Flucht
Mittags. Ich kam gerade aus der Schule und war nur noch etwa 150 Meter vom Quartier entfernt, als ich abrupt stehen blieb. Vor dem Gebäude standen fünf oder sechs Polizeiautos. Sie konnten erst in den letzten zehn Minuten gekommen sein, denn es schneite stark und es waren noch Autospuren zu erkennen. Aus der Ferne erkannte ich, dass einige Personen aus dem Haus geführt wurden. In einem Auto, soweit ich es erkennen konnte, saßen mehrere Kinder, auch Joos war unter ihnen. Er saß an der Scheibe des Autos und ich sah, wie er die Straße suchend abguckte und mich fast im gleichen Moment entdeckte. Er schaute sich flüchtig um, dann sprang er aus dem Auto und wollte wegrennen. Doch Joos hätte sich einen anderen Moment suchen müssen, einen, in dem nicht so viele Polizisten rumstanden. Ein Polizist schnappte sich ihn nach nur 5 Metern und versuchte, den sich heftig wehrenden Jungen festzuhalten. Wir hatten gelernt, uns gegenüber der Polizei nicht zu wehren, meistens war das besser. Zwar hatte Joost einige Kampftechnicken gelernt und war wendiger als der Polizist, aber dem eilte noch ein zweiter zu Hilfe und zusammen hielten sie meinen kleinen Bruder am Boden fest. Er trat mit Schnee um sich, doch die zerrten ihn zu einem der Polizeiautos und drückten ihn in den Sitz. Gerade als sie die Tür zuschlugen schrie er „Luke". Schnell zog ich mich in den Schatten der Wand zurück, ich wollte nicht riskieren, dass die Polizisten mich auch noch sahen. Das zurückziehen hatte mich aus meiner Starre gelöst und ich begann, wieder nachzudenken. Tja, aus dieser Situation ging er nicht als Sieger hervor, außerdem konnte ich ihm nicht helfen. Er war zwar mein Bruder, aber ich hatte nie große Gefühle für ihn gehabt, genauso wenig wie für alle anderen Menschen die ich kannte. Ich verhaarte noch einen Moment bewegungslos, um zu hören ob sich mir Schritte näherten, dann schlich ich mich weg. Wir waren verraten worden! Ich überlegte nicht lange und rannte los in den Wald. Ich brauchte meine Sachen!
Die Deckung der Häuser nutzend erreichte ich den Wald ungesehen. Ich lief querfeldein durch das Unterholz zur Rückseite des Hauses. Der Schnee rutschte mir in die Stiefel, doch ich achtete nicht darauf, ich musste meinen Computer und die Waffen aus meinem Zimmer holen - bevor die anfingen das Haus zu durchsuchen! Meine Chancen standen noch recht gut. Ich ereichte die Rückseite des Hauses und warf meine Schultasche in den Schnee. Dann guckte ich nach einer Regenrinne. Zwei Meter von mir entfernt wurde ich fündig. Mich nahe an der Hauswand haltend rannte ich dorthin und begann an ihr hochzuklettern. Sie war von außen ein wenig verreißt und zweimal wäre ich fast abgerutscht, konnte ich aber so gerade halten und weiterklettern. Dank meines guten Trainings erreichte ich schnell das dünne Vordach und legte mich flach auf den Bauch. Nachdem ich mich orientiert hatte stand ich auf und schwang mich noch etwas höher, aufs Dach. Ich lief geduckt am Rand des steilen Daches entlang, damit mich aus den anderen Fenstern niemand sehen konnte. Es war eine waghalsige Sache, denn ich konnte schnell auf dem Schnee, der die Ziegeln bedeckte ausrutschen und vier Meter runterfallen. Doch ich lief weiter, bis ich auf der höhe meines Fensters war. Ich legte mich an den Rand und guckte in meinen Raum. Das Zimmer war leer. Zum Glück war mein Fenster auf kipp, weshalb ich durch die Öffnung greifen konnte, den Griff umdrehte und es aufbekam. Leise glitt ich ins Zimmer und rollte mich