Kapitel eins

Wie schreibt man einen perfekten ersten Satz?

Ich hatte keine Ahnung. Dennoch flogen meine Finger geradezu über die Tasten meiner Schreibmaschine, alle Seiten überarbeitend bis auf die erste. Der erste Satz meines letzten Manuskripts war eine mittelschwere Katastrophe gewesen: "Er starrte seinen Teller an, auf dem das Mittagessen lag, ein Klecks Spinat und ein paar Salatblätter."

Die metaphorische Bedeutung des Spinats hatte den Lektor bei Lilium Publishing, der sich das Ganze angesehen hatte, bestimmt kein bisschen interessiert. Und zwar darum, weil er das Manuskript nach dem ersten Satz gelangweilt beiseite gelegt und das nächste zur Hand genommen hatte. So in etwa stellte ich mir das vor. 

Aber egal. Dieses Manuskript hier würde gut werden, richtig gut. Besser als alles, was ich je zuvor geschrieben hatte. Diese Überarbeitung war bereits der zweite Durchgang und es wurde mit jedem Mal besser. 

"Darf ich dir noch einen Cappuccino bringen?", sprach mich China, die Geschäftsführerin von China's Café - meinem Lieblingsort zum Arbeiten - leise von der Seite an. 

"Du hast mir schon den letzten spendiert", erwiderte ich mit einem Kopfschütteln. "Das reicht jetzt wirklich."

"Du wirst nicht den ganzen Tag in meinem Café sitzen und nur einen einzigen Kaffee trinken", widersprach sie energisch. Sie führte dieses Café nun seit einem halben Jahr, und sie machte den besten Cappuccino mit süßer Sahnehaube in der ganzen Stadt. Neben meiner Mutter gehörte sie zu meinen besten Freunden und mein erstes Buch würde ihr gewidmet sein, das hatte ich mir schon fest vorgenommen. 

"Gut, noch einen", seufzte ich und schämte mich für meine leere Geldbörse. 

Eine fröhliche Melodie pfeifend verschwand sie in der Küche und ich widmete mich wieder meinem Manuskript. Ich hatte erst etwa einen Viertel geschafft und grübelte immer noch an der ersten Seite herum, aber alles in allem kam ich nicht schlecht voran. Ich mochte meine Arbeit als Schriftstellerin wirklich sehr. Und noch nie hatte ich es bereut, dass ich nicht mehr zur Schule ging. 

China stellte den Cappuccino neben mich und ich bedankte mich mehrmals. Sie schüttelte nur den Kopf und machte sich daran, die Gäste am Nebentisch zu bedienen. Das Café, das eigentlich ein absoluter Geheimtipp war, war heute ungewöhnlich gut besucht und sie hatte alle Hände voll zu tun. 

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Als ich an diesem Abend kurz vor der Ausgangssperre nach Hause kam, erwartete mich eine unangenehme Überraschung. 

Meine Mutter saß auf dem Sofa und warf mir einen Blick zu, bei dem ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn als wütend oder erleichtert einstufen sollte. Sie hatte diesen Blick besser drauf als jeder andere und ich kannte ihn inzwischen sehr gut. Es gefiel ihr gar nicht, wenn ich bis kurz vor zehn in "diesem Café, das eigentlich schon um sechs schließt", wie sie es nannte, arbeitete. 

"Du weißt, dass ich es immer rechtzeitig schaffte", versuchte ich, sie zu beruhigen. "Ich war noch nie nach zehn Uhr draußen."

"Es geht mir nicht darum", sagte sie. "Ich bin gerade die Abrechnung des vergangenen Monats durchgegangen und ... Lily, ich kann dich nicht länger bei mir wohnen lassen, ohne dass du was zahlst. Ich kann es mir nicht leisten."

Mein Magen krampfte sich zusammen. "Ich kann noch mehr Hunde ausführen. Oder mit Babysitten anfangen", sagte ich. Ich war bereits mit den Hunden der Nachbarn Gassi gegangen, um meinen Cappuccino endlich mal selbst bezahlen zu können. Wenn meine Mutter wollte, dass ich ihr bei der Miete half, konnte ich das tun. Irgendwie.

Sie schüttelte nur traurig den Kopf. "Das wird nicht reichen", sagte sie. "Kümmere du dich lieber ums Schreiben. Noch darfst du gar nicht alleine wohnen. Aber ... wenn du bis zu deinem siebzehnten Geburtstag in zwei Monaten ... noch keinen Verlagsvertrag hast, dann ... dann muss ich dich leider bitten, hier auszuziehen." 

Mein Magen krampfte sich zusammen. "Ein Verlagsvertrag innerhalb von zwei Monaten? Ich habe das Buch ja noch nicht einmal fertig!", protestierte ich. 

"Daran kann ich nichts ändern." Sie senkte den Blick, um ihre Tränen zu verbergen, aber ich sah sie trotzdem. 

"Reicht die Bitte, das ganze Manuskript einzusenden? Etwas anderes kann ich im Zeitraum von zwei Monaten nämlich gar nicht erreichen", sagte ich. 

Einen Moment lang saß sie einfach nur stumm da, dann nickte sie langsam. "Wenn du die Bitte hast, das ganze Manuskript einzureichen, dann darfst du so lange bleiben, bis sie absagen. Falls sie absagen. Falls sie zusagen, kannst du wie gesagt auf Dauer bleiben. Enttäusch mich nicht."

"Werde ich nicht", sagte ich und blinzelte meine eigenen Tränen weg. Ich hatte immer gewusst, dass wir seit dem großen Stromausfall nicht mehr gut bei Kasse waren, aber dass es so schlimm war, überraschte mich. Vor der Nachricht, dass uns nur noch begrenzt Strom zur Verfügung stand, hatte meine Mutter als digitale Bestatterin gearbeitet und die Onlineprofile verstorbener Leute beseitigt. Sie hatte nicht schlecht verdient, mein Vater, der ein erfolgreicher Anwalt für digitale Problemstellungen gewesen war, auch nicht. 

Dann war der Strom verschwunden, beide meiner Eltern arbeitslos geworden und mein Vater hatte uns verlassen. Nun füllte meine Mutter nach Ladenschluss im Supermarkt Regale auf, und sie hasste ihren Job. Wie gesagt, ich hatte gewusst, dass wir finanzielle Probleme hatten, aber diese Nachricht schockierte mich dann doch. So sehr, dass ich am liebsten klischeehaft heulend in mein Zimmer gerannt/ohnmächtig geworden wäre. Aber ich stand nur wie angewurzelt da, starrte meine Mutter an und versuchte, mir irgendwie einen Plan zurechtzulegen, wie ich bitteschön innerhalb zwei Monaten eine Antwort von Lilium Publishing erhalten sollte. Eine positive Antwort. Zwei Monate, das war ja so lange wie sie überhaupt brauchten, um auf eine Einsendung zu antworten! Ich hätte eine Chance gehabt, wenn ich das Buch fertig gehabt hätte, wenn auch nur eine minimal kleine Chance. 

Aber ich hatte das Buch nicht fertig. 

"Mom ...", wimmerte ich, und ich wusste, dass jetzt ein geeigneter Zeitpunkt zum Heulen gewesen wäre, aber tief in mir drin weigerte ich mich immer noch, zu akzeptieren, was hier gerade geschah. 

"Es tut mir leid, Lily." Sie wandte den Blick ab. 

Endlich lösten sich meine Füße vom Boden und ich stürzte aus dem Raum, auf direktem Weg in mein Zimmer, wo ich die Tür hinter mir zuknallte. 

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