Prolog

London, 5. August 1965

"Oma, geht es dir gut?" Lorraine schaute ihre Großmutter betrübt an. "Ja, ja es geht mir gut.", antwortete Elisabeth knapp und zwang sich zu einem Lächeln. Sie sollte bald in ein Pflegeheim ziehen und befand sich mitten im Umzugsstress. Es machte ihr sehr zu schaffen, bald ihre Geliebte Wohnung an der Themse verlassen zu müssen. Ihre Enkelin hatte ihr dabei geholfen, ihr Schlafzimmer auszuräumen und nun saßen sie dort auf dem Boden. Es befanden sich nur noch ein paar Kartons in diesem Raum, die noch ins Pflegeheim transportiert werden mussten. Dieser Umzug machte der alten Dame sehr zu schaffen.

"Ich merke dass dich etwas bedrückt. Du kannst es mir ruhig erzählen." Lorraine sah sie erwartungsvoll an und strich sich ihre rabenschwarzen Locken hinters Ohr. Ihre dunkelblauen Augen, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte, musterten ihre Großmutter abwartend. "Also gut, Kind. Ich weiß, dass ich mit meinen 91 Jahren sehr schlecht alleine zurechtkomme und dass mein Alzheimer es mir auch nicht leicht macht, jedoch möchte ich nicht in dieses Pflegeheim ziehen. Ich fühle mich hier wohl. Ich möchte nicht dass sich irgendwelche Fremden um mich kümmern. Ich habe gehört, dass man sich dort wortwörtlich zu Tode langweilt! Hier stellt mir der Alltag jeden Tag neue Herausforderungen, die mich körperlich auf Trab halten und wenn ich dort jetzt einziehe, schaufele ich mir mein eigenes Grab! Ich wurde in dieser Wohnung geboren und ich möchte auch, komme was wolle, hier sterben." In Elisabeths grauen Augen glitzerten Tränen. Sie schaute schnell auf den Boden, damit ihre Enkelin nicht mitbekam dass sie emotional wurde. Jedoch kannte Lorraine ihre Großmutter so gut, dass sie sofort wusste, was sie tun sollte. Sie setzte sich neben Elisabeth, nahm sie in den Arm und versuchte ihr mit einem Versprechen Trost zu spenden:"Oma nicht weinen! Falls es dir im Pflegeheim nicht gefallen sollte, würden wir beide hier einziehen und ich würde mich um dich kümmern." Sofort erhellte sich Elisabeths Miene und sie wischte sich hastig ihre Tränen weg. "Würdest du das für mich tun? Das ist aber lieb von dir, mein Kind! Du musst verstehen, ich habe mein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht und sehr viel hier erlebt. Hier befinden sich alle meine Erinnerungen, sowohl gute als auch schlechte. Und die wichtigste von allen..." Sie stand langsam auf und bewegte sich, so schnell es ihr ihre alten Beine erlaubten, auf einen der wenigen Umzugskartons, die sich noch in ihrem ehemaligen Schlafzimmer befanden, zu und öffnete ihn. Sie wusste ganz genau, wonach sie suchte. Elisabeth wühlte ein bisschen im Karton, bis sie endlich fand, wonach sie suchte. "... ist diese hier." Stolz hielt sie ein braunes Notizbuch und ein blaues Fotoalbum hoch. "Bücher? Interessant!" Elisabeth setzte sich behutsam wieder auf ihren Platz und blätterte kurz in dem Album, holte ein vergilbtes Familienportrait heraus und legte es mit zitternder Hand vor ihre Enkelin auf den Boden. Sie flocht ihre dunkelgrauen Locken schnell zu einem Zopf und erklärte:"Das Mädchen, das hinten links steht, bin ich, als ich 15 Jahre alt war." Sie zeigte mit ihrem verschrumpelten Finger auf ein hübsches junges Mädchen, das trotz dem ernsten Blick eine unglaubliche Lebensfreude ausstrahlte. Sie trug ihre mittellangen Haare offen, diese passten wunderbar zu dem wahrscheinlich weißen Leinenkleid, das ihre Großmutter an diesem Tag getragen hatte (und ihr wunderbar gestanden hatte!). Lorraine beneidete sie um ihre glänzenden, weich aussehenden Locken. Elisabeth fuhr fort:"Der Mann rechts neben mir war mein Vater, William Carter." Sie zeigte auf einen gut- und vor allem jung aussehenden Mann. Von seinen Haaren sah man nicht besonders viel, denn er trug einen Zylinder der zu seinem Anzug passte. Er strahle ebenfalls eine große Lebensfreude aus. Lorraines Großmutter war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. "Mein Vater hatte Schwierigkeiten, seine Haare zu bändigen, deshalb trug er oft Hüte, damit dies nicht auffiel. Kommen wir zur Person, zu der ich am meisten erzählen kann: meine Stiefmutter Abigail. Sie ist die Frau rechts neben meinem Vater." Elisabeth konnte sich schon denken, dass Abigail aus der Menge herausstach. Abigail war eine unglaublich schöne Frau gewesen: ihre schulterlangen Locken umrahmten ihr Gesicht so perfekt, wie Lorraine es noch nie zuvor mit ihren 33 Jahren gesehen hatte. Ihr Blick schrie förmlich "Seht mich an! Ich bin viel schöner als ihr alle zusammen! Ihr werdet nie so perfekt sein wie ich!" Abigail hatte eine schlanke Figur, so wie jede Frau sie haben möchte. Lorraine konnte sich gut vorstellen, dass sie von vielen wegen ihres Aussehens beneidet worden war. Jedoch hatte sie etwas seltsames, gar verstörendes an sich. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was es war.

