Epilog
Lorraine wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie seufzte. "Ich komme mir furchtbar dumm vor, weil ich die ganze Zeit lang Abigail verdächtigt habe. Irgendwie bin ich froh, dass sie es doch nicht war.", sagte sie. Elisabeth lächelte. "Dafür musst du dir doch nicht dumm vorkommen! Jeder hat sie verdächtigt und war im Nachhinein demetsprechend schockiert, als sie es dann doch nicht war.", sagte sie. "Es ist einfach nur widerlich, dass Harold in seine eigene Schwester verliebt war und auch noch dazu gestanden hat. Das ist so falsch. Und wie viel Blut von unschuldigen Menschen an seinen Händen geklebt hat, ist noch falscher.", sagte Lorraine kopfschüttelnd. "Es ist auch falsch, sehr sogar. Noch falscher war es aber, dass er das Leben seiner Schwester manipuliert hat und entschied, wer kommt, wer geht und wer bleibt. Er hat alle wie Marionetten tanzen lassen und wenn eine ihn verärgert hat, hat er ihr die Fäden durchgeschnitten.", erklärte Elisabeth ihrer Enkelin. Erneut seufzte Lorraine. "Wie endete dieser Fall überhaupt?", fragte sie. Ihre Großmutter dachte kurz nach. "Nun ja, einen Monat später fand ein ganzer Prozess statt, bei dem jeder der noch lebenden Opfer von Harolds Taten aussagen musste. Meine Mutter sagte ebenfalls aus und gab sich meinem Vater zu erkennen. Anfangs war er wütend, jedoch dauerte es nicht lange an und er freute sich, dass sie lebte. Da sie keine Bleibe hatte und trotzdem bei uns in London bleiben wollte, zog sie bei uns ein. Dazu musste Mary zu mir ins Zimmer ziehen, worüber wir uns freuten. Jetzt hatten wir beide endlich wieder eine Zimmergenossin. Ich schweife vom Thema ab. Der Prozess dauerte einen ganzen Monat, bei dem wir als Sieger herausgingen. Vor Gericht wurde ein ganzes Meer an Tränen vergossen, ich war neben Marius und den anderen männlichen Kandidaten, die aussagten, die einzige, die es schaffte, kein Tränchen zu verdrücken. Harold gestand seine Taten und bekam die Todesstrafe. Er wurde vor allen Anwesenden erhängt. Trotz der Grausamkeiten, die er in ihrem Leben angerichtet hatte, trauerte Abigail um ihren Bruder. Sie erzählte mir später, dass sie ihm die Vergangenheit verziehen hätte und ich musste ihr versprechen, dass egal was passiert, ich nie damit aufhören sollte Menschen zu verzeihen. Mit der Zeit habe ich ihm dann auch verziehen.
Später, im Februar 1889, kam mein kleiner Bruder Ethan auf die Welt. Es war das erste Mal, dass ich bei einer Geburt anwesend war und ich habe eine ganze Weile gebraucht um mich davon zu erholen. Ich war dafür zuständig, Abigail irgendwie abzulenken und ihr den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass meine Mutter dem Arzt dabei helfen musste, das Kind herauszubekommen und ich Abigail zur Beruhigung Schlaflieder vorsang. Frag mich bitte nicht, wie ich auf Schlaflieder gekommen bin. Ich musste mich ebenfalls irgendwie beruhigen. Jedenfalls als ich das dritte Lied anstimmen wollte, war das Kind schon fast ganz da und Abigail brach meinem Vater die Hand. Ich musste furchtbar lachen, weswegen ich später eine Standpauke gehalten bekam. Als das Kind dann geboren war, mochte ich Kinder auf einmal. Als Ethan dann älter war, habe ich ständig darum gebettelt, entweder mit ihm zu spielen oder ihn ins Bett zu bringen. Das einzige, was ich dann machen durfte, war seine Windeln zu wechseln.
