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Ich mochte die Nacht. Ich mochte sie fast so sehr wie meine Arbeit im Chinas Café. Nachts war ich ein Niemand. Nicht der Sohn eines der reichsten und am meisten kritisierten Männer des Kontienten, sondern einfach nur eine beliebige Person, die kurz vor der Ausgangssperre einen Spaziergang unternahm. Oder auch kurz nach der Ausgangssperre. Das war eines der wenigen Dinge, die ich an meiner Position mochte - niemand hätte sich jemals mit Javier Terrell angelegt, denn Javier Terrell konnte einen mit einem bloßen Befehl an einen seiner Angestellten in der Luft zerreißen und einen Ruf mit wenigen Sätzen für immer ruinieren.
Das war auch der Grund, warum immer wieder Kritik an ihm laut wurde. Und gleichzeitig der Grund, warum ihn diese Kritik nicht interessierte.
Versteht mich jetzt nicht falsch, mein Vater nutzte seine Stellung nicht aus. Das dachten vielleicht viele, aber es war nicht wahr. Er versuchte immer, in seinen Zeitungen die Wahrheit zu veröffentlichen. Alles, was er herausgab, wurde davor mindestens fünf Mal von verschiedenen Personen - die zum Teil er selbst und zum Teil der Staat angestellt hat - kontrolliert und korrigiert.
Die Leute interessierte das nicht. Die sahen nur, dass ein einziger Mann alle Fäden in der Hand hielt, was die Veröffentlichung von Informationen betraf, und das gefiel ihnen gar nicht. Wäre das Internet noch allen Menschen zugänglich gewesen, hätte es jetzt wahrscheinlich Seiten voller Verschwörungstheorien gegeben, aber in einer Welt ohne Strom blieb alles relativ ruhig - abgesehen davon, dass mein Vater inzwischen extra Angestellte hatte, die durch die Stadt gingen und die Plakate mit Protesten gegen ihn abrissen. Nach der Ausgangssperre, damit niemand ihm Zensur vorwarf.
An ein paar dieser Angestellten, nicht mehr als gesichtslose Leute in Uniform, ging ich nun vorbei. Als sie mich erkannten, nicken sie mir zu und ich ließ ein kurzes Hallo fallen, bevor ich weiterging. Abgesehen von den Angestellten war niemand mehr unterwegs. Das war es, was ich so an der Zeit nach der Ausgangssperre mochte.
Was ich hingegen gar nicht mochte, waren die Polizisten, die hin und wieder hinter einer Hausecke hervorspähten, um zu überprüfen, dass auch niemand mehr auf der Straße war. Aber nach ein paar Hinweisen auf die Möglichkeiten von Javier Terrell ließen auch die mich inzwischen in Ruhe. Für mich galt die Ausgangssperre nicht mehr.
Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich mir vorstellte, in den Fenstern der Hochhäuser würde noch Licht brennen, wie ich in Gedanken bunte Werbung auf die leeren Werbebildschirme projizierte, wie ich mir die Scheinwerfer eines nahenden Autos ausmalte. Wie ich mir wünschte, der Strom wäre nie ausgefallen. Denn dann wäre ich wirklich das gewesen, was ich mir in diesen Nächten zu sein ausmalte - ein ganz normaler siebzehnjähriger Junge.
Ich schreckte aus meinen Gedanken, als mich jemand fast umrannte.
"Tschuldigung", murmelte sie mit einer Stimme, die mir auf Anhieb bekannt vorkam, und verschwand in der Dunkelheit der stromlosen Nacht.
"Warte!" Ich setzte ihr nach. Ich war schneller als sie, deutlich schneller, und trotz der schlechten Sicht bekam ich sie nach wenigen Sekunden am Arm zu fassen. "Psst", zischte ich.
Lily sah mich aus großen Augen an, der Mond ließ ihr Gesicht blasser wirken als es eigentlich war. "Aramis?", zischte sie halb überrascht, halb wütend.
Ich nickte. "Wenn du nicht verhaftet werden willst, dann sei still."
Während ich sie hinter mir herzerrte, in die Richtung der Wohnung meiner Tante, die in der Nähe lag, fragte ich mich, warum ich ihr eigentlich schon wieder half. Wenn sie verhaftet und eingesperrt worden wäre, wäre ich damit ein großes Problem losgeworden.
