Kapitel 59
Nervös schiebe ich meine Hände in die Jackentasche. Bloß nicht lügen!
Aber was soll ich sonst sagen? Ihm vom Plan zu erzählen wäre vielleicht das Schlauste, aber wer weiß, ob er sich freiwillig als Geisel nehmen lassen würde?
"Was meinst du?", frage ich und spiele verunsichert.
"Ja einfach, wie du dich verhältst. Ich habe das Gefühl, dass du mir etwas verheimlichst."
Ich schaue auf den Boden und betrachte meine Schuhe.
Warum aber auch kann Liam Lügen erkennen? Wie soll ich mich jetzt da raus reden?
"Liam!", ruft ein Jungenstimme durch die U-Bahn und Liam versteift sich.
"Ignorier ihn einfach. Er hat etwas gegen Reiche.", murmelt Liam und dreht sich ganz lässig zu einem Jungen um, der etwa einen halben Kopf kleiner ist als er, dafür aber aussieht, als wäre er aus dem Gefängnis ausgebrochen.
"Sam.", sagt Liam überhaupt nicht begeistert.
Dieser Sam schaut über Liams Schulter und wirft mir einen abwertenden Blick zu.
"Seit wann machst du mit reichen Schlampen rum?", fragt er an Liam gerichtet und ich wäre am liebsten auf ihn losgegangen, aber so lege ich mir bloß ein paar Worte zurecht, jedoch ist Liam schneller.
Ehe ich mich versehen habe, hat Liam diesem Sam eine kräftige Ohrfeige verpasst, wodurch Sams ganzer Kopf rot wird. Ein paar Leute drehen sich um, aber niemand mischt sich ein.
"Wie hast du sie genannt?", fragt Liam und baut sich bedrohlich vor Sam auf, der ein wenig zurückweicht.
"I...ich habe gar nichts gesagt.", sagt Sam leise und läuft noch weiter von Liam weg.
In dem Moment gehen die Türen auf und Liam schubst Sam auf den Bahnsteig, wo er sich schnell aufrappelt und davon eilt.
Liam dreht sich langsam zu mir um und schaut mich entschuldigend an.
"So ist er immer.", erklärt er und greift nach einer Stange, während sich hinter ihm einige Menschen in die U-Bahn drängen. "Tut mir leid."
Ich grinse. "Du bist nicht daran Schuld. War mir schon klar, dass so etwas mal passiert, wenn ich mit einem Normalen unterwegs bin." Liam schüttelt den Kopf. "So sollte es nicht sein. Ich verstehe nicht, wieso es gleich so schlecht kommt, wenn man mal mit jemandem aus einer anderen Schicht Zeit verbringt."
Ich schaue auf die Seite und betrachte eine alte arme Frau, die mich schon eine Weile anstarrt. Schnell wende ich den Blick ab, weil ich ihren gehässigen Blicken nicht länger ausgesetzt sein will. Zum Glück schiebt sich ein Mann zwischen uns.
Liam greift wenig später nach meiner Hand und zieht mich aus der U-Bahn. Kaum sind wir die Treppen hochgelaufen, fällt mir auf, dass wir in einem etwas ärmeren Stadtteil gelandet sind, an den ein Wald angrenzt.
Anstatt den anderen Leuten zu folgen, die geradewegs auf die Häuser zu laufen, zieht Liam mich in den Wald.
Die Sonne scheint immer wieder durch die freien Stellen, an denen kein Baum steht und erleuchtet den ganzen Wald. Die Blätter strahlen in einem hellen Grünton, fast so hell wie Liams Augen, und Vögel zwitschern hin und wieder.
Lange folge ich Liam, bis er plötzlich stehen bleibt und ich fast gegen ihn pralle.
"Was ist?", frage ich unsicher und Liam dreht sich grinsend zu mir um. "Wir sind da."
Er tritt zur Seite und macht Platz, so dass ich alles betrachten kann.
Wir sind auf einer Lichtung angekommen. Das Gras erstrahlt in einem saftigen Grün und ein kleiner See befindet sich in der Mitte. Obwohl, so klein ist der See gar nicht.Sanfte Wellen schlagen gleichmäßig gegen die Felsen auf der anderen Seite und ein kleiner Wasserfall schmückt diese Felsen. Das türkisene Wasser wird bis zur Mitte des Sees immer dunkler, während am Rand immer wieder kleine Wellen das Gras erreichen.
Lange bestaune ich diesen schönen Anblick, bevor ich mich begeistert zu Liam umdrehe, der mich ganz genau beobachtet hat. Ich suche nach Worten, aber keines trifft darauf zu, wie schön ich das hier finde. Um Liams Mund bildet sich ein Lächeln, was mir zeigt, dass er weiß, dass es unbeschreiblich ist.
Fasziniert laufe ich zum See und knie mich an das Wasser. Mit den Fingerspitzen berühre ich das angenehm lauwarme Wasser, wodurch sich Kreise darauf bilden, die immer größer werden.
