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"Lass uns China besuchen gehen", sagte Lily irgendwann. Der erste Schnee in diesem Jahr war in dieser Nacht gefallen, hatte die Stadt in kaltes Weiß getaucht, und wir hatten selbst unter unseren beiden Decken unaufhörlich gefroren. Wahrscheinlich ging es ihr weniger um China als um die Wärme ihres holzofenbeheizten Cafés und - auch wenn sie das nie zugegeben hätte - die Aussicht, vielleicht einen Cappuccino spendiert zu bekommen.
Ich willigte nur zu gerne ein. Ich selbst hatte schon die ganze Zeit vorgeschlagen, doch mal wieder im Café vorbeizuschauen, aber Lily hatte immer nur den Kopf geschüttelt. Wieso, wusste ich auch nicht.
Ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht, als wir unsere Seitengasse verließen, obwohl ich glaubte, dass mich inzwischen ohnehin niemand erkannt hätte. Ich war schmutzig, von oben bis unten, und die andauernde Müdigkeit hatte ihre Spuren in meinem Gesicht und meiner Körperhaltung hinterlassen. Dennoch wollte ich das Risiko nicht eingehen.
Auf dem Weg verloren mir mehrmals die Orientierung, mein Handy hatte ich schon längst entsorgt, damit man mich nicht orten konnte. Doch schließlich fanden wir das Café.
Ich erwartete, dass Lily zögerte, Anstalten machte, umzudrehen, aber sie ging zielgerichtet zur Tür und klopfte.
Es dauerte einige Sekunden, bis China öffnete. Sie sah Lily, blinzelte ein paar Mal, sah zu mir hinüber - und fiel Lily dann um den Hals. "Du lebst noch!", rief sie. "Ich hatte gedacht, du seist schon lange tot."
"Tut mir leid", murmelte Lily. "Ich wollte dir nicht mehr zur Last fallen."
China schüttelte den Kopf. "Was für eine dumme Entscheidung."
Sie standen sehr lange da, schienen sich gar nicht mehr loslassen zu wollen. Ich fühlte mich fehl am Platz, wäre am liebsten weggegangen, wusste aber nicht, wohin.
Doch dann löste sich China von Lily und kam auf mich zu. Sie umarmte mich kurz und lächelte mich an. "Danke", sagte sie. "Du scheinst gut auf sie aufgepasst zu haben."
"Na ja, wahrscheinlich wäre ich ohne sie gar nicht am Leben geblieben", erwiderte ich. Schließlich war Lily es gewesen, die unser Geld verdient hatte, ich selbst hatte mich seit dem Einschalten der Werbebildschirme nicht mehr auf die Straße getraut.
"Wie auch immer", sagte China. "Kommt rein. Ich mache euch einen Kaffee und etwas zu essen. Ihr habt freie Auswahl. Was wollt ihr?"
Wir folgten ihr ins Café. Es musste Samstag sein, denn fast alle Tische waren besetzt. Einige Leute drehten sich zu uns um, als wir hineinkamen, und ich senkte den Blick. Wir mussten fürchterlich aussehen, aber darum ging es mir gar nicht. Ich wollte nur immer noch nicht, dass mich jemand erkannte.
China führte uns zu einem freien Tisch. Ich zögerte einen Moment, bevor ich mich hinsetzte - ich stank bestimmt und passte mit meiner zerlumpten Kleidung, die ich in den vergangenen Monaten kein einziges Mal gewaschen hatte, nun wirklich nicht in dieses Café hier. Aber China schien das egal zu sein.
"Was darf ich euch bringen?", fragte sie.
"Einen Cappuccino mit süßer Sahnehaube", antwortete Lily sofort, so als hätte sie sich diese Antwort schon im Voraus zurechtgelegt. "Und wenn es dir nichts ausmacht ... ein Stück richtiges Brot."
Sie war dünn geworden, genau wie ich. Sie war zuvor schon an der Grenze des Untergewichts gewesen, aber nun zeichneten sich ihre Rippen deutlich unter ihrem T-Shirt ab. Wir hatten nicht viel zu Essen gehabt.
"Natürlich. Aramis, was möchtest du?" China lächelte mich an.
"Einen Kaffee. Schwarz, bitte", sagte ich. "Und vielleicht auch ein Stück Brot."
"Kommt sofort." China verschwand. Einige anderen Gäste schnipsten mit den Fingern, wollten bestellen oder verlangten die Rechnung, aber sie ignorierte sie. Es dauerte nicht lange, bis sie mit unserer Bestellung zurückkam, zwei Tassen und einem ganzen Korb Brot. Heißer Dampf stieg vom Kaffee auf.
Sie stellte alles neben uns und Lily und ich griffen gleichzeitig nach dem Brot. Sie biss in ihr Stück als hätte sie seit Monaten nichts mehr zu essen gehabt, und wahrscheinlich tat ich das Gleiche. In den nächsten Minuten waren wir so mit Essen und Trinken beschäftigt, dass China erst einmal die anderen Gäste bediente, bevor sie zu uns zurückkam.
"Darf ich euch noch etwas bringen?", fragte sie. Wir hatten den Brotkorb geleert, auch unsere Kaffeetassen waren nur noch zur Hälfte voll.
