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"Aramis Terrell, sofort in mein Büro."

Ich ignorierte die Stimme meines Vaters, die aus den Lautsprechern schallte, und surfte weiter durch die Straßen meiner digitalen Welt. 

"Aramis Terrell!" 

Die Stadt um mich herum wurde schwarz, dann wurde ich mit einem unangenehmen Ruck zurück in die Realität gerissen. Mein Vater - oder einer seiner Angestellten - hatte mir den Stecker gezogen!

Wütend stapfte ich aus der Kabine - und sah direkt in die blauen Augen von Javier Terrell, Geschäftsführer von Lilium Publishing. "Hallo", sagte er trocken. "Hast du mich nicht gehört?"

"Gehört schon", murmelte ich. 

"Hast du deine Tante auf die Idee gebracht, mit mir über deine ... Freundin zu reden?" Er stemmte die Arme in die Seiten. "Sie war nämlich gestern da." 

Ich hätte gar nicht mehr zurückkommen sollen. "Ich habe versucht, es ihr auszureden. Aber sie wollte nicht auf mich hören", verteidigte ich mich. 

"Na ja, was mir eigentlich viel wichtiger ist: Was haben du und dieses Mädchen während der Ausgangssperre zusammen draußen gemacht?" Seine Stimme, seine ganze Körperhaltung strahlten unterdrückte Wut aus. Ich konnte sehen, wie sehr er sich um Beherrschung bemühte - und wie wenig es ihm gelang. 

"Sie wollte gerade nach Hause gehen."

"Natürlich wollte sie das." Er glaubte mir nicht, das war offensichtlich. "Warum triffst du dich noch mit diesem Mädchen, Aramis? Ich habe es dir verboten. Macht es dir Spaß, dich meinen Regeln zu widersetzen?"

"Ich habe mich nicht mit ihr getroffen!" Nun wurde ich ebenfalls wütend. 

"Darum wart ihr auch zusammen bei deiner Tante." Er verdrehte die Augen. 

"Das war ein Zufall. Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen und ich habe ihr geholfen, weil ich nicht wollte, dass sie verhaftet wird."

"Nette Ausrede. Aber ich glaube dir nicht. Du hast Hausarrest, Aramis. Bis du mir die Wahrheit sagst. Und das Manuskript dieses Mädchens wird verworfen - jetzt, da ich dank deiner Tante ihren Namen kenne." 

Ich biss die Zähne zusammen. "Mach das nicht. Bitte." Wie oft hatte ich diese Worte in den vergangenen zwei Tagen eigentlich ausgesprochen? "Ihre Mutter hat nicht genügend Geld. Sie wirft Lily raus, wenn sie keine Zusage kriegt."

"Tja, deine Lily hat sich das selbst eingebrockt", sagte mein Vater kalt. "Sie ist selbst Schuld, wenn sie sich weiterhin mit dir trifft."

"Lily weiß nicht, wer ich bin!" Ich schrie inzwischen so laut, dass das ganze Haus es hören musste. "Ich habe es ihr nie gesagt!"

Einen Moment lang sah er mich mit ausdruckslosem Gesicht an, dann begann er, zu lachen. Es war kein fröhliches Lachen, sondern klang trocken und wütend. "Du schämst dich für mich?", unterstellte er mir.

Ich senkte den Blick. "Nein, tue ich nicht", murmelte ich, nun ein wenig kleinlaut. "Ich wollte nur nicht, dass sie ... mich so sieht wie der Rest der Gesellschaft."

Mein Vater schnaubte. "Der Rest der Gesellschaft kann dir egal sein, Aramis! Du bist besser als sie. Die sind alle nur neidisch."

