Kapitel drei

Ich erwartete beinahe, jeden Moment einen Schmerzensschrei zu hören, aber es blieb still. Aramis neben mir keuchte. 

"Ich kann da nicht rein", sagte ich. "So bald ich einen Fuß in dieses Gebäude setze, bringt mich Javier Terrell um. Das ist doch genau das, was er will."

"Aber was sollen wir sonst tun?" Aramis sah mich verzweifelt an. "Alleine kann ich sie nicht da rausholen."

"Wir sollten hier weg." Ich ging nicht darauf ein, was er gesagt hatte, bereute es bereits, ihm überhaupt gefolgt zu sein. Allein der Anblick des Gebäudes vor mir machte mir Angst. "Wir sollten die Polizei alarmieren."

"Bringt nichts. Mein Vater hat die in der Hand. Genau wie jeden anderen in der Stadt", widersprach Aramis. "Tut mir leid. Ich hätte dich nicht holen sollen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte."

"Nun ist es zu spät", sagte ich. "Aber vielleicht war es gut, dass du mich geholt hast. Ich habe eine Idee."

Und die hatte ich tatsächlich. 

Aramis sah mich erwartungsvoll an. "Was?"

"Ich glaube, wir müssen Lilium Publishing früher stürzen als geplant." 

Er sah mich fassungslos an. "Was?", sagte er noch einmal, aber dieses Mal war es keine Frage mehr. "Bitte sag mir, dass das nicht dein Ernst ist."

"Doch." Ich biss mir auf die Unterlippe. "Wir müssen bei den zwanzig Leuten klingeln, denen ich meine Manuskripte in die Briefkästen geworfen habe. Wenn sie uns helfen, dann haben wir eine viel größere Chance, China da rauszubekommen, als wenn wir einfach zu zweit da reinspazieren."

"Das ist völlig naiv!"

"Wenn du eine bessere Idee hast, kannst du die gerne vorbringen."

Einen Moment lang standen wir schweigend da, dann schüttelte er den Kopf. "Gehen wir. Weißt du noch, wo diese Leute wohnen?"

"Von den meisten schon, glaube ich." Ich joggte los. "Worauf wartest du? Je länger wir hier draußen rumstehen, desto größer ist die Gefahr, dass ich sterbe."

Er setzte sich in Bewegung, passte sein Tempo meinem an. Das erste Haus, das mir einfiel, lag hier ganz in der Nähe. 

"Ich klingle. Du wartest", befahl ich. Aramis schien ganz froh darüber zu sein. 

Ich muss zugeben, dass meine Beine zitterten, als ich langsam auf die Eingangstür zuging, die Hand hob und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis geöffnet wurde; eine Frau stand davor, Mitte zwanzig, mit blondem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. "Hallo", sagte sie überrascht.

"Guten Tag", keuchte ich. "Ich bin Lily Marshall. Das Mädchen, das Ihnen vor ein paar Tagen das Manuskript in den Briefkasten gelegt hat. Wie Javier Terrell mich Schlampe nannte."

Ihre Augen weiteten sich überrascht, sie griff nach meinem Arm und zog mich kurzerhand ins Haus. "Mich überrascht es, dass du noch lebst", sagte sie, während sie die Tür hinter mir schloss. "Normalerweise macht Terrell mit Leuten wie dir schneller kurzen Prozess."

"Darum geht es ja. Sie müssen mir helfen. Er hat meine beste Freundin gefangen genommen, um mich dazu zu bewegen, mich zu stellen. Wahrscheinlich konnte er mich nicht finden, ich wohne in einer Wohnung, die auf den Namen dieser Freundin registriert ist, nicht auf meinen. Wir müssen sie da rausholen", erklärte ich. 

Die Frau nickte langsam. "Ist deine Freundin diese Asia Winter aus deinem Buch?"

"Ja. Eigentlich heißt sie China. China Young. Und wenn ihr etwas zustößt ..." Ich vergrub das Gesicht in den Händen. "Das könnte ich nicht ertragen."

Einen Moment lang war es still. 

"Ich helfe dir", sagte die Frau dann. "Aber du musst hier drin bleiben. Als du nach draußen gegangen bist, hast du wahrscheinlich schon einen Teil von dem getan, was Javier Terrell von dir wollte."

"Aber wir müssen noch mehr Leute zusammentrommeln", wandte ich ein, der Verzweiflung nahe. 

"Kein Problem. Ich kenne zwei Leute, die das Manuskript ebenfalls bekommen haben. Die wiederum kennen zwei weitere. Ich habe sogar von jemandem gehört, der das Manuskript kopiert und noch mehr Exemplare davon verteilt hat. Wir kriegen genug Leute zusammen, um deine Freundin da rauszuholen." 

Ich nahm die Hände gerade rechtzeitig wieder vom Gesicht, um sie lächeln zu sehen. "Wenn das Baby aufwacht, dann gib ihm doch bitte was von der kalten Milch im Eisschrank. Ich habe die Windel gerade gewechselt, aber falls es nötig sein sollte, dann findest du frische im Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer im oberen Stock."

Mir wurde schlecht. Diese Frau hier hatte ein Baby. Und sie begab sich in Lebensgefahr. Weil ich sie darum gebeten hatte. 

"Warten Sie ...", setzte sich an, doch da war sie schon weg, hatte das Haus verlassen und die Tür hinter sich geschlossen. 

Es dauerte aber nur Bruchteile von Sekunden, bis sie zurück war. "Ist das da im Garten einer der Terrells oder habe ich ihn verwechselt? Kennst du ihn? Ist er auf der Suche nach dir?"

"Das ist Aramis", sagte ich. "Er ist ... so etwas wie ein Freund von mir. Und ja, er ist einer der Terrells, aber er hat genau so großes Interesse daran, Lilium Publishing zu stürzen wie ich."

Sie dachte einen Moment nach, dann schnappte sie nach Luft. "Aramis Terrell? Der Junge aus deinem Buch?"

"Ja."

"Und jetzt seid ihr wieder ..."

"Nein, wir sind nicht wieder zusammen", unterbrach ich sie. 

Sie lachte. "Okay. Dann gehe ich mal."

"Warten Sie, wollen Sie wirklich ..."

Sie öffnete die Tür. "Ja. Ich werde schon lebend zurückkommen." 

Und dann war sie weg. 

Ich setzte mich vor der Haustür auf den Boden, wischte eine Träne weg, die den Weg aus meinem Auge gefunden hatte, und fragte mich, was ich da angerichtet hatte. Nur, weil ich geglaubt hatte, ich könne Lilium Publishing den Kampf ansagen, nur weil ich so wütend auf Javier Terrell gewesen war, weil er mein Manuskript abgelehnt und Aramis verboten hatte, sich mir zu treffen, riskierte ich jetzt das Leben einer jungen Mutter. Und wahrscheinlich das von so vielen anderen Menschen, wenn sie recht gehabt hatte. 


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