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Ich ging durch die menschenleeren Straßen einer Stadt, Hochhäuser mit bunten Werbetafeln links und rechts von mir. In den Fenstern brannte Licht, alle paar Meter beleuchtete eine Straßenlaterne den Weg. Dennoch konnte ich die Sterne über mir sehen, so klar als wären sie nur wenige Meter von mir entfernt. Der Mond war nur eine kaum sichtbare Sichel, aber ich vergrößerte ihn mit einer Handbewegung, bis an das Maximum, das die virtuelle Welt zuließ. Dann schaltete ich mit einem Sprachbefehl die Straßenlaternen, Werbetafeln und beleuchteten Fenster aus, sodass nur noch der Mond die Stadt in ein milchig weißes Licht tauchte. 

Mit einer weiteren energischen Handbewegung ließ ich eine Treppe vor mir entstehen, die sich hoch in die Luft wand. Mit jedem Schritt wurde sie länger, formte sich auf meine Befehle hin, und bald war ich höher oben als die höchsten Wolkenkratzer. 

Ich sah auf die Stadt hinunter, die still und dunkel da lag, während ich weiterging, schneller wurde, irgendwann ins Rennen verfiel. Die Treppe hielt mit mir mit, formte eine neue Stufe unter meinen Füßen, jedes Mal, wenn ich schon dachte, einen Schritt ins Leere zu machen. Ich erreichte die Grenze der Stadt und machte eine scharfe Kurve, während ich gleichzeitig das Licht wieder anschaltete. Ich war langsam ohnehin näher an den Sternen als an den Lichtern der Stadt dran. 

Außer Atem wurde ich langsamer, die Treppe unter meinen Füßen wurde zu einer Plattform. Gedanken über Lily drohten, sich in meinen Kopf zu schleichen, Gedanken, die ich nicht einfach kontrollieren konnte wie alles andere hier. 

Ich ließ die Treppe zu einem Surfbrett werden, nur, dass ich nicht auf Wasser surfte, sondern auf Luft. Mit ausgestreckten Armen ging ich in den Sturzflug, um das Brett dann wieder steil nach oben zu reißen, einmal, zweimal, dreimal. Die Stadt flog unter mir vorbei, aber die Erinnerung an Lilys Gesicht, ihre braunen Augen, die mich verständnislos ansahen, ließ mich nicht los. 

Ich ließ mein Surfbrett anhalten, verwandelte es wieder in eine Treppe und stieg so hoch hinauf wie es die virtuelle Realität zuließ.

Dann blieb ich stehen, atmete tief durch und sprang. 

Ich flog durch die Luft nach unten, der Boden kam innerhalb von Milisekunden näher, und ich schloss die Augen, froh, einen Moment lang nicht an Lily zu denken, sondern nur an dieses Fallen, diesen Sturz, den 

Aufprall. 

Mit einem schmerzhaften Ruck landete ich zurück in der Realität. Die roten Warnlichter der VR-Kabine leuchteten und ein Angestellter öffnete die Tür, bevor ich es tun konnte. 

"Mr. Terrell Senior lässt sie benachrichtigen, Sie sollen bitte keine virtuellen Selbstmordversuche mehr unternehmen", sagte er. "Falls sie unbedingt fallen wollen, haben die Kabinen Bungeejumping und Fallschirmspringen im Angebot."

Ich verdrehte die Augen. Ich wollte weder Bungee- noch Fallschirmspringen. Ich wollte nicht vorprogrammiert fallen, sondern so, dass es mir zumindest einen Moment lang echt vorkam. So, dass die Warnlichter leuchteten und mein Vater mir sagte - oder mich benachrichtigen ließ - ich würde eines Tages noch einen Defekt bei der Kabine auslösen. 

Ja, neuerdings ließ er mich schon benachrichtigen, statt persönlich mit mir zu reden. Er hatte eine Menge zu tun. Oder vielleicht wollte er sich auch einfach nicht mehr anhören, wie sehr ich Lilium Publishing hasste. 

"Das Abendessen wäre übrigens bereit, Mr. Terrell", teilte mir der Angestellte mit, bevor er wieder ging. Mein Kopfschütteln konnte er nicht mehr sehen. Ich wollte kein Abendessen. Abendessen bei uns war ekelhaft. Ich meine, ich wusste auch so schon, dass mein Dad so ziemlich der reichste Mensch des Kontinenten war. Er musste mir das nicht noch extra demonstrieren, indem er Kaviar und exotische Früchte von was weiß ich wo importieren ließ. 

Kurzerhand entschied ich mich, das "Abendessen" heute ausfallen zu lassen, und verzog mich wieder in meine VR-Kabine, wo ich den Rest des Abends verbrachte. Das mit dem freien Fall ließ ich für heute sein, weil ich keine Lust auf eine Standpauke meines Vaters hatte. Dafür klickte ich mich im Schnelldurchlauf durch alle verfügbaren virtuellen Welten, bis mir ganz schwindlig war und ich deswegen nicht mehr an die hübsche Schriftstellerin aus dem Chinas Café denken musste. 

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