Epilog | Aramis

Wir saßen im China's Café, bis es dunkel wurde. Die Lichter in den Fenstern der Leute gingen nach und nach an, irgendwann auch die Straßenlaternen. 

Die ausgelassene Stimmung senkte sich langsam. Wir wurden mit der Realität konfrontiert. Ich hatte keine Ahnung, was auf der Welt momentan los war. Was die Rückkehr des Stroms ausgelöst hatte. Wie beim großen Stromausfall mussten die Folgen gravierend sein.

Lilium Publishing würde bald niemand mehr brauchen. Außer vielleicht die Handvoll Menschen, die noch gerne gedruckte Bücher las. 

Und ich würde dann endlich das sein, was ich mein ganzes Leben lang hatte sein wollen: Normal. Mehr oder weniger. Nur, dass ich jetzt nicht mehr wusste, ob dieses Leben wirklich das war, was ich wollte. Aber man konnte nicht alles haben. 

Lily nahm meine Hand, verschränkte ihre Finger mit meinen. In Gedanken versunken sah sie aus dem Fenster. "Ich hasse es, dass der Strom wieder da ist", gestand sie. "Die Sterne sehen so viel schöner aus ohne künstliche Lampen."

Ich seufzte leise. Sie hatte recht. Aber vielleicht mussten wir uns damit abfinden. Vielleicht mussten wir das alle. 

Ich meine, man könnte denken, dass das hier jetzt so was wie ein Happy End war. Der Strom war wieder da, yay. Der böse Javier Terrell saß im Gefängnis, yay. Wir tranken Cappuccino, yay. 

Aber ich dachte an den Mann, der dazu bereit gewesen war, einem ganzen Kontinent den Strom abzustellen, nur um jemanden zu retten, den er liebte.

Ich dachte an Lily, die auf der Straße gelandet war, weil sie mich liebte.

Ich dachte an Dad, der jetzt womöglich in einer Gefängniszelle saß, den Kopf auf die Hände gestützt, und aus seinem kleinen Fenster starrte. Wie er die beleuchteten Fenster und die Straßenlaternen sah und wusste, dass sein Unternehmen am Ende war. 

Und ich dachte an Mom, die jetzt wahrscheinlich im Hauptgebäude von Lilium Publishing in ihrem Schlafzimmer saß und aus dem großen Panoramafenster auf die Stadt hinuntersah. Ich fragte mich, ob sie wusste, wo ich war. 

"Ich kann nicht bei dir einziehen, Lily", sagte ich leise. "Meine Mutter ... ich kann sie nicht allein lassen."

Sie nickte langsam. "Okay. Vielleicht irgendwann."

Ich strich sanft über ihre Hand. "Irgendwann, wenn du eine berühmte Bestsellerautorin bist ... und ich genügend Geld gespart habe ..."

Sie lachte, aber es klang nicht wirklich fröhlich. 

China setzte sich neben uns. "Warum macht ihr so traurige Gesichter?", fragte sie. 

Ich zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich wissen wir einfach nicht, wie es jetzt weitergehen soll", gestand ich. 

"Wir sollten fröhlich sein", sagte Lily. "Aber ich kann die ganze Zeit nur daran denken, was ich angerichtet habe. Und dass ich die Sterne sehen möchte."

Eine mehrere Jahre alte Leuchtreklame draußen warb für eine neue Gesichtscreme. 

Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und sehnte mich plötzlich nach meinen virtuellen Welten. Die Stadtlichter hatten dort immer schöner gewirkt. 

"Man kann auch nie zufrieden sein mit dem, was man hat", stieß ich hervor. 

Lily lachte trocken. "Scheinbar nicht."

Wir blieben sitzen, bis die Ausgangssperre schon lange vorbei war, ziellos, planlos, unwillig, etwas anderes als diesen Moment zu leben. Irgendwann ging ich zurück zum Hauptgebäude von Lilium Publishing; um die Ausgangssperre kümmerte sich ohnehin keiner mehr. Seit der Strom zurück war, war alles durcheinander. Die Stadt hatte andere Probleme. 

Die Leere, die mich erwartete, war seltsam. Meine Schritte hallten in der großen Eingangshalle wider. Die Mitarbeiter hatte ich gestern alle entlassen und dann die offizielle Schließung von Lilium Publishing bekannt gegeben. Wahrscheinlich sahen mich manche Leute als Verbrecher an. Manche als Held. Als was ich mich selbst sah, wusste ich nicht. 

Langsam ging ich die Treppen hoch, bis in den obersten Stock. Vor den VR-Kabinen zögerte ich einen kurzen Moment, ging dann aber an ihnen vorbei. Die Realität ließ sich nicht ausschalten. 

Ich klopfte an der Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter. Ein leises "Herein", kam von drinnen. 

Vorsichtig stieß ich die Tür auf. Mom saß auf dem Bett und sah zum Fenster hinaus, wie ich es mir vorgestellt hatte. 

"Wo warst du so lange?", fragte sie, ohne wirklich vorwurfsvoll zu klingen. 

"Im China's Café", erwiderte ich. "Mit Lily und China."

"China", murmelte sie. "War das nicht eine der Frauen, die dein Vater verhaftet hat, um Lily zu erpressen."

"Die, die er als erstes verhaftet hat."

Sie schüttelte seufzend den Kopf. Ich setzte mich neben sie und legte einen Arm um sie. 

"Ich dachte, ich wohne weiterhin hier", sagte ich. "Ich ziehe doch nicht zu Lily."

Sie reagierte gar nicht, ich wusste nicht einmal, ob sie mich gehört hatte. Ein leichter Geruch von Alkohol wehte von ihrer Seite zu mir herüber. 

"Hast du getrunken?", fragte ich ein wenig schockiert.

Sie zuckte mit den Schultern. 

"Mom!"

Nun sah sie mich an, ihr Blick war müde. Sie sagte nichts. Ich wusste, dass das hier kein Happy End war. 

"Du wirst nicht springen", sagte ich nachdrücklich und presste sie an mich, als könnte ich sie so davon abhalten. 

Sie schüttelte müde den Kopf. "Ich weiß doch nicht einmal, was davon echt und was leere Drohungen waren."

"Lass uns einfach sagen, dass alles nur leere Drohungen waren." 

Wir blieben so sitzen, bis wir einschliefen. 

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