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Als die Sonne aufging, fühlte ich mich als lägen mehrere Tage unangenehmen Schweigens hinter mir. Lily hatte seit unserem kurzen Gespräch am Anfang kein Wort mehr gesagt und ich spürte, wie wütend sie immer noch auf mich war. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen.
Dennoch war ich irgendwie ein wenig ... enttäuscht. Als hätte in dieser Nacht etwas zwischen uns passieren können, etwas, das eigentlich gar nicht passieren durfte, aber das trotzdem schön gewesen wäre. Etwas, das mich meinen Job bei China gekostet hätte, und womöglich sogar mein Erbe, wenn mein Vater schlecht drauf gewesen wäre. Wobei mir Letzteres ganz recht gewesen wäre.
Lily stand auf. "Danke", sagte sie knapp. Sie verließ das Wohnzimmer gerade, wollte gehen, ohne sich zu verabschieden, als ich die Stimme meiner Tante hörte.
"Möchtest du einfach so gehen? Bleib doch noch zum Frühstück! Wenn Aramis schon einmal ein Mädchen mitbringt, dazu noch kein reiches Mädchen, dann kann ich doch nicht so unhöflich sein." Sie wirkte wesentlich besser gelaunt als letzte Nacht.
"Sie ist nicht meine Freundin!", rief ich.
"Genau!", bestätigte Lily.
"Papperlapapp. Welchen Grund hättest du denn sonst, sie mitten in der Nacht hierher zu schleppen?", rief meine Tante zu mir zurück. Dann wandte sie sich an Lily. "Setz dich doch wieder hin. Ich mache Frühstück."
"Ich sollte wirklich ...", begann Lily, aber meine Tante unterbrach sie sofort wieder: "Du machst mir doch keine Umstände! Ich freue mich, dass Aramis endlich einmal eine vernünftige Entscheidung getroffen hat. Jetzt geh und setz dich hin."
Lily versuchte nicht mehr, zu widersprechen. Sie kam ins Wohnzimmer zurück, den Blick auf den Boden gerichtet, und setzte sich wieder an ihr Ende des Sofas.
.
Beim Frühstück eine halbe Stunde später herrschte unangenehmes Schweigen. Sie aß nichts, starrte nur die Brötchen an, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben ein Brötchen gesehen, und schien auf ihrem Stuhl unsichtbar werden zu wollen. Meine Tante sah zwischen uns hin und her und schüttelte den Kopf.
"Ihr redet ja gar nicht! Habt ihr euch gestritten oder so?"
"Kann man so sagen", sagte Lily mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
"Das hat sicher wieder was mit deinem Vater zu tun, Aramis, nicht wahr? Will er nicht, dass du ein armes Mädchen nach Hause bringst? Na warte, dem werde ich eine Standpauke halten." Meine Tante strich so energisch Butter auf ihr Brötchen, dass sie es beinahe zerriss.
"Bitte nicht." Als meine Tante meinem Vater das letzte Mal eine Standpauke gehalten hatte, hätte sie damit fast die Ehe meiner Eltern zerstört. Die Situation zwischen Lily und mir war schon schlimm genug, sie musste es nicht noch schlimmer machen.
"Oh doch. Gleich heute gehe ich bei ihm vorbei und sage ihm, Javier, auch wenn du ein ..."
"Nein, das wirst du nicht tun!", unterbrach ich sie, bevor sie riesengroßes Medienunternehmen oder so was in der Art sagen konnte, was meine wahre Identität verraten hätte. "Lass es sein. Ich komme klar. Ich werde mit ihm reden."
Zum ersten Mal seit sie an diesem Tisch saß, sah Lily von ihrem Teller auf, schaute mich an und zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: Ach wirklich?
Ich versuchte, den Kopf so zu schütteln, dass meine Tante es nicht bemerkte, aber es misslang.
"Eben, du sagst es ja selbst, du wirst es nicht tun. Also werde ich es für dich übernehmen, wenn du mal wieder zu feige dafür bist. Keine Widerrede", sagte sie.
Lily sah aus als würde sie jeden Moment beginnen, zu weinen. "Bitte tun Sie das nicht", sagte sie zu meiner Tante. "Wir regeln das zwischen uns."
"Ihr werdet gar nichts regeln. Und jetzt iss dein Frühstück." Meine Tante legte ihr ein Brötchen auf den Teller und schob die Marmelade näher zu ihr.
Zögerlich begann Lily, zu essen. Ich sah ihr an, dass sie sich alles andere als wohl fühlte.
"Tante, bitte ...", wagte ich einen letzten Versuch, aber sie schnitt mir das Wort ab: "Doch."
Dieses eine Wort genügte, um mich zum Schweigen zu bringen. In Gedanken sah ich schon vor mir, wie sie und mein Vater sich stritten. Ich würde den heutigen Tag irgendwo in der Stadt verbringen, irgendwo anders als in der Nähe der beiden - ich wollte das wirklich nicht miterleben.
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Als meine Tante Lily und mich endlich entließ, rannte Lily beinahe aus der Tür. Ich versuchte nicht, ihr zu folgen; am liebsten hätte ich sie nie wieder gesehen. Nicht nach dem, was meine Tante zu meinem Vater sagen würde.
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