nach hinten ab. Auf dem Flur hörte ich näherkommende Stimmen. Schnell stand ich auf und schnappte mir verschiedene Sachen. Ich zog einen Rucksack unterm Bett hervor und stopfte alles hinein, auch meinen Labtop. Schließlich öffnete ich noch den Waffenschrank, nahm die Messer und steckte sie in meine Jackentasche. Ich hörte, wie im Nebenraum die Tür geöffnet wurde. Schnell schloss ich den kleinen Schrank, schulterte den Rucksack und rannte zum Fenster. Bis zum Boden waren es vier Meter. Die Schritte gingen aus dem Nebenraum raus, in Richtung meiner Tür. Ich schwang mich auf die Fensterbank und warf meinen Rucksack aus dem Fenster. Er schlitterte runter, rutschte über die Regenrinnen und landete dumpf im Schnee – hoffentlich hatte der Laptop überlebt! Nun rutschte ich aus dem Fenster, schlitterte das kurze Dach runter und sprang an der Regenrinne ab. Ich merkte, wie Adrenalin durch meinen Körper schoss, vier Meter war ich noch nie gesprungen. Der weiche Schnee dämpfte meinen Aufprall und ich rollte mich geschickt ab, weshalb ich mich unverletzt aufrichtete. Erleichtert atmete ich aus. Schnell stand ich wieder auf, schnappte mir meinen Rucksack, rannte zu meiner Schultasche, riss sie im laufen hoch und spurtete in den Wald, um schnell Deckung zu kriegen. Der Schnee würde meine Spuren sehr schnell verwischen und dank der dicht fallenden Flocken sah man mich nach 15 Metern im Wald nicht mehr. Mein Vorsprung würde reichen, mich hatte niemand gesehen. Vermutlich guckten die gerade aus dem offenen Fenster. Die würden sich zwar denken, dass ich das war, konnten es aber nicht mit Sicherheit sagen und außerdem wussten die nicht, was ich mitgenommen hatte. Der Schnee, der beim Abrollen unter meine Klamotten gerutscht war, fing an zu schmelzen und lief mir in den Nacken, unangenehm den Rücken runter. Trotzdem lief ich weiter. Ich lief einen Bogen zurück zur Vorderseite des Hauses und stand wieder ca. 200 Meter vor dem Gebäude, allerdings im Schatten einer Hauswand. Ein Auto war weggefahren, allerdings waren einige der Leute dort aufgeregt, denn sie liefen eilig hin und her. Ohne noch einen einzigen Augenblick zu zögern wandte ich mich ab, der Ort meiner Kindheit hatte ab jetzt keine Relevanz mehr für mich, jetzt ging es darum, mich nicht erwischen zu lassen.
Ich lief Richtung Bahnhof, dort würde ich die nächste Bahn nehmen und dann gucken, dass ich zum Flughafen kam. Unterwegs machte ich noch an einer Telefonzelle stopp und rief Leon an. Da ich möglichst schnell weg musste und er gerade einen Pass und ein Visum für Amerika hatte, willigte ich ein, nach Amerika abzuhauen war vielleicht etwas übertrieben, aber so hatte ich wenigstens erstmal genug Abstand, um nachzudenken, was ich machen wollte. In meiner Tasche hatte ich vom letzten Auftrag noch genug Bargeld, um Leon zu bezahlen. Während des Telefonats fiel mein Blick auf einen großen Restmüllcontainer, einige hundert Meter davor eine Müllabfuhr. Besser konnte es in dieser Situation nicht kommen. Nach dem Gespräch rannte ich zum Container und warf meine Messer da rein, es schmerzte, aber die würde ich eh nicht durch die Sicherheitskontrolle bekommen. Ich schaute auf meine Uhr. Noch zehn Minuten, dann ging eine Bahn, ich musste rennen um den Zug noch zu kriegen. In meinem Kopf hatte ich alle Abfahrten von Bahnen dieser Umgebung und auch, wann sie wo sein würde, gespeichert. Wenn ich diesen Zug bekam, würde ich meinen Flieger bekommen.
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