2.
Jojen roch an dem Mädchen. Es roch nicht wie die, die er kannte. Nicht nach dem Wald. Nein, nach etwas anderem.
Elisa, erinnerte er sich. Ihr Name war Elisa und sie roch gut.
Jojen trat Diablo in die Flanken. Er sollte nicht mit dieser Fremden hier herumlungern. Nicht, wenn die Downer sich noch in der Nähe herumtrieben.
Er wurde erst ruhiger, als er seine Schwester sah.
»Jojen!«, rief sie erfreut, als sie ihm in die wartenden Arme sprang. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter und ihre Arme hatte sie fest um seine Mitte geschlungen. »Du hast lange gebraucht. Und wer ist das? Eine Gefangene des neuen Königs?«, fragte sie, als sie sich von ihm löste.
»Nein, Lilith! Das ist Elisa, sie kommt gerade von unten, wäre beinahe in Leos Gebiet gerannt. Leider hat Niko gedacht, sie wären Downer und hat ein kleines Mädchen von ihnen erwischt.«
»Also ist sie eine Downer!«
»Nein, Lilith, sie hat keine Ahnung von uns oder den Downern. Sie sind die Neuen von unten! Also ist sie nicht unser Feind«, versuchte er ihr zu erklären.
»Ach ja, das hat Leo über Elena auch gesagt! Du weißt, wo uns das hingebracht hat!«
»Elisa ist nicht wie Elena, sie hat keine Ahnung von all dem, was hier vorgeht!«
Lilith schnaubte bloß und verschränkte wie ein bockiges Kind die Arme.
»Und sowas nennt man Kriegerin!«, lachte Jojen, als er kopfschüttelnd zurück zu Diablo lief. Er schwang sich wieder hinter Elisa und trieb sein Pferd so an, dass es in einem langsamen Trab an Lilith vorbeiritt. Diese rief ihm unterdessen einige Schimpfwörter hinterher, die ihn jedoch nicht kümmerten.
Jojen schaute sich um. Poltymore hatte seine Schönheit kein Stück verloren, seit er vor einem Monat gegangen war, um die Mörder seines Vaters zu finden. Die Häuser standen kreuz und quer, dazwischen einige Wagen und Stände. In Poltymore herrschte immer Leben, überall wehten bunte Stoffe umher und es roch nach Essen.
Er sah sogar Kokos Stand. Die alte Frau buk die großen Tscháu Käfer, die sie auf den Feldern und Wiesen der Bauern fand, in Wildbienenhonig. Seine Lieblingssüßigkeit, als er noch klein gewesen war.
Seine treuesten Krieger waren damals mit ihm gekommen, um den Mörder seines Vaters zu finden. Hätte Jojen damals gewusst, was er jetzt wusste, hätte er gar nicht erst losreiten müssen. Auch Lilith hatte mit ihm gehen wollen, doch er hatte jemanden gebraucht, der bei ihrer Mutter blieb.
Die Leute, die bis eben noch laut rufend und lachend über den Platz von Stand zu Stand gewandert waren, drehten sich zu ihm um, als einer erschrocken seinen Titel rief. Einige fielen auf die Knie, andere streckten ihm freudig die Hände entgegen, während sie ihn willkommen hießen.
Er schwang sich von Diablo und half auch Elisa hinunter.
Jojen nickte seinem Volk zu, als er an den Leuten vorbeilief. Einige der Händler, die von außerhalb der Hauptstadt kamen, versuchten, ihm Kostproben von ihrem Fleisch oder ihrer Wolle anzubieten, die er ablehnte.
Er spürte, dass Elisa seine Hand fest drückte, die er ihr gereicht hatte, um ihr von Diablo zu helfen. Erst da fielen ihm die feindseligen Blicke und Beschimpfungen auf, die an sie gerichtet waren. Natürlich hatten seine Leute erkannt, dass Elisa ein Downer war, allein schon ihre Augen hatten sie verraten. Das schöne Grün ihrer beider Iriden. Jeder, der auf der Erde geboren war, hatte eine Mutation: zweifarbige Augen.
