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Ich war völlig erledigt. Ich konnte verstehen, warum mein Vater nie Zeit für etwas anderes als seinen Job gehabt hatte - Lilium Publishing verlangte vierundzwanzig Stunden Arbeit am Tag. Warum ich mich überhaupt noch um das Unternehmen kümmerte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich nur, um meine Mutter davon abzuhalten, sich etwas anzutun.
Mein Erpresser hatte gesagt, dass es einige Tage dauerte, bis der Strom wieder da war, und so wartete ich. Die Frage, ob mein er recht hatte, hielt mich nächtelang wach. Ich hatte gewusst, dass mein Vater Dinge getan hatte, für die er seine Gefängnisstrafe wirklich verdiente, aber dass er zu so etwas fähig wäre, fiel mir immer noch schwer zu glauben. Mom ging ihn zwei Mal im Gefängnis besuchen, ich kam nicht mit. Am liebsten wollte ich ihn nie wieder sehen.
Ich wäre gerne in meine virtuellen Welten geflohen und dort geblieben, vor allem jetzt, da der Stromverbrauch scheinbar keine Rolle mehr spielte, aber ich hatte keine Zeit. Ich arbeitete nur noch, delegierte Aufgaben, koordinierte die Verteilung von Informationen, gab Interviews. Ein Interview nach dem anderen. Alle wollten wissen, wer der Nachfolger von Javier Terrell war - vor allem, da ich mich früher praktisch nie an der Öffentlichkeit gezeigt hatte.
Am liebsten hätte ich allen gesagt, dass es ohnehin egal war. Dass es nur noch Tage dauern konnte, bis der Strom wieder da war und niemand mehr über Lilium Publishing sprach - außer vielleicht über seinen Gründer als den Kriminellen, der ihnen den Strom abgedreht hatte.
Die Veröffentlichung von Lilys Buch hatte ich absagen müssen. Sie war ein wenig enttäuscht gewesen, aber wenn der Strom erst einmal wieder da war, konnte sie ihr Buch ohnehin im Internet veröffentlichen. Es war besser für alle, wenn Lilium Publishing nicht mehr die Macht besaß, die es jetzt hatte. Außer vielleicht für mich. Und ziemlich sicher für meinen Vater. Aber er saß ohnehin im Gefängnis, deswegen war es egal.
Und ich wusste nicht einmal, was ich bevorzugte. Ich würde mir einen Job suchen müssen, vielleicht stellte der Laden, in dem Lily arbeitete, mich ein. Lily selbst hatte mir bereits angeboten, dass ich bei ihr wohnen konnte, und auch wenn ich das Angebot gerne aus Höflichkeit abgelehnt hätte, wollte ich nicht wieder auf der Straße leben. Vor allem nicht, wenn rauskam, dass mein Vater allen den Strom abgestellt hatte und manche Leute mir unterstellten, ich hätte mit ihm unter der sprichwörtlichen Decke gesteckt.
Wenn es rauskam. Ich würde garantiert niemandem davon erzählen. Mein Vater war mit dem Verlust des Unternehmens, um das er so hart gekämpft hatte, schon genug gestraft. Ich wollte gar nicht wissen, was passierte, wenn er mitbekam, dass der Strom zurück war. Und wie meine Mutter reagierte. Ich hatte ihr nichts erzählt.
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Ich machte mich gerade fertig, um zum Gerichtsprozess von China und ein paar der anderen Gefangenen meines Vaters zu gehen, als ich von draußen einen gedämpften Lärm hörte.
Ich ging zum Fenster und sah heraus. Auf den Straßen mehrere Stockwerke unter mir drängten sich die Leute um ein Hochhaus - dessen Werbetafel in bunten Farben leuchtete. Es war nicht die Einzige. In mehreren Fenstern brannte Licht, von irgendwo her kam leise Musik.
Der Strom war wieder da.
