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Als Lily das Café verließ, einen Koffer und eine Tasche in den Händen, und mich neben der Tür lehnen sah, sah sie gar nicht begeistert aus.
"Was machst du hier?", zischte sie.
"China hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen. Dummerweise sitze ich seit heute auch auf der Straße", erwiderte ich.
"Du sitzt auf der Straße?" Sie begann zu lachen. "Aramis Terrell, der Sohn des reichsten Mannes der Welt, sitzt auf der Straße? Wie hast du das denn angestellt?"
"Ich bin weggelaufen. Mach dich nicht darüber lustig." Ich merkte, wie ich selbst wütend wurde.
Sie lachte nur noch lauter. "Weggelaufen? Wieso? Hat Mami nicht dein Lieblingsessen gekocht?"
Wenn ich mich je gefragt hatte, ob sie noch wütend auf mich war, dann hatte sich diese Frage spätestens jetzt beantwortet - ja, sie war wütend. Wahnsinnig wütend. Und wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich auf der Stelle einen halben Kilometer Abstand zwischen uns gebracht. Aber ich hatte es China versprochen, und ich konnte es mir nicht leisten, die Besitzerin des Cafés ein zweites Mal zu verärgern.
"Ich bin weggelaufen, weil sie mir die virtuelle Realität abstellen wollten. Meine letzte Fluchtmöglichkeit", versuchte ich deshalb, möglichst sachlich zu erklären.
Lily lachte nur noch mehr. "Das ist ja noch besser."
Ich fand das gar nicht lustig. "China hat mir aufgetragen, auf dich aufzupassen. Aber wenn du so weitermachst, dann lasse ich dich einfach hier draußen sterben", drohte ich. Ich meinte es nicht ernst, aber das brauchte Lily ja nicht zu wissen.
Sie hörte auf zu lachen, und für einen kurzen Moment sah ich die Angst in ihrem Gesicht, bevor sie sich wieder fing und mich wütend ansah. "China hat dir aufgetragen, auf mich aufzupassen?", wiederholte sie in einem spöttischen Tonfall. "Du kannst wahrscheinlich nicht einmal virtuelle Verbrecher bekämpfen."
"Hör auf, Lily." Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Wir müssen hier draußen überleben. Ich kann es nicht brauchen, dass du auf mir herumhackst."
Sie funkelte mich wütend an. "Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du mich angelogen hast. Ich jedenfalls verzichte gern auf deine Gesellschaft, vielen Dank auch. Sag China, ich würde gut allein zurechtkommen."
Mit diesen Worten drehte sie mir den Rücken zu, hob ihren Koffer und ihre Tasche vom Boden auf und entfernte sich von mir. Ich setzte ihr nach und hielt sie am Arm fest, bevor ich überlegen konnte, dass das vielleicht keine allzu gute Idee war.
"Lass mich los." Sie versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien, aber ich hielt sie fest.
"Gib mir eine Nacht", sagte ich. "Eine Nacht, damit ich China sagen kann, ich hätte es versucht."
"Du hast es schon versucht", presste sie hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie nach mir trat, mich aber verfehlte. "Und jetzt lass mich los."
"Vielleicht brauche ich dich ja!" Ich wurde immer lauter. "Vielleicht will ich ja nicht alleine auf der Straße schlafen! Vielleicht hast du ja recht und ich komme nicht einmal gegen virtuelle Verbrecher an. Aber man überlebt allein da draußen nicht lange."
"Zu zweit wahrscheinlich auch nicht."
Ich stöhnte. Wie würde ich sie überzeugen können, mir eine Chance zu geben? Denn jetzt, wo ich mit der Diskussion angefangen hatte, würde ich garantiert keinen Rückzieher mehr machen - außerdem gefiel mir die Vorstellung, allein auf der Straße zu schlafen, mit jeder Minute, in der es dunkler wurde, weniger.
"Vielleicht schon", versuchte ich es noch einmal. "Ich werde dich nicht mehr anlügen, Lily. Gib mir eine Chance. Zu zweit haben wir viel größere Überlebenschancen als alleine."
Sie sah mich an, in ihren Augen glitzerten Tränen. "Du hättest mir einen Verlagsvertrag besorgen können", sagte sie, und ihre Stimme zitterte. "Du hättest verhindern können, dass ich überhaupt erst auf der Straße landet. Aber du hast es vorgezogen, dass ich nicht weiß, wer du bist, weil du eine Pause davon gebraucht hast, Aramis Terrell zu sein oder was weiß ich. Weil du eine Pause davon gebraucht hast, alles zu haben, was sich ein Mensch wünschen kann. Was weiß ich. Du bist so was von egoistisch."
"Ich habe es versucht!", schrie ich. "Ich habe versucht, dir einen Verlagsvertrag zu besorgen! Deswegen hat mein Vater ja überhaupt erst von dir erfahren! Und ich habe dich angelogen, weil ich mich in dich verliebt hatte. Und nicht wollte, dass du nur wegen meinem Geld oder meinem Status mit mir zusammen bist."
Sie schwieg. Sah mich an, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich die Wahrheit sagte. Die Stille zwischen uns war bedrückend, schien mir den Atem rauben zu wollen.
Dann seufzte sie. "Ich weiß einfach nicht, ob ich dir je wieder irgendetwas glauben kann." Sie versuchte erneut, ihren Arm aus meiner Umklammerung zu befreien, und dieses Mal ließ ich sie los. "Aber wenn uns nichts anderes übrig bleibt, dann werde ich dir wohl vertrauen müssen. Wahrscheinlich hast du recht und wir sind zu zweit auf der Straße besser dran als allein."
Ich versuchte, zu lächeln, aber es gelang mir nicht ganz. "Gut. Dann suchen wir uns einen Ort zum Schlafen. Ich weiß, wo die Polizei nach der Ausgangssperre nicht unterwegs ist."
Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen. Wischte sich eine Träne von der Wange. "Jetzt sind wir also schon Kriminelle, die sich vor der Polizei verstecken", sagte sie.
Ich nickte, und die Vorstellung machte mir größere Angst als das Leben auf der Straße selbst. "Ja."
Um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, ging ich an ihr vorbei. "Gehen wir", sagte ich. "Wir müssen einen Platz zum Schlafen finden. Und lass mich dir deine Tasche abnehmen."
Sie zögerte kurz, dann streckte sie mir den Griff des Koffers entgegen. Ich nahm ihn ihr aus der Hand und zog das Gepäckstück, das leichter war als ich erwartet hatte, hinter mir her, während wir durch die Stadt gingen.
Einer der potenziellen Schlafplätze, die mir einfielen, lag ganz in der Nähe.
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