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Lily saß neben mir in der engen Seitengasse, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen. Ich sah, wie sie mich aus dem Augenwinkel beobachtete, reagierte aber nicht darauf. In Gedanken war ich bei meinem Bett zu Hause, bei Mom und Dad. Ich wusste, dass Lily über meine Gedanken gelacht hätte, aber wahrscheinlich vermisste sie ihr Zuhause insgeheim genau so sehr wie ich meines.
Ich versuchte, auf dem Boden eine halbwegs bequeme Schlafposition zu finden, aber es gelang mir nicht. Es war hart, und es stank. Es wäre gelogen gewesen, wenn ich behauptet hätte, dass ich meine Entscheidung, wegzulaufen, nicht bereute. Aber es wäre auch gelogen gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich bereit wäre, zurückzukehren.
Lily neben mir schniefte. "Dein Vater wird uns umbringen", sagte sie leise. Sie hatte sich noch immer nicht hingelegt, sondern saß einfach da, ihre beiden Gepäckstücke neben sich.
Ich hätte gerne widersprochen, aber ich war mir nicht einmal sicher, ob sie nicht tatsächlich recht hatte. Mein Vater hatte ihr bereits Konsequenzen angedroht, wenn sie sich noch einmal mit mir traf, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er tolerierte, dass wir zusammen auf der Straße lebten.
"Vielleicht", sagte ich deswegen, was sie nicht gerade zu beruhigen schien. Aber ich hatte ihr gesagt, dass ich sie nicht mehr anlügen würde, und ich würde dieses Versprechen halten. Wenn ich ihr Vertrauen ein zweites Mal brach, dann würde ich mich bald allein auf der Straße wiederfinden.
Es dauerte eine Weile, bis Lily sich neben mich legte. Auch sie schien zuerst nach einer geeigneten Schlafposition zu suchen, aber schließlich blieb sie einfach auf dem Rücken liegen und sah zu dem Stück Sternenhimmel hoch, das zwischen den beiden Häusern neben uns zu sehen war.
Ich glaube, wir lagen bis zum Sonnenaufgang und dem Ende der Ausgangssperre schweigend nebeneinander.
Erst als der Himmel über uns sich orange färbte, setzte ich mich auf. Mein Rücken tat weh - etwas anderes war gar nicht zu erwarten gewesen - und ich sehnte mich nach dem Hauptsitz von Lilium Publishing mit seinen weichen Betten, großen Fenstern und seinem warmen Essen. Nach der Dusche, die auf Knopfdruck anging. Wie würden wir duschen? Was würden wir essen? Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, auf der Straße zu leben, hatte keine Sekunde daran gedacht, als ich weggerannt war.
Lily neben mir stöhnte und richtete sich ebenfalls schwerfällig auf. "Guten Morgen", murmelte sie.
"Guten Morgen." Ich fuhr mir durch die Haare, die bestimmt in alle Richtungen abstanden. "Hast du irgendwas zu essen mitgenommen?"
"Ein Stück Kaltbrot. Das ist alles. Den Rest werden wir uns kaufen müssen", erwiderte sie mürrisch.
Ich verzog das Gesicht beim Gedanken an Kaltbrot. Ich hatte es bisher erst einmal gegessen, es in einem Supermarkt gekauft, weil ich es hatte probieren wollen, und es schmeckte nicht einmal wie richtiges Brot. Aber ich konnte es mir wohl nicht leisten, wählerisch zu sein.
"Hast du schon einmal daran gedacht, die Stadt zu verlassen?", fragte Lily plötzlich.
Ich runzelte die Stirn. "Die Stadt verlassen? Und woher willst du wissen, was da draußen passiert? Selbst Lilium Publishing hat nur wenig Informationen darüber. Alles, was wir wissen, ist, dass der Rest der Welt auch keinen Strom hat und an vielen Orten Krieg herrscht."
Sie nickte. "Das habe ich auch gehört. Aber wenn ich jemandem kein Wort mehr glaube, dann ist es Lilium Publishing. Kann doch sein, dass Javier Terrell einfach ein Machtproblem hat und sich als einziges Medienunternehmen des Kontinenten aufspielen will ..."
"Ich kenne all diese Verschwörungstheorien, Lily", seufzte ich. "Mein Vater ist nicht so schlimm wie du denkst. Das Problem ist Lilium Publishing."
"Lilium Publishing ist kein Mensch, Aramis", sagte Lily. "Es ist nur ein Name, unter dem dein Vater ein riesiges Unternehmen aufgebaut hat, das alle Informationen in unserer Stadt kontrolliert. Javier Terrell ist es, der hinter allem steckt. Er ist es, der die Kontrolle darüber hat."
"Vielleicht hast du recht. Aber Lilium Publishing ist trotzdem schuld an allem. Ohne Lilium Publishing würde mein Vater dir wahrscheinlich nicht einmal verbieten, mit mir zusammen zu sein. Javier Terrell kann wenig dafür. Er versucht einfach nur, sein Unternehmen zu schützen und für die Zukunft der Stadt zu sorgen."
Sie schnaubte. "Jetzt versuchst du auch noch, ihn zu verteidigen. Er hat mein Leben zerstört und du nimmst ihn in Schutz. Ich frage mich wirklich, warum ich mich darauf eingelassen habe, mich mit dir zusammenzuschließen."
"Er versucht nur, sein Unternehmen zu schützen", wiederholte ich meine Worte von vorhin erneut, unfähig, andere Argumente zu finden. "Lilium Publishing ist das Problem. Wenn Lilium Publishing nicht wäre, dann hättest du keine Probleme mit meinem Vater."
"Aramis, dein Vater ist Lilium Publishing. Es gibt keinen Unterschied."
Ich seufzte. "Einigen wir uns einfach darauf, dass Lilium Publishing viel kaputt gemacht hat", sagte ich.
Sie nickte. "Gut."
Dann schwiegen wir. Dieses andauernde Schweigen zwischen uns ging mir langsam auf die Nerven.
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