Ein Problem, das ich nie gehabt hätte, hätte ich sie damals gar nicht erst angesprochen.
Aber mir war das völlig egal. Ich wollte nicht, dass Lily eingesperrt wurde, egal, wie beschissen ich sie behandelt hatte. Oder vielleicht genau darum. Weil ich sie beschissen behandelt hatte und es irgendwie wiedergutmachen wollte. Also zerrte ich sie nur so schnell und leise wie möglich durch die Nacht, bis wir bei dem Hochhaus ankamen, wo meine Tante wohnte.
Ohne zu zögern drückte ich den Hebel hinunter, der die mechanische Klingelvorrichtung für den vierten Stock betätigte. Als kleines Kind war ich von dieser Klingelvorrichtung immer ganz fasziniert gewesen. Wenn man unten den Hebel betätigte, wurde an einem Seil gezogen, das wiederum eine Kugel aus einer Vorrichtung in der Wohnung fallen ließ. Die Kugel rollte dann wiederum eine Bahn hinunter und betätigte dabei eine Glocke, die als Klingel funktionierte. Früher war ich stundenlang davor gesessen und hatte gewartet, bis jemand klingelte, damit ich die Kugel beobachten konnte.
Nun war ich nur genervt davon, dass dieses Haus hier keine elektronische Klingel besaß, und drückte den Hebel gleich mehrmals in Folge herunter, um meine Tante wachzuklingeln. Dann wartete ich, drückte mich neben Lily an die Hauswand und atmete tief durch. Neben mir hörte ich sie keuchen; ob vor Anstrengung oder vor Angst wusste ich nicht.
Es dauerte ein wenig und ich wollte schon erneut klingeln, da wurde die Tür geöffnet. "Hallo?", hörte ich die Stimme meiner Tante und trat hastig hervor.
"Hallo!", begrüßte ich sie überschwänglich und ein wenig zu laut. "Ich habe eine Freundin mitgebracht, die eigentlich nicht mehr draußen sein sollte. Kann sie zu dir kommen, bis die Ausgangssperre vorbei ist? Sonst wird sie verhaftet."
Die betagte Dame seufzte. "Du klingelst mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf und lässt mich drei Treppen runterlaufen, um mich dann zu bitten, eine Verbrecherin bei mir aufzunehmen? Ihr Terrells glaubt wohl, ihr könntet euch alles erlauben."
"Bitte. Es ist nur für diese eine Nacht." Den Kommentar zu meinem Vater ignorierte ich gekonnt.
"Es war ein Versehen", flüsterte Lily hinter mir, die nun auch ein wenig hervorgetreten war und meine Tante schüchtern ansah. "Es wird kein zweites Mal vorkommen."
Meine Tante ging auf sie zu und musterte sie von oben bis unten. Ungefragt griff sie nach dem Saum ihres Pullis und befühlte ihn; ich konnte einige kleineren Löcher erkennen. Dann nahm sie Lilys Arm und drehte ihn hin und her. Lily sah mich mit verwirrtem Blick an.
"Du hast dir ein armes Mädchen geangelt?" Meine Tante ließ Lilys Arm los und ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, ob sie das nun gut oder schlecht fand.
"Sie ist nicht meine Freundin. Wir sind nicht ... zusammen. Sie ist nur eine Freundin", stellte ich richtig.
"Ich glaube nicht mal, dass ich ihn wirklich noch meinen Freund nennen würde", kam es scharf von Lily. "Obwohl er neuerdings zu meinen scheint, er müsste mich vor einer Verhaftung schützen."
Meine Tante sah zwischen uns hin und her und zuckte dann mit den Schultern. "Meinetwegen", sagte sie. "Aber du bleibst hier. Du übernimmst die Haftung für dieses Mädchen."
Lily sah mich an als wüsste sie nicht, wie sie mich einschätzen sollte, als sie meiner Tante ins Haus folgte. Am liebsten wollte ich ihr erklären, dass ich gute Gründe hatte für alles, was ich zu ihr gesagt hatte, obwohl ich meine Worte bereute. Ja, das wollte ich ihr auch sagen, dass ich sie nie hatte beleidigen wollen. Dass es mir einfach ... rausgerutscht war, weil ich so verzweifelt darum bemüht gewesen war, meinen Job zu behalten.
Aber kein Wort kam aus meinem Mund. Mit dieser Aktion heute Nacht war ich schon wieder zu weit gegangen.
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