir, Aramis nie kennengelernt zu haben.
Aber alles in allem konnte ich von mir sagen, dass es mir zumindest ansatzweise gelang, die ganze Sache hinter mir zu lassen. Na ja, von der Tatsache, dass ich ein Buch schrieb, um mich an Javier Terrell zu rächen mal abgesehen.
Nach der eben erwähnten Woche passierte jedoch etwas Unvorhergesehenes - oder zumindest etwas, womit ich eigentlich hätte rechnen sollen, es aber nicht getan hatte. China stand vor der Tür und sah mich besorgt an.
"Geht es dir gut?", fragte sie. "Du warst seit einer Woche nicht mehr da."
Mit da meinte sie das Café, das wusste ich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass sie sich Sorgen machen könnte, wenn ich mal über eine längere Zeit hinweg nicht auftauche. Aber nun, da ich es wusste, überraschte es mich gar nicht so sehr. Ich war monatelang fast jeden Tag in Chinas Café gegangen, um zu schreiben, mehrere Tage in Folge nicht waren eine Ausnahme gewesen. Wenn ich jetzt plötzlich, dann auch noch nach meinem Streit mit Aramis, eine ganze Woche lang verschwand, war es wohl völlig normal, dass China sich fragte, wo ich war.
Ich schüttelte den Kopf. "Mir geht es nicht gut. Der Junge, in den ich mich verliebt habe, hat mich angelogen, sein Vater hat mir mit drastischen Konsequenzen gedroht, falls ich ebendiesen Jungen noch einmal wiedersehe, und ich muss dieses Haus in gut einem Monat verlassen. Mir geht es nicht gut. Aber ich bin nicht darum nicht mehr gekommen. Ich wollte einfach noch ein bisschen Zeit hier verbringen, bevor ich gehen muss."
Sie nickte. "Ich habe mich nach einer Wohnung für dich umgesehen, aber bisher noch nichts gefunden. Tut mir leid. Wenn du nirgendwo wohnen kannst, kannst du vorübergehend auch zu mir kommen. Ich habe nicht viel Platz, aber du könntest im Café arbeiten und so einen Teil der Miete bezahlen." Sie sah mich entschuldigend an. "Ich habe auch nicht allzu viel Geld."
"Danke. Wirklich. Ich versuche, etwas anderes zu finden", sagte ich. "Möchtest du reinkommen? Ich kann dir ... nicht viel anbieten, aber ein Glas Wasser sollten wir haben."
Sie lächelte. "Ich muss nichts trinken, aber ich komme gerne kurz rein. Wie läuft es mit deinem Buch?"
Ich schloss die Tür hinter ihr. "Ich habe es abgebrochen. Ich schreibe jetzt etwas anderes. Ein Buch über Aramis und mich."
"Bist du sicher?", fragte sie. "Du solltest dich nicht so sehr in das hineinsteigern."
"Es geht nicht nur um Aramis und mich", erklärte ich. "Es geht darum, was Javier Terrell mir angedroht hat, damit die Leute erfahren, wie er wirklich ist."
Wir waren inzwischen ins Wohnzimmer gegangen. Sie zog einen Stuhl vom Esstisch und setzte sich hin. "Wer soll das denn verlegen, wenn du Javier Terrell schlechtmachst? Lilium Publishing wird das nämlich sicher nicht tun." Sie sah aus, als müsste sie sich das Lachen verkneifen.
Ich zuckte die Achseln. "Darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist. Jetzt muss ich das Buch erst einmal schreiben. Vielleicht veröffentliche ich es im Selbstverlag. Führe ein paar Hunde aus ... oder arbeite bei dir im Café, wenn du Hilfe brauchst, jetzt, da du Aramis gefeuert hast, und verdiene Geld, um bei einer Druckerei Bücher drucken zu lassen."
Sie nickte. "Klingt gut."
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