Als Mary in jener Nacht angeschossen worden war, musste sie im Krankenhaus ihr Bein amputiert kriegen. Anders hätte sie nicht überleben können. Sie saß eine Zeit lang im Rollstuhl und wurde oft gefragt, ob sie wegen ihrem Bein denn nicht traurig wäre. Ihre Antwort darauf werde ich nie im Leben vergessen:"Lieber habe ich mein Bein verloren, als mein Leben." Im März 1889 bekam sie dann ihre Beinprothese und konnte erneut normal gehen. Drei Wochen später hat sie dann Adrian geheiratet und nach einem Jahr Ehe bekamen sie auch schon Kinder. Es waren Zwillinge, ein Junge Namens Joseph und ein Mädchen, das Mary unbedingt Jane taufen wollte. Mehr kann ich dir nicht verraten, falls du noch andere Geschichten hören möchtest.", erzählte Elisabeth. "Leben eigentlich noch Menschen, die in deiner Geschichte vorgekommen sind?", fragte Lorraine. Elisabeth nickte. "Mary und Adrian sind in einem Pflegeheim außerhalb der Stadt. Mary geht es soweit gut, nur Adrian ist sehr schlecht dran. Er hat vor 15 Jahren einen Schlaganfall erlitten, weshalb er nun im Rollstuhl sitzt und nichts mehr alleine machen kann. Mary kümmert sich seitdem um ihn und füttert ihn unter anderem. Allan lebt leider auch noch. Er wohnt neben mir und lässt keine Gelegenheit aus, um sich an mich heranzumachen. Leider ist er so gut drauf wie ich. Schade eigentlich. Ethan lebt auch noch, er wohnt mit seiner Ehefrau Margaret in der Wohnung über mir.", erklärte die alte Dame. Sie holte erneut ein Foto aus dem blauen Album und legte es vor ihre Enkelin. Das Foto zeigte Elisabeth, das vor der im Rollstuhl sitzenden Mary stand. Neben ihr saß Abigail mit Ethan auf dem Arm auf einem Sofa. Neben ihr saß William. In der letzten Reihe, neben Elisabeth, stand Victoria. Im Gegensatz zum ersten Foto machten alle einen glücklichen Eindruck. Vor allem Abigail wirkte glücklicher. Anders als auf dem ersten Foto wirkte sie ebenfalls sehr lebensfroh. Sie sah ebenfalls freundlicher aus.
"Merkst du den Unterschied?", fragte Elisabeth lächelnd. Lorraine nickte. Plötzlich verstand sie, warum ihre Großmutter ihre Wohnung nicht verlassen wollte. "Lorraine mein Kind, gibst du mir bitte die Kiste da hinten in der Ecke?", bat Elisabeth ihre Enkelin. Sie gehorchte und brachte ihrer Großmutter das gewünschte. Die alte Dame kramte ein wenig in der Kiste und holte ein kleines, rotes Samtkästchen hervor. Sie öffnete sie und ein Orden kam zum Vorschein. "Am folgenden Tag hat es unser Fall in die Schlagzeilen geschafft. Man hat mich regelrecht als Heldin bezeichnet, weswegen ich einen Tapferkeitsorden von der Queen höchstpersönlich bekommen habe.", erklärte sie. Sofort räumte Elisabeth ihn zurück, da sie ihn nicht beschädigen wollte.
"Weißt du, was? Pack deine Sachen aus, wir bleiben hier.", sagte Lorraine und stand auf. Sie holte ein kleines Radio aus einer der Kisten und schaltete es an. Die Beatles stimmten gerade "Eight Days A Week" ein. "Die Beatles werden uns beim Auspacken bei Laune halten.", meinte Lorraine lächelnd. Elisabeth stand langsam auf. "Du möchtest wirklich mit mir hierbleiben?", fragte sie verblüfft. Lorraine nickte energisch. "Wie könnte ich meine Oma im Pflegeheim ihrem eigenen Schicksal überlassen? Warte kurz, ich rufe dort an um deine Möbel zurückzubekommen.", sagte sie und verließ den Raum. Elisabeth drehte fröhlich das Radio lauter. Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, Lorraine als Enkelin zu haben.
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