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Die nächsten Tage verliefen ruhig. Ich arbeitete tagsüber im Café und schlief nachts auf der Straße. Als es mir zu kalt wurde, bat ich Lily um eine dritte Decke. 

Dummerweise beschloss mein Vater irgendwann, im Chinas Café aufzutauchen, flankiert von zwei Wachmännern. Er sah aus als hätte er seit meinem Verschwinden nicht mehr geschlafen - und  das mussten nun fast drei Monate sein. 

"Aramis!", rief er. 

Ich kam gerade mit einem Tablett voll Gläser aus der Küche und hätte dieses fast fallen gelassen, als ich ihn sah. "Was machst du hier?", rief ich. "Hat Mom dir nicht gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen?"

"Ich höre nicht auf deine Mutter." Er schnaubte. "Wir gehen jetzt sofort zurück. Lass dieses Tablett stehen und komm mit. Was sind das überhaupt für Kleider, die du da trägst? Du siehst fürchterlich aus."

"Ich werde nicht zurückkommen", sagte ich. "Ich bleibe hier. Und du kannst mich nicht davon abhalten. Ich bin erwachsen."

"Nur weil du volljährig bist, bist du noch lange nicht erwachsen. Du gehörst nicht hierher."

Ich verengte die Augen. "Ich komme nicht mit dir mit."

"Ich stelle dir auch die virtuelle Realität wieder an", stellte mein Vater mir in Aussicht, aber ich schüttelte nur den Kopf.

"Die virtuelle Realität ist mir scheißegal. Ich schlafe lieber auf der Straße als erneut in der Nähe von Lilium Publishing zu sein." 

Er biss sich auf die Unterlippe. Damit hatte er nicht gerechnet. Für ihn war meine Flucht wohl eine Art jugendliche Protestaktion gewesen, die schlussendlich nichts bedeutete. Aber für mich war es mehr so was wie der Ausbruch aus einem Gefängnis gewesen, einem Gefängnis, in dem man mich ungerechtfertigt festgehalten hatte. Und ich würde nicht zurück gehen. Da konnte er machen, was er wollte. 

"Dann lasse ich dich mitnehmen." Mein Vater wedelte mit der Hand und seine beiden Wachmänner griffen nach mir, je einer nach einem meiner Arme. Das Tablett fiel auf den Boden und es klirrte, als die Gläser in Scherben zersprangen. Ich versuchte, mich aus dem Griff der beiden Männer zu befreien, vergeblich. Sie zogen mich hinter Javier Terrell her aus dem Café.

"Damit wirst du nicht durchkommen!", brüllte ich. "Das ist gegen das Gesetz!"

Er drehte sich zu mir um. Auf seinen Lippen lag der Anflug eines hämischen Lächelns, doch der Rest seiner Mimik verriet seine wahren Gefühle: Ihm gefiel diese Situation hier genau so wenig wie mir. "Glaubst du, dass das Gesetz mich interessiert, Aramis?", fragte er. "Ein Wort von mir und ich kann den Ruf jedes Richters für den Rest seines Lebens zerstören. Niemand wird es wagen, sich mit mir anzulegen."

"Ich werde das Unternehmen zerstören, wenn ich es geerbt habe", drohte ich. "Außer du lässt mich sofort gehen."

Er lachte nur. "Das wirst du nicht tun. Du hast bestimmt keine große Lust, dich von einer wütenden Menschenmenge töten zu lassen. Wenn du den Leuten Lilium Publishing nimmst, dann nimmst du ihnen jegliche Bildung und ihre einzige Informationsquelle."

"Weißt du, was du Mom angetan hast?", fragte ich bissig. "Und mir?"

Er sah mich nicht mehr an. Ohne zu antworten beschleunigte er seinen Schritt. 

Wir kamen viel zu bald beim Hauptgebäude von Lilium Publishing an. Ich wurde hineingebracht, hoch in mein altes Zimmer, und dann schloss Javier Terrell die Tür hinter mir ab. 

"Ich werde mich rächen!", brüllte ich. "Ich werde mich rächen!"

Wenn Lily jetzt hier gewesen wäre, dann hätte ich ihr gesagt, dass sie recht gehabt hatte. Mit ihrem Hass auf Javier Terrell, mit ihrer Meinung, dass man sich an ihm rächen musste. 

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Die Tage in meinem Zimmer dauerten viel zu lang. Man ließ mich nicht raus, brachte mir nur zweimal am Tag Essen rein. Ich aß gerade genug, um nicht zu verhungern, den Rest ließ ich jeweils stehen. In Gedanken plante ich meine Rache an Javier Terrell, die Rache für alles, was er mir und Lily angetan hatte. 

"Aramis?" Jemand klopfte an der Zimmertür.

"Was?", fragte ich matt. Meine Wut hatte sich inzwischen in Resignation verwandelt und manchmal erwischte ich mich selbst beim Wunsch, einfach zu sterben.

"Deine Mutter hat mich überredet, dich rauszulassen. Aber du musst im Gebäude bleiben", hörte ich die Stimme meines Vaters von der anderen Seite der Tür.

Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Ich wartete, bis mein Vater gegangen war, dann öffnete ich die Tür und ging auf direktem Weg zu den Kabinen, um in eine virtuelle Welt zu flüchten. Ich war ein wenig überrascht, dass die Kabinen wieder eingeschaltet waren - scheinbar wollte mein Vater mir wirklich keinen Grund mehr geben, wegzulaufen. 

Dass ich trotzdem noch von hier weg wollte, schien er nicht zu wissen. Oder es interessierte ihn einfach nicht. Aber mir sollte es recht sein. Ich flüchtete in eine meiner virtuellen Welten, sprang immer wieder von so hoch wie möglich hinunter. Irgendwie gelang es mir, mich damit abzulenken, zumindest für diesen einen Tag. Der Wunsch nach Rache blieb. Ich schmiedete einen Plan nach dem anderen, aber vorerst scheiterten alle daran, dass ich das Haus nicht verlassen durfte. 

Vielleicht würde ich einfach ausbrechen, dachte ich irgendwann. Zum zweiten Mal.


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