Obwohl ich wusste, dass ich losmusste, konnte ich meinen Blick kaum vom Fenster lösen. Leute rannten durch die Straßen, Handys oder andere Mobilgeräte in der Hand, irgendjemand schob sein Elektroauto zur nächsten Tankstelle. Die Musik wurde aufgedreht und ein paar Menschen tanzten, jubelten, feierten, während andere immer noch dastanden und sich mit großen Augen umsahen.
Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte. Ich hatte es die ganzen Tage vorher schon nicht gewusst.
Mein Erpresser hatte recht gehabt. Mein Vater hatte allen Leuten den Strom abgestellt. Der Gedanke verstörte mich.
Ich zwang mich, den Blick vom Fenster abzuwenden und mich auf dem Weg zu machen. Nicht zum Gerichtsgebäude, der Prozess würde heute wahrscheinlich ohnehin nicht stattfinden. Ich ging zu Lily.
Sie öffnete mir die Tür, kaum hatte ich geklopft.
"Der Strom ist wieder da! Du hast es geschafft!", begrüßte sie mich. "Der alte Fernseher hier in meiner Wohnung läuft wieder, dabei habe ich nicht einmal etwas dafür bezahlt!"
Sie zog mich hinter sich her in die Wohnung. Aus dem Wohnzimmer kamen gedämpfte Stimmen, wahrscheinlich von dem gerade erwähnten Fernseher. Als wir den Raum betraten, sah ich, dass eine fremdsprachige Sendung lief, wahrscheinlich aus Amerika; Lily hatte die deutschen Untertitel eingeschaltet.
"Ursachen dafür sind uns nicht bekannt", sagte eine der beiden Personen - wahrscheinlich Nachrichtensprecher - im Fernsehen. "Europa hat es uns damals mit der zu hohen Gefahr des Betriebs von Atomkraftwerken erklärt. Aber nun scheinen sie ihre Meinung geändert zu haben."
"Das hat man uns damals auch erzählt", meinte Lily. "Ich habe es nie hinterfragt. Dein Vater scheint ein guter Lügner zu sein."
Ich starrte den Fernseher an. Die andere Person, eine blonde Frau, wandte sich nun der Kamera zu. "Wir können auf jeden Fall froh sein, dass in Europa und Afrika der Strom wieder da ist. Wir sind uns sicher, dass es auch positive Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben wird."
Lily schaltete um - und ihr fiel beinahe die Fernbedienung aus der Hand. Einer der alten deutschen Fernsehsender schien bereits wieder in Betrieb genommen worden zu sein.
Die Aufnahme war verschwommen und zu dunkel, die Kameraführung amateurhaft, aber man erkannte zwei Männer, die in die Kamera sahen.
"Der Strom ist wieder da", sagte der eine. "Nachforschungen darüber werden noch angestellt. Auch darüber, ob die Rückkehr des Stroms eine Gefährdung für uns darstellt."
"Dieser Fernsehsender wird von nun an wieder laufen und Ihnen die neuesten Nachrichten in der Sache übermitteln", sagte der andere.
Lily und ich sahen uns an.
"Das geht so schnell", sagte ich.
"Bist du froh darüber?", fragte sie.
"Keine Ahnung. Schon. Ich hoffe einfach, dass es nie jemand rausfindet."
Sie nickte. Einen Moment lang saßen wir so da, dann drückte sie mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. Kaum hatte sie sich von mir gelöst, zog ich sie wieder zu mir heran und küsste sie länger.
Was das zwischen uns jetzt war ... ich wusste es nicht. Es fühlte sich seltsam an, so normal in einer Wohnung zu sitzen und sich zu küssen, zusammen fernzusehen, bald zusammen zu wohnen. Ich hatte das Gefühl, sie musste mich noch immer als Lügner sehen, als jemanden, der sie wahnsinnig enttäuscht hatte. Aber scheinbar war das zwischen uns jetzt wirklich so etwas wie normal.
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