"Neidisch auf was? Darauf, dass ich irgendwann das Unternehmen erben darf? Darauf, dass ich Geld habe? Darauf, dass ich nicht das Leben führen kann, das ich eigentlich führen will? Ich würde auf der Stelle mit jedem dieser Leute, die deiner Meinung nach neidisch auf mich sind, tauschen. Entschuldige mich." Ich ging an meinem Vater vorbei, steckte den Stecker der Kabine wieder in die Steckdose und verzog mich dann in eine virtuelle Welt. 

Er machte keine Anstalten mehr, mich zu stören oder mit mir reden zu wollen. Als ich irgendwann spätabends in die Realität zurückkehrte, stand er nicht mehr vor der Tür. 

Mir sollte es recht sein. 

.

.

.

Ich hatte Hausarrest. 

Vielleicht dachte Javier Terrell, dass das eine gute Strafe für mich war. Allerdings wusste er nicht, dass ich das Haus ohnehin so selten verließ, dass es für mich kaum einen Unterschied machte. Gut, meine Arbeit im Chinas Café nicht mehr zu haben, ärgerte mich. Aber alles in allem war der Hausarrest nicht so schlimm, wie mein Vater vielleicht gedacht hatte. 

Nun verbrachte ich einfach einen Tag nach dem anderen in meinen virtuellen Welten, verließ die Kabine nur, um zu essen, zu trinken und aufs Klo zu gehen, und selbst meine Mahlzeiten ließ ich mir aufs Zimmer bringen, um ja nicht zu riskieren, meinem Vater über den Weg zu laufen. 

So verstrichen zwei Wochen, Tag um Tag, bis er beschloss, meinen Hausarrest aufzuheben. Er schien immer noch wütend auf mich zu sein, denn er sagte es mir nicht einmal persönlich, sondern teilte es mir über einen Angestellten mit. 

Das erste, was ich tat, war, die lange Treppe (die vom obersten Stock bis zum Erdgeschoss führte und Ausgänge auf jedem Stockwerk hatte) hinunterzurennen, das Gebäude zu verlassen und erst einmal tief Luft zu holen. Danach rannte ich weiter, weg vom Sitz von Lilium Publishing  - der gleichzeitig mein Wohnort war -, in die Richtung, in der das Chinas Café lag. In Gedanken war ich die ganze Zeit bei Lily. Ich musste sie sehen. Ich musste ihr erklären, warum sie eine Absage bekommen würde. Und ich musste ihr sagen, sie solle sich ein Pseudonym zulegen und niemandem verraten, was ihr richtiger Name war. 

Und ich musste ihr sagen, sie solle sich von mir fernhalten. Ein für alle Mal. Was sie nach meiner Erklärung ihrer Absage wahrscheinlich ohnehin tun würde. Aber trotzdem. 

Keuchend blieb ich vor der Tür des Cafés stehen. Ich zögerte einen kurzen Moment, sah durch die großen Fenster nach drinnen - und sah Lily. 

Sie saß an dem Tisch, an dem sie immer saß. Sie hatte den Kopf gesenkt, sodass die blonden Haare ihr ins Gesicht fielen, und auch wenn ich keine Tränen sehen konnte, verriet mir ihre ganze Körperhaltung, dass sie hemmungslos weinte. 

China saß neben ihr und sah nicht weniger unglücklich aus. 

Ich wusste sofort, was passiert war. Mein Vater hatte seine Drohung wahrgemacht, noch früher als ich es vermutet hatte. Am liebsten wäre ich umgedreht und weggerannt, hätte mich zurück in die virtuelle Realität geflüchtet, wo solche Dinge nicht vorkamen. Aber stattdessen blieb ich nur wie angewurzelt stehen, unfähig, meinen Blick von Lily und China zu lösen. 

Plötzlich sah Lily hoch - und ihr Blick traf meinen.

Ich hielt die Luft an.

Sie verengte die Augen. Was machst du hier?, formten ihre Lippen.

Ich zwang mich, mich aus meiner Starre zu lösen, stieß die Tür des Cafés auf und ging hinein. "Es tut mir leid", war das Erste, was ich sagte.



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