Kapitel 62
Es dauert nur ein paar Sekunden, bis ich meinen Blick von den Worten abwenden kann.
"Damit wirst du mich nicht abhalten können, Liam", zische ich und bohre unbewusst den Schlüssel tiefer in meine Handfläche. Liam fixiert mich mit seinen grünen Augen und schaut mich flehend an. Ich schüttele den Kopf und drehe mich um, damit ich nicht doch noch nachgebe. "Grace, es ist die Wahrheit!", murmelt Liam hinter mir. Ich schaue um den Felsen und überlege mir den besten Weg zum Seiteneingang. "Kann sein", sage ich, konzentriere mich aber auf das Gebäude. Alles ist totenstill, doch ich vernehme eine Bewegung auf dem Dach. Steven nickt mir zu und ich husche zum nächsten Felsen, genauso wie Ariane und Lukas es gemacht haben und kauere mich hinter ihm zusammen. Liam schaut mich wütend an und zerrt an seinen Fesseln. Sein Blick verhakt sich mit meinem und ich sehe Enttäuschung und Wut in seinen Augen.
Mein Blick schweift über ihn, von seinen Fesseln, über seine leuchtenden grünen Augen, bis zu den braunen Haaren.
Ich halte eine Sekunde die Luft an, bevor ich um den Felsen stürze und aus Liams Blickfeld gelange. Ich komme schnell dem Gebäude näher und habe wenig später die Tür erreicht, an die ich mich zuerst mal lehne und nach Luft schnappe. Ich bin so schnell gerannt wie noch nie, weil ich Angst hatte, dass mich jemand sehen könnte, der das nicht tun sollte. Zögerlich umschließt meine Hand den eiskalten Türgriff und mein Herz hämmert wie verrückt, so dass ich schon Angst habe, dass es zerspringen könnte. Dann drücke ich den Griff runter und bekomme große Augen, da mich eine unheimliche Dunkelheit direkt dahinter empfängt. Leise schließe ich die Tür hinter mir und warte, bis sich meine Augen an diese Finsternis gewöhnt haben. So langsam erkenne ich Umrisse und laufe eilig den schmalen Gang entlang, der von einigen Bildern geschmückt wird, die man aber nicht erkennen kann, da es zu dunkel ist. Sehr sinnvoll. Sonst ist nur eine alte Kommode, auf der ein paar verstaubte Blätter und eine zersprungene Vase liegen, noch hier. Vor der nächsten Tür, unter der ein wenig Licht durch die Spalte gelangt und somit die einzige Lichtquelle im Gang ist, bleibe ich stehen und lausche. Doch alles ist still, sodass ich mir sicher bin, dass jeder mein laut pochendes Herz hören könnte.
Mit Schwung öffne ich die schwere und quietschende Tür. Dieses Mal umhüllt mich eine grelle Helligkeit und ich kneife zuerst die Augen zusammen, die sich doch schon so gut an die Dunkelheit gewöhnt haben.
Nach etlichen Sekunden kann ich dann endlich etwas erkennen und bemerke ziemlich schnell, dass ich mich in dem Gang befinde, der zu dem Zimmer mit den Gaben führt und an dem auch Liams Zimmer und noch viele weitere angrenzen. Der Gang ist, wie ich erwartet habe, leer und verlassen, trotzdem eile ich leise an einigen Türen vorbei. Da ich damals, als ich den Raum entdeckt habe, nur planlos durch den Gang gestürzt bin, weiß ich natürlich nicht mehr, hinter welcher, der alle gleichaussehenden Türen, sich nun der Raum befindet.
Also öffne ich jede Tür zu meiner rechten Seite und werfe einen kurzen Blick rein. Ich sehe schon die prächtige Holztür, die zum Thronsaal führt, als ich endlich, nachdem ich aber auch schon einer Küche, zwei Schlafzimmern, einem komischen Bad mit vielen Duschen und einer Art Wohnzimmer einen Besuch abgestattet habe, die passende Tür finde.
Sie ist wie erwartet abgeschlossen und genau daran erkenne ich sie. Was hätte es für einen Sinn eine Küche abzuschließen?
Den Schlüssel, den ich die ganze Zeit krampfhaft umklammert habe, stecke ich in das Loch und drehe ihn um. Ein leises Klacken ertönt und schon kann ich die Tür aufstoßen. Als ich das Zimmer betrete, nehme ich den Schlüssel mit und lege ihn auf das Regal, auf welchem auch die Gefäße mit den Nummerierungen stehen.
Dann schließe ich die Tür und öffne schon mal das Fenster.