Jojen nahm Diablos Zügel und zog Elisa mit sich. Sie hielt sich panisch mit der einen Hand an ihm fest, die andere hatte sie in die Mähne des Pferdes gekrallt.
»Downer«, fauchten einige angewidert und spuckten trotz der Anwesenheit des Königs vor ihr auf den Boden.
Am liebsten wäre sie auf Diablo gestiegen und einfach vor den kalten, hasserfüllten Blicken davongeritten.
Elisa schaute sich um. Die Stadt war nicht, wie sie erwartet hatte, weitläufig und mit steinernen Häusern übersät, so wie sie es aus einem der Geschichtsbücher kannte. Nein, diese Stadt war nicht groß. Ein Turm, der schon halb zerfallen war, stand am äußersten Rand, er erschien wie ein Wächter, der die Einwohner beschützte. Straßen waren nicht vorhanden und ähnelten kein bisschen dem langen Asphaltstreifen, den Elisa in den Büchern gesehen hatte. Es war Dreck, der zu größeren Trampelwegen festgetreten worden war. Die zerfallenen Häuser waren mit Holz ausgebessert worden.
Hier schienen sie im Stadtkern zu sein. Viele Stände waren in einem Kreis angeordnet und genau in der Mitte befand sie sich mit Diablo und Jojen an ihrer Seite. Umringt von einer Menschentraube, die sie feindselig anstarrte. Einige zogen sogar Waffen.
Elisa wich zurück, ihr Rücken drückte sich in Diablos Flanke.
»Polaris!«
»Downer!«
Immer wieder hallten diese Worte in Elisas Ohren nach. Ängstlich krallte sie sich an Jojens Hand fest. Sie folgte ihm und versuchte sich zu verstecken. Sie stolperte hinter ihm her, während er in die Richtung des Turms ging.
Die Leute wurden weniger, desto weiter sie sich vom Markt entfernten. Die Straße wurde immer schmaler, bis die Häuser schließlich verschwanden und nur noch der leicht nach oben führende Trampelpfad vorhanden war. Er wurde von zwei bis auf die Zähne bewaffneten Männern bewacht, die allerdings den Kopf senkten und Platz machten, sobald sie Jojen sahen.
Dieser nickte den beiden zu und führte Elisa weiter den Pfad hoch, bis er in einem großen Platz endete, auf dem der Turm stand. Um ihn herum war ein flaches Gebäude aus Holz gebaut.
Ein Mann kam auf die beiden zu, er trug braune Wollkleidung. Das erste, was Elisa auffiel, war, dass er braune Augen hatte. Nicht wie alle anderen hier zweifarbige, nein, seine Augen waren nur braun.
»Polaris, wie ich sehe, seid Ihr zurück.«
Der Mann verneigte sich tief vor Jojen.
»Benjamin, mein Freund. Darf ich dir Elisa Skylar vorstellen? Sie kommt aus dem Bunker.«
Benjamin schaute sie an und lächelte. »Du bist älter als der Rest. Du hast dich anscheinend gut vor den Wachen versteckt!«
Elisa nickte leicht und streckte Benjamin die Hand entgegen. »Es freut mich, dich kennenzulernen.«
Benjamin ergriff ihre Hand und zog ihre Jacke hoch. Er schüttelte den Kopf, ehe er sie losließ. »Komm, wir müssen dir das hier abnehmen!«
Elisa starrte ihn verwirrt an. Benjamin packte sie einfach am Arm und zog sie hinter sich her in Richtung des Turms.
Jojen musterte die beiden kopfschüttelnd. Er kannte Benjamin schon sehr lange, fast sein ganzes Leben. Er war der Erste von unten gewesen, der je für die Königsfamilie direkt gearbeitet hatte. Und der Einzige, der nach der Krankheit geblieben war, während die anderen in die Wälder geflüchtet waren.
Er zog Diablo mit sich zum Stall, sein Hengst wieherte erfreut und verfiel in einen schnellen Trab. Die anderen Pferde begrüßten ihn aufgeregt wiehernd.
Jojen stellte Diablo in seine Box, nahm ihm das Zaumzeug ab und wusch das Mundstück, danach rieb er ihn noch ab und verließ die Box, um auf den Hof zu treten. Er ging zu dem Brunnen, der hinter dem Turm direkt neben der Weide stand, und holte einen Eimer Wasser hinauf, den er Diablo hinstellte. Dabei wurde er von einem Stallburschen erwischt.
»Polaris, Ihr hättet auch Bescheid sagen können, ich hätte es für Euch erledigt.«
Jojen wand sich unwohl. Er hatte nie der König sein wollen. Sein älterer Bruder Leo hätte den Titel übernehmen sollen, doch dieser hatte sich in dieses Downer-Mädchen Elena verliebt und war mit ihr zu den Downern gegangen. Und er, er hatte die Krone bekommen, die er nie gewollt hatte.
»Ist schon gut, Paul, ich habe es gern gemacht. Und du weißt, dass Diablo sowieso nach jedem anderen schnappt.«
Der Stallbursche nickte bloß und verneigte sich leicht vor Jojen. Dieser machte sich auf den Weg zu dem Turm. Seine Schritte hallten in der Eingangshalle wider.
»Jojen!«
Diese Stimme verursachte ihm ein ungutes Gefühl im Magen. Die Arme seiner Mutter schlangen sich um ihn und er zwang sich, stehenzubleiben, obwohl er sich am liebsten aus ihrer Umarmung gewunden hätte. »Wo sind die anderen?«
Jojen schloss die Augen. Er wusste nicht, wo sie waren. Nymari und Nina waren losgegangen, um die Kleine zu begraben. Und die anderen hatten die restlichen Kinder verfolgt, um sie vor den Downern zu beschützen. Auch wenn das nicht nötig war. Dennoch hatten sie es gemacht. »Sie suchen noch die anderen, die von unten hochgekommen sind.«
»Andere?«
»Oh ja, ich habe eine mitgebracht. Sie ist älter als die anderen, ihr Name ist Elisa.«
»Elisa«, wiederholte sie, ihre Augen blitzten kalt. Die Königin lächelte ein Lächeln, das eher Angst und Panik als Freude barg. »Du magst sie.«
»Ich kenne sie kaum!«, knurrte er und starrte seiner Mutter in das blaue und violette Auge.
Die Königin lachte bloß. »Tu mir nur den Gefallen und mach nicht denselben Fehler wie dein Bruder!«
Jojen nickte seiner Mutter zu. Sie trug ihre langen weißblonden Haare mit den zahlreichen kleinen Zöpfen zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Sie trug ihr blaues Lieblingskleid sowie einen gebogenen Dolch an ihrem breiten Ledergürtel.
»Komm, mein Sohn, erzähl mir, ob du die Downer erwischt hast, die deinen Vater getötet haben!«
Jojen schluckte. Er wollte seine Mutter nicht belügen. Er konnte ihr nicht erzählen, wie Leo ihn angeblickt hatte mit so viel Hass, aber nicht auf ihn.
Was Leo erzählt hatte, lag ihm noch jetzt schwer im Magen ...
Elisa folgte Benjamin die Treppen hinunter. Sie zitterte, wollte nicht wieder unter die Erde.
»Ich weiß, was du denkst«, flüsterte Benjamin ihr zu. »Als ich hierherkam, war ich gerade mal zwei Jahre alt. Der König lebte damals noch und war noch sehr jung. Alric hat mich sowie die beiden, die mit mir hochgeschickt wurden, aufgenommen. Die anderen von unten lebten noch in Frieden mit den Victouryas, sie waren sogar Freunde. Na ja, halbwegs, sie ließen sich in Ruhe.«
Elisa nickte und schaute auf ihre Füße. Sie versuchte, nicht über die steilen Stufen zu stolpern.
»Du hast ganz schön lange überlebt, ohne von den Soldaten gefunden zu werden.«
»Mein Bruder versteckte mich fast immer hinter dem Kleiderschrank, dort war ein kleiner Hohlraum. Den Schrank konnte man nicht bewegen, man kam nur durch die Rückwand nach hinten.«
Er nickte und zog sie immer weiter, bis die beiden unten ankamen. Sie gingen durch einen großen Raum, er war bis auf einige Ketten leer. Der Boden bestand aus Asphalt, zumindest ging sie wegen des grauen Tons davon aus. Elisa bückte sich und strich fasziniert darüber. Der Boden war rau und kalt. Sie lächelte, wusste nicht, warum.
Benjamin räusperte sich. Als Elisa zu ihm aufblickte, hatte der alte Mann ein Lächeln im Gesicht und eine seiner buschigen Augenbrauen war hochgezogen.
»Ich kann nicht sagen, dass ich weiß, wie es dir geht, Elisa. Ich habe schließlich nie die Chance gehabt, meine Eltern so wirklich kennenzulernen. Meine Familie sind diese Menschen hier und nicht die von unten. Sie haben mich aufgezogen, die von unten haben mich nie gewollt! Meine Mutter hat mich, als ich zwei war, den Wachen übergeben, damit ich nach oben geschickt werde.«
Elisa nickte nur zustimmend. Niemand war so alt wie sie, keines von den Kindern, die sie begleitet hatten, hatte je seine Familien so kennengelernt wie Elisa die ihre.
Sie dachte an Andy, an seine Geschichten, die er ihr erzählt hatte, und an ihre Mutter, wie sie Elisa nachts in den Schlaf sang. Und sie dachte an die Erzählungen ihrer Großmutter, die sie allesamt auch nur von ihrer Mutter kannte. Diese wiederum hatte sie von deren Mutter und diese hatte noch zu der Zeit gelebt, als man mehr als nur ein Kind im Bunker haben durfte.
Benjamin streckte ihr seine Hand entgegen. Elisa ergriff sie und er zog sie hoch. Dann ging er zu einer Tür und trat eine Stufe nach oben in einen kleinen Raum. Dieser war bis auf einen Tisch und zwei Stühle leer.
Benjamin bückte sich und zog etwas unter seinem Tisch hervor.
»Was ist das?«, fragte Elisa und musterte das Metallding.
»Setz dich.«
Elisa folgte seiner Anweisung mit einem unguten Gefühl.
Benjamin zog den anderen Stuhl an sie heran und setzte sich ihr gegenüber. Er griff nach ihrem Arm und drehte ihn so, dass Elisa die Unterseite ihres Arms sehen konnte. »Ich muss die Schnalle hier«, er deutete auf den Verschluss des Armbands, »öffnen. Es kann sein, dass du dabei einen kleinen, nicht lebensgefährlichen Stromschlag bekommst.«
Sie wollte am liebsten ihren Arm aus dem Griff des Mannes befreien, als er das sagte. Doch sie wusste, dass sie stillhalten musste.
»Warum wollt ihr nicht, dass die Menschen von unten wissen, dass wir leben?«, fragte Elisa und hob eine Augenbraue.
»Sie würden nach oben kommen und wir führen schon Krieg mit den Downern, da brauchen wir nicht auch noch die von unten mit ihren Waffen.«
Elisa legte leicht den Kopf zur Seite und schauderte bei dem Gedanken an die Wachen. Was hatten sie wohl mit ihrer Mutter und Andy gemacht?
Benjamin setzte den Metallstab an und drehte ihn. Ein Surren erfüllte den Raum und Elisa fühlte kurz einen stechenden Schmerz, dann öffnete sich das Schloss des Armbands und es fiel auf den Tisch. Es kam mit einem Klirren auf.
»Ist alles ok, Elisa?«
Elisa keuchte und starrte auf das Armband. »Andy wird denken, ich sei tot ...«
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