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Nach unserer Diskussion am Morgen verbrachte Lily den Rest des Tages mit Schreiben. Ich versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen, aber sie hatte mir den Rücken zugedreht und versteckte jede Seite, so bald sie sie geschrieben hatte.

Nur zwei Worte konnte ich einmal sehen, bevor sie mich wieder wegscheuchte und mich böse anfunkelte: Javier Terrell.

"Lily?" Ich versuchte, beiläufig zu klingen.

"Was?" Sie hatte ihre Schreibmaschine weggepackt und lehnte an der Wand hinter ihr.

"Was schreibst du über meinen Vater?"

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. "Du bist so ein Stalker."

"Es hat mich nur interessiert, was du schreibst", verteidigte ich mich. "Außerdem geht es mich ja wohl etwas an, wenn du ihn schlechtmachst."

"Javier Terrell hat es verdient, dass man ihn schlechtmacht. Er hat mich Schlampe genannt. Die Leute sollten wissen, was das für ein Mensch ist, der da die Kontrolle über alle Informationen in dieser Stadt hat", sagte sie hinter zusammengebissenen Zähnen.

"Mein Vater würde nie irgendeine Information absichtlich verfälschen!"

Sie drehte sich von mir weg und legte sich auf den Boden. "Warum bist du eigentlich weggelaufen, wenn du so überzeugt von ihm bist? Von mir aus kannst du gerne zu ihm zurück gehen. Vielleicht überredest du ihn ja sogar, dass er deine virtuelle Realität wieder einschaltet." Bissigkeit und offensichtlicher Hass lagen in ihrer Stimme; ob sich der Hass gegen mich oder gegen meinen Vater richtete, konnte ich nicht sagen.

Ich setzte zu einem Versuch an, mich zu verteidigen, sah aber im selben Moment ein, dass es keinen Zweck hatte. Also legte ich mich neben Lily auf den Boden, ignorierte meinen knurrenden Magen und versuchte, einzuschlafen.

Natürlich gelang es mir nicht.

"Lily?", flüsterte ich irgendwann. "Hast du noch von deinem Kaltbrot?"

"Hab ich. Ist in meinem Koffer, bedien dich", erwiderte sie, ebenfalls im Flüsterton.

Es überraschte mich nicht, dass sie noch wach war. Die Straße war kein angenehmer Schlafplatz, und es war erst unsere zweite Nacht. Die Vorstellung, den Rest meines Lebens in Seitengassen zu schlafen, mich vor der Polizei zu verstecken und mit leerem Magen rumzulaufen, jagte mir immer mehr Angst ein, je länger ich darüber nachdachte.

Schnell setzte ich mich auf und kroch zu Lilys Koffer hinüber, damit ich etwas zu tun hatte. Ich öffnete den Reißverschluss und zögerte einen Moment, aber sie hatte schließlich gesagt, ich solle mich bedienen, also durchwühlte ich ihre Kleidung, um schließlich die angebrochene Packung Kaltbrot zu finden. Ich brach ein Stück der klumpigen Masse ab, steckte es mir in den Mund und schluckte es so schnell wie möglich hinunter, um es nicht schmecken zu müssen.

"Nicht zu viel. Hol dir selbst was, wenn du noch Hunger hast", knurrte Lily. Sie hatte die Augen geöffnet, beobachtete mich.

Ich stopfte die Packung zurück in den Koffer und schloss ihn, mein Magen fühlte sich jetzt nur noch leerer an. Ein Seufzen unterdrückend legte ich mich zurück auf den Boden, sah hoch zum bewölkten Himmel und versuchte, nicht an Mom zu denken. Nicht an das Gebäude von Lilium Publishing mit all seinen Vorzügen und Bequemlichkeiten.

Aber eigentlich dachte ich an nichts von beidem.

Eigentlich dachte ich an meinen Vater, an die Person, die Lily auf der ganzen Welt am meisten hasste.