Zögernd trete ich an das Regal und betrachte die einzelnen Gefäße. Das mit der Nummer 1 ist leer, genauso wie 9 und 10. Der Rest erstrahlt in unterschiedlichen Farbtönen. Mit meinem Zeigefinger fahre ich die 10 nach und überlege, wie es wohl aussehen würde, wenn meine Gabe da drin wäre. Bestimmt hätte es eine blaue Farbe und ich frage mich echt, wie der 'Böse' es geschafft hat, die Gaben, die ja mit uns verbunden sind, aus den toten Körpern zu ziehen. In meinen Kopf dringt ein überdimensional großer Sauger, der nur die Gabe aus dem Menschen raussaugt. Ich schüttele mich bei dem Gedanken und verfluche mein Kopfkino.
Schnell konzentriere ich mich aber wieder auf meine Aufgabe und greife nach dem Glas mit der Nummer 2. Ich schraube den Deckel ab und laufe zum Fenster. Genau wie beim letzten Mal ist da nur Sand und ein paar vereinzelte Steine. Unentschlossen schaue ich auf die Flüssigkeit, bevor ich den Atem anhalte und das Glas umdrehe. Die orangene Flüssigkeit landet mit Schwung auf dem Sand, wo sie gleich einsickert und verschwindet. Wenn man mal überlegt zerstöre ich das, wofür man die Leute umgebracht hat und das zerrt schon an den Nerven. Ich warte geduldig, bis auch der letzte Tropfen aus dem Glas ist und stelle das Gefäß zurück. Dann widme ich mich Nummer 3 mit einer ekligen grauen Flüssigkeit. Ich will gar nicht wissen, was das für eine Gabe ist, denn sie sieht einfach nur abstoßend aus. Ich wiederhole das, was ich auch mit der orangenen Flüssigkeit gemacht habe und verfahre genauso bei allen anderen Gaben.
Die ganze Zeit ist es totenstill und nichts unterbricht mich bei der Arbeit. Als ich das Glas mit der Nummer 8 in der Hand halte und es umdrehen will, schweift mein Blick über den Sand bis zum Meer. Es ist ganz ruhig und ich spüre die starke Verbindung dazu, durch die Kraft, die in Strömen durch mich schießt. Mein Blick gleitet weiter zu den Felsen. Hinter einem dieser Felsen sitzt Liam. Warum hat er sich denn solche Sorgen gemacht? Es läuft doch alles nach Plan. Aber das konnte man ja vorher nicht wissen. Ich lehne mich etwas nach vorne und suche nach dem größten Felsen, wo Liam sein sollte. Der Felsen fällt mir sofort ins Auge, aber was ich dann sehe, droht mich vor Schock aus dem Fenster kippen zu lassen. Mein Herz hört eine Sekunde auf zu schlagen, ich halte unbewusst den Atem an und meine Augen weiten sich, während mir das Glas aus der Hand rutscht, auf einen Stein aufschlägt, klirrend in tausend Teile zerbricht und die Flüssigkeit zu allen Seiten des Steins runterläuft , wo sie violette Spuren hinterlässt. Aber das alles interessiert mich nicht.
Wie gefangen von dem Anblick starre ich auf das Seil, welches mitten im Sand liegt, nicht weit weg vom Felsen. Den Knoten, den ich doch noch mal nachgezogen habe, wurde mit einer Menge Kraft gelockert, dass sehe ich daran, dass das Seil zwar immer noch eine Kreisform durch den Knoten hat, der Kreis aber deutlich größer ist, so dass Liam seine Hände daraus ziehen konnte. Das kann doch nicht sein! Verzweifelt schaue ich von dem mittlerweile violetten Stein zum Seil und wieder zurück. Dann befehle ich kurzerhand dem Meer, den Stein zu sich zu nehmen und im Wasser für immer zu verschlingen, damit auch nichts von der Gabe übrig ist. Erleichtert atme ich auf, als ich dieses Mal nicht noch eine Gabe aufnehme, da mir zwei schon genügen. Dann fixiere ich wieder das Seil und will gerade nach dem Schlüssel greifen, damit ich den Raum verlasse und Liam suche, der ja gemeint hat, dass er nicht will, dass ich das mache, weil mir ja was passieren könnte und jetzt darf ich ihn suchen, weil es ganz danach aussieht, als hätte er sich dem Plan widersetzt, als ein ohrenbetäubender Schrei ertönt. Ich unterdrücke das Bedürfnis, mir die Ohren zuzuhalten und stürze auf den Gang, in dem der Schrei noch nach hallt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top