Leise tritt Liam neben mich und mit einem Schlag fällt mir das Seil ein. Das habe ich ganz vergessen! Ich drehe meinen Kopf und schaue Liam in die Augen.
Irgendetwas bedrückt sie!
Liams Gedanke schießt in meinen Kopf und ich zucke zusammen. Ich hatte mir doch vorgenommen, nicht mehr in die Gedanken anderer zu schauen!
Liam kniet sich neben mich und schaut mir tief in die Augen. "Alles okay?", fragt er besorgt und ich merke, wie ich blass werde. Ja klar, alles bestens. Ist nicht so, als müsste ich ihn gleich fesseln, was dann mein Dankeschön an ihn ist.
Schnell schaue ich auf die Seite. "Mir geht es bloß nicht so gut.", murmele ich, was ja auch stimmt, immerhin zerreißt mich der Gedanke, ob ich ihn jetzt fesseln soll, oder ihm doch besser von dem Plan erzähle. Liam wirft mir einen 'Du-kannst-mir-alles-erzählen'-Blick zu und schaut mir tief in die Augen. Ich stehe auf und lege meine Tasche in das Gras. Bevor ich meine Jacke ausziehe, werfe ich einen Blick auf mein Handy und sehe, dass ich in einer dreiviertel Stunde bei Renée sein muss. Mit Liam. Eine Runde schwimmen werde ich jetzt aber noch gehen können.
Zögerlich laufe ich in das Wasser, das mir auf einmal gar nicht mehr so warm vorkommt. Schnell erwärme ich es, damit es erträglicher wird. Meine Klamotten kleben an mir, als ich untertauche und mich ganz von meiner Gabe treiben lasse. Ich schließe die Augen und genieße das Gefühl, dass das Wasser zu mir gehört. Ohne dass ich ihn sehe, weiß ich, dass Liam auch im See ist. Sanft umschließen seine Arme meine Taille von hinten und ich spüre trotz dem Wasser diese Blitze, die meinen ganzen Körper durchfluten und in meinem Herz für Wärme sorgen. Mein ganzer Körper brennt unter seinen Berührungen, während meine Gabe für mehr Sauerstoff sorgt, weil wir sonst auftauchen müssten.
Liam dreht mich zu sich um und ich drohe in seinen grünen Augen zu versinken. Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein T-Shirt ausgezogen hat und ich versuche bloß nicht die ganze Zeit auf seinen Oberkörper zu starren, was nicht wirklich einfach ist. Liam schaut mir eine Sekunde in die Augen und ehe ich mich versehen habe, spüre ich seine Lippen auf meinen.
Zuerst bin ich wie erstarrt, doch schnell erwacht das Feuer in mir und ich lege meine Hand in seinen Nacken, um ihn näher zu mir zu ziehen. Liam kommt meiner Aufforderung nach und ich bin mir sicher, dass kein Blatt mehr zwischen uns passen würde. Ich genieße das Gefühl seiner Lippen auf meinen, bis mich die Erinnerung an den Plan überrollt.
Schnell löse ich mich von Liam und meide seinen Blick, als ich auftauche und wütend auf mich den See verlasse. Und schon wieder habe ich alles vergessen und den Kuss zugelassen. Während die Sonne meine Kleidung trocknet, lege ich mich in das weiche Gras. Liam legt sich leise neben mich. Langsam drehe ich den Kopf, als meine innere Stimme schreit: Jetzt! Ich beobachte Liam, der seine Augen geschlossen hat und die warmen Sonnenstrahlen genießt.
"Tut mir leid, wenn du das nicht wolltest.", flüstert er und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
"Doch.", sage ich und rolle mich geschickt auf ihn drauf. Liam öffnet seine Augen und ein warmes Grün kommt zum Vorschein. "Aber?", fragt er und ich stütze die Arme seitlich von ihm ab. "Nicht jetzt.", sage ich und Liam runzelt die Stirn. Eine Haarsträhne rutscht mir vor mein Auge und Liam hebt die Hand, um sie wieder an seinen Platz zu bringen, als ich blitzschnell nach seiner Hand greife und sie festhalte. Meine andere Hand packt Liams andere und ich schaue zu meiner Tasche, die vielleicht einen Meter von mir weg ist. Nach etlichen Versuchen mit meinem Fuß habe ich den Gurt und ziehe sie zu mir.
"Grace, was wird das?", fragt Liam unsicher, als ich seine eine Hand loslasse, damit ich das Seil aus der Tasche holen kann. Als Liam das Seil sieht, versucht er meinen Griff an seiner Hand loszuwerden, was ihm ziemlich schnell gelingt. Weil er mir sonst entwischt wäre, lege ich ihm kurzerhand Wasserfesseln an, die er nicht lösen kann. Erst als ich das Seil um seine Handgelenke gebunden habe, löst sich das Wasser auf und ich stehe auf.
"Grace, sag mir doch bitte, was das soll.", fleht Liam mich an.
"Hast du den Schlüssel für den Raum, in dem die Gaben aufbewahrt werden?", