Kapitel acht
Als ich nach draußen trat und die frische Luft einatmete, war ich völlig schockiert von der Tatsache, dass ich noch am Leben war. Vor wenigen Minuten hatte Javier Terrell noch eine Waffe auf meinen Kopf gerichtet.
Ich zwang mich, tief durchzuatmen, und entfernte mich dann langsam vom Hauptgebäude von Lilium Publishing. Mit zitternden Beinen kehrte ich in meine Wohnung zurück, setzte mich dort aufs Sofa und starrte die Wand mir gegenüber an, während ich mir immer wieder eine Frage stellte:
WAS? WAR? DA? GERADE? EBEN? PASSIERT?
Nach dem Vorfall mit seiner Frau hatte Javier Terrell einem Bediensteten befohlen, mich nach draußen zu bringen. Mit mir geredet hatte er gar nicht mehr.
Ruckartig sprang ich auf, als ich mich plötzlich an etwas erinnerte. Das Baby! Das Baby war immer noch alleine in der Wohnung der Frau, die uns diese so freundlich zur Verfügung gestellt hatte. Die Frau, die jetzt im Gefängnis saß. Bestimmt war es verhungert, hatte stundenlang nach seiner Mutter geschrien und niemand hatte es gehört.
Ich rannte los, obwohl ich gar nicht so genau wusste, wieso. Javier Terrell hatte mich mehrere Tage gefangen gehalten, das Kind musste schon lange tot sein. Aber ich konnte nicht hier sitzen blieben, vielleicht hatte es doch noch irgendwie überlebt und ich konnte ihm helfen.
Als ich keuchend bei der Wohnung ankam, den Schlüssel unter der Fußmatte hervorholte und die Tür öffnete, wollte ich eigentlich gar nicht mehr wissen, was mit dem Baby passiert war. Dennoch zwang ich mich, bis zum Kinderzimmer zu gehen und die Tür aufzustoßen. Es war dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen. Mein Magen verkrampfte sich vor Angst, als ich an das Bett herantrat.
"Wer sind sie?"
Mein Herz machte einen Satz und ich fuhr herum. Eine Frau um die fünfzig stand in der Ecke neben dem Kinderbett und hielt mir eine brennende Kerze entgegen, damit sie mein Gesicht sehen konnte.
"Wer sind sie?", fragte ich zurück. "Die Bewohnerin des Hauses hat mir erlaubt, bei ihr zu wohnen, so lange es nötig ist. Dummerweise sind ein paar Dinge dazwischen gekommen. Und nun ist mir das Baby eingefallen ..."
"Ich habe es schreien gehört. Ich bin die Nachbarin. Es war halb verhungert, als ich das gefunden habe." Sie sah mich streng an.
"Tut mir leid ... Ich habe eine Gruppe Leute angeführt, die Lilium Publishing angegriffen hat ... und dann hat Javier Terrell mich gefangen genommen. Ich konnte mich nicht mehr um das Kind kümmern", stammelte ich.
"Du hast Lilium Publishing angegriffen?", fragte sie, aber anders als bei anderen Leuten, die solche Fragen stellten, klang sie nicht wirklich glücklich. "Warum?"
"Javier Terrell hat meine beste Freundin gefangen genommen. Und einige andere Leute, die mich unterstützt haben. Unter anderem die eigentliche Besitzerin dieses Hauses hier."
"Wobei unterstützt?", hakte sie nach.
"Bei dem ersten Angriff auf Lilium Publishing. Javier Terrell hat mir gedroht. Er hat mich beleidigt. Und er hat Aramis Terrell verboten, sich weiterhin mit mir zu treffen, weil ich fast kein Geld habe. Er hat mein Manuskript abgelehnt, nur wegen meiner Beziehung zu Aramis. Und dann hat er meine beste Freundin eingesperrt, um mich zu erpressen. Wir wollten sie da rausholen", erklärte ich.
Die Frau lachte, aber es war kein fröhliches Lachen. "Auf solche Lügen falle ich nicht rein. Du hast ein wehrloses Baby vernachlässigt und bist feiern gegangen oder so was. Ich sollte dich verhaften lassen."
"Es war wirklich so. Es sind keine Lügen", widersprach ich.
"Raus aus diesem Haus", sagte die Frau mit gepresster Stimme. "Sonst rufe ich wirklich noch die Polizei."
Ich verließ das Haus. Ich wollte nicht schon wieder eingesperrt werden. Davon hatte ich genug, für den Rest meines Lebens.
Als ich mich auf den Rückweg machte, war ich einfach nur erleichtert, dass es dem Baby gut ging. Ich hatte wirklich befürchtet, es sei tot.
Aber nun fielen mir auch die anderen Leute wieder ein, die immer noch im Gefängnis saßen. Wegen mir. In meiner Wohnung angekommen, legte ich mich aufs Sofa und starrte verzweifelt vor mich hin. Ich konnte diese Leute da nicht rausholen. Weder China noch sonst irgendjemanden.
Wenn Aramis mir hätte helfen können, hätte die ganze Sache anders ausgesehen. Aber ich hatte keine Ahnung, ob Javier Terrell ihn freigelassen hatte. Ob seine Frau ein zweites Mal damit gedroht hatte, vom Dach zu springen ... die Szene spielte sich in meiner Erinnerung immer wieder ab. Und auch das danach, wie er auf sie zugegangen war und ihr eine Träne von der Wange gewischt hatte.
Ich blieb so lange auf dem Sofa liegen, bis sich mein Schlafmangel bemerkbar machte und ich mich schwerfällig ins Bett schleppte. Es musste schon gegen Mitternacht sein, als ich einschlief.
Es erstaunte mich am nächsten Morgen, dass ich überhaupt hatte schlafen können. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich die Nächte davor wachgelegen hatte. Es war schon elf, als ich aufstand und die Küche nach etwas Essbarem durchsuchte. Mein Hunger erstaunte mich ebenfalls. Andererseits hatte ich die Mahlzeiten, die Terrell mir gebracht hatte, kaum angerührt.
Ich fand ein hartes Stück Kaltbrot und setzte mich damit an den Tisch.
Als ich aufgegessen hatte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Chinas Café war geschlossen. Ein weiteres Protestbuch gegen Aramis Terrell würde wahrscheinlich nicht viel bringen. Meine Mutter war bei der Arbeit.
Schließlich setzte ich mich seufzend wieder an das Buch, das ich irgendwann mal begonnen hatte. Das, bei dem ich eigentlich gar nicht damit gerechnet hatte, es überhaupt zu beenden.
Lust zum Schreiben hatte ich keine. Aber hier herumzusitzen und nachzudenken war auch keine Option. Vielleicht musste ich mein Leben einfach wieder aufnehmen. Obwohl eine der Personen, die mir am wichtigsten waren, im Gefängnis saß, und eine andere wahrscheinlich dachte, ich sei tot. Ich musste meine Mutter besuchen, dringend. Abends, kurz vor der Ausgangssperre, wenn sie zu Hause war.
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