"Du findest sie unglaublich schön, nicht wahr?", fragte Elisabeth. Lorraine nickte. "Mein Vater hat sie kennengelernt, als ich 11 Jahre alt war. Sie war immer nett zu mir, doch das änderte sich als sie ein Jahr später mit ihrem Töchtern bei uns eingezogen ist. Anfangs waren es nur unhöfliche Bemerkungen, doch mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Diese Frau hat mich hinter dem Rücken meines Vaters fertiggemacht und mir meine Lebensfreude genommen. Als ich 13 Jahre alt war, hat sie meinen Vater geheiratet. Nach ihrer Hochzeit habe ich eine Woche lang wie ein Schlosshund geweint. Natürlich freute ich mich für ihn, jedoch fühlte ich mich aus irgendeinem Grund furchtbar von ihr verachtet. Als ihre Töchter auch noch angefangen haben meine ältere Schwester zu schikanieren, wollte ich endgültig von zu Hause ausziehen und zu meiner Großmutter nach Dover flüchten. Doch wie sollte ein 13-jähriges Mädchen alleine dorthin kommen? Ich habe Abigail richtig gehasst, bis ich ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen bin. Mit der Zeit wurde sie netter und behandelte mich wirklich gut. Ich habe sie in diesem einen Abschnitt meines Lebens wirklich lieb gewonnen. Aber dazu kommen wir etwas später, wenn du möchtest. Machen wir weiter: die beiden Mädchen, die auf den Stühlen sitzen, waren meine Stiefschwestern. Die mit den langen Haaren hieß Mary, die mit den kurzen Haaren hieß Jane. Jane ist leider sehr jung von uns gegangen." Tränen traten Elisabeth in die Augen, als sie sich an diesen Abend zurückerinnerte. Sie legte das Foto zurück ins Album und blätterte erneut darin. Kurz darauf holte sie ein anderes Foto heraus, das sie auch vor Lorraine auf den Boden legte. "Die Frau, die links steht, war meine Mutter Victoria, neben ihr meine ältere Schwester Dounia. Ich habe beide nicht besonders lange gekannt. Sehr schade.", erklärte sie kopfschüttelnd. "Wieso? Was ist passiert?", fragte Lorraine. "Sie wurden beide sehr jung ermordet. Meine Mutter wurde mit 33 Jahren auf einem Ball vergiftet, Dounia wurde mit nur 22 Jahren niedergestochen." Lorraine war zutiefst schockiert. Welche Art von Mensch war zu solch einer grausamen Tat fähig?

"Hast du denn wenigstens herausgefunden, wer dieses Monster war?", fragte sie. "Ja, jedoch musste ich auf eigene Faust ermitteln. Glücklicherweise haben Mary, Jane und dein Großvater mir dabei geholfen. Die Polizei hat es nicht im geringsten interessiert, was vorgefallen war. Weißt du, das Jahr 1888 war eines der nervenaufreibendsten Jahre meines Lebens." Elisabeth legte auch das zweite Foto wieder zurück ins Album. "Macht es dir etwas aus, mir diese Geschichte zu erzählen?", fragte Lorraine, sichtlich interessiert. "Nein, natürlich nicht, ich mache es sogar sehr gerne. Lass uns eine kleine Zeitreise unternehmen, als ich 15 Jahre alt war, in unser gutes altes Jahr 1888..."

Et voilà, dies ist der Anfang der neuen Version von "Die Zeit läuft ab" ^^ Findet ihr diese Version besser oder die vorherige? Ich finde die hier besser und ich bin zufriedener damit :)
Bevor ich euch in Ruhe lasse, habe ich noch 2 Infos für euch: 1) die Kapitel werden VIEL länger (was denke ich positiv ist).
2) ich brauche deswegen mehr Zeit, um das ganze online zu stellen, seid mir deswegen nicht böse wenn es etwas dauert.
Ich würde mich freuen, wenn ihr mir eure Meinung und euer Feedback dalasst. Ich wünsche euch noch viel Spaß beim Lesen und bis zum nächsten Mal ^^

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