"Nein, danke", sagte ich. Ich wollte nicht unhöflich wirken.
"Noch einmal einen Korb Brot. Bitte." Lily streckte ihr den leeren Korb hin. "Ich zahle auch."
"Kommt gar nicht in Frage. Sonst noch etwas? Ein Stück Schokoladenkuchen?", fragte China.
Lily nickte zögerlich, war sich offensichtlich nicht sicher, ob sie das Angebot annehmen sollte. "Gerne."
"Für mich auch?", rutschte es mir heraus. "Also nur, wenn es dir nichts ausmacht."
China lachte. "Ich gehe noch bankrott wegen euch." Wir alle wussten, dass sie nur versuchte, die seltsame Stimmung zu überspielen, aber Lily und ich fielen gleichzeitig mit ein. Es war besser, zu lachen, als schweigend dazusitzen und darüber nachzudenken, wie ausgehungert wir waren.
China verschwand wieder und Lily seufzte. "Ich hasse meinen Stolz", sagte sie.
Wir hatten viel gehasst in den letzten Monaten, und ich hatte es satt. Aber als ich in diesem Moment einen Schluck von meinem Kaffee nahm, hasste ich Lilys Stolz auch, weil wir schon viel früher hierher hätten kommen können, wenn er nicht gewesen wäre.
.
Als wir fertig gegessen hatte, zog China einen Stuhl heran und setzte sich zu uns. Sie schaute Lily an.
"Ich habe eine Wohnung für dich gefunden", sagte sie.
Lily verschluckte sich am letzten Schluck ihres Kaffees. "Was?", keuchte sie. "Das meinst du nicht ernst."
"Doch. Eine Freundin von mir wollte ihre Wohnung verkaufen ... und sie hat mir einen Sonderpreis gemacht", erklärte China.
"Das hättest du nicht tun müssen."
"Ich wollte es aber tun." China wies mit der Hand auf Lily. "Sieh dich an. Du bist ja nur noch Haut und Knochen in zerlumpter Kleidung."
Lily sah an sich herunter und biss sich auf die Unterlippe. "Aber das hat dich doch Geld gekostet."
China winkte ab. "Das Café läuft ganz gut im Moment. Ich kann es mir leisten. Aramis, was dich betrifft ..."
"Für mich hast du keine Wohnung, nehme ich an." Ich versuchte, zu lachen, aber es gelang mir nicht.
"Nein. Und Lilys ... na ja, ihr könntet schon beide darin wohnen, aber sie ist klein. Sie hat nur ein Schlafzimmer. Ich weiß nicht, wie sehr ihr beide ..."
"Wir kommen miteinander aus", unterbrach Lily China. "Aber wenn ich die Wahl habe, schlafe ich lieber nicht mehr mit ihm unter einer Decke."
"Dann willst du mich einfach aussperren? Und mich weiter alleine auf der Straße leben lassen?", fragte ich ein wenig schockiert.
Lily sah China an. Zögerte. Es war ihr anzusehen, dass sie lieber alleine wohnen wollte, dass sie lieber ohne unsere Diskussionen über Javier Terrell und Lilium Publishing und ohne die angespannte Stimmung zwischen uns leben wollte. Aber es war ihr auch anzusehen, dass sie nicht schuld daran sein wollte, wenn ich da draußen starb. Wenn ich verhungerte, weil ich kein Geld verdienen konnte.
"Wir können zusammenwohnen", sagte Lily schließlich. "Aber du schläfst auf der Couch. Ist das okay? Hat die Wohnung überhaupt eine Couch?"
"Ja", sagte China. "Die Wohnung hat eine Couch. Und Aramis, du könntest deine Arbeit im Café wieder aufnehmen. Meinetwegen auch alle Tage die Woche. Du kannst bei Lily duschen, ich finde ein paar Kleider für dich ... dann hat Lily auch die Privatsphäre, die sie tagsüber zum Schreiben braucht. Wenn du willst."
"Gerne", murmelte ich. Die Vorstellung, wieder zu arbeiten, meine Tage endlich wieder mit etwas zu füllen, was Sinn machte, gefiel mir. Auf der Straße hatte ich nichts getan, nichts tun können, hatte Lily tagelang beim Schreiben zugesehen und in Gedanken Listen von potenziellen Verstecken aufgelistet, nur, um etwas zu zu tun zu haben.
"Aber ich kann draußen schlafen", fügte ich etwas resigniert hinzu. Ich wollte Lily das nicht mehr antun, wollte ihr meine Gesellschaft nicht mehr aufdrängen, denn dass sie lieber allein wäre, war offensichtlich.
Lily zögerte.
"Ich schlafe draußen. Es ist in Ordnung. Versuch nicht, mich davon abzubringen. Aber wenn ich ab und zu deine Dusche benutzen dürfte, dann wäre das nett."
"Natürlich." Sie hielt den Blick gesenkt.
Wie sehr ich diese Entscheidung später bereuen würde, wusste ich damals noch nicht.
"Dann zeige ich Lily die Wohnung. Du kannst mitkommen, Aramis", sagte China zu mir. "Okay?"
Zum ersten Mal seit Wochen sah ich Lily lächeln. "Gehen wir."
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