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Ich glaube, dass ich irgendwann kein Zeitgefühl mehr hatte. Die Tage vergingen einfach so, wir schliefen, Lily schrieb, ich starrte die Wand an, irgendwann einmal wechselten wir unser Versteck, suchten uns eine neue Seitengasse aus. Als Lilys Kaltbrot aufgegessen war, setzte sie sich auf die Straße, um zu betteln, manchmal setzte ich mich neben sie - die Kapuze meines Pullis tief ins Gesicht gezogen - und sang. Wir verdienten etwas Geld, nicht viel, aber es reichte zum Überleben. Es reichte für Kaltbrot, Wasser und irgendwann eine Decke, als die Nächte kälter wurde. Nur eine Decke, musste man sagen.

Ich wollte sie entzwei schneiden, aber da wir keine Schere auftreiben konnten, teilten wir sie uns schlussendlich einfach, ich lag am einen Ende, sie am anderen. Die Stimmung zwischen uns war in Ordnung, zum Teil angespannt, zum Teil geprägt von Diskussionen. Wenn wir diskutierten, dann drehten wir uns im Kreis, ich hasste Lilium Publishing, sie hasste meinen Vater. Wir waren wütend, ich ziellos, sie arbeitete den ganzen Tag.

Ich versuchte nie, sie vom Schreiben dieses Buches abzuhalten, hoffte nur, dass sie keine Möglichkeit finden würde, es zu veröffentlichen. Manchmal verschwand sie einen halben Tag, um Jobs zu erledigen, ging Hunde ausführen oder Babysitten oder so, wobei ich bezweifelte, dass irgendeine Mutter ein zerlumptes Mädchen von der Straße auf ihre Kinder aufpassen ließ. Sie legte einen Teil des Geldes für die Veröffentlichung beiseite, vom anderen kaufte sie Papier, Tinte, Kaltbrot, Wasser und irgendwann eine zweite Decke.

Als wir dann trotzdem froren, legten wir uns dennoch zusammen unter beide Decken, zuerst noch mit so viel Abstand zwischen uns wie möglich, später dicht beieinander, um uns warm zu halten.

An den Wänden hingen Plakate mit einem Bild von mir und meinem Namen, irgendwann ließ mein Vater sogar die Werbescreens wieder einschalten, um die Plakate dort zu zeigen. Sie liefen eine Woche, dann wurden sie wieder ausgeschaltet, wahrscheinlich, weil sich selbst Lilium Publishing den Strom nicht leisten konnte.

Lily beendete die erste Fassung ihres Manuskripts. Wir wechselten unser Versteck ein zweites Mal. Wir redeten nicht viel, aber unser Schweigen wurde immer weniger unangenehm. Das Diskutieren gaben wir irgendwann auf.

Der Winter kam, manche Menschen hängten Weihnachtsbeleuchtung auf, die sie nicht einschalteten; Lichterketten hingen in den Bäumen wie abstrakte Kunstobjekte. In den Jahren zuvor hatte ich mich darüber lustig gemacht, nun wirkte es nur noch traurig. Lily beendete die zweite Fassung ihres Manuskripts, führte noch mehr Hunde aus. Ich ging nicht mehr auf die Straße, um zu singen, aus Angst, erkannt zu werden.

Lily versuchte, Musik zu machen, aber es gelang ihr nicht. Sie setzte sich mit ihrer Schreibmaschine an den Straßenrand, bot an, auf Auftrag Gedichte zu schreiben, nahm aber wieder nichts ein. Wahrscheinlich traute niemand es einem Mädchen mit wirrem Haar, löchriger Kleidung und schmutzigem Gesicht zu, ein Gedicht zu schreiben. Sie war frustriert, wütend. Einmal kam die Diskussion auf, andere ... Leistungen anzubieten, um Geld zu verdienen, aber ich brachte sie davon ab. Schon allein bei der Vorstellung wollte ich kotzen.

Ich dachte mehr als einmal darüber nach, zurückzukehren. Wieder bei Lilium Publishing angekrochen zu kommen, mich bei meiner Mutter und meinem Vater zu entschuldigen. Aber jedes Mal kam ich zu dem Schluss, dass es das nicht wert war. Dass ich mein Leben auf der Straße zwar hasste, dass es aber immer noch besser war, als meine Tage hinter den goldenen Gitterstäben von Lilium Publishing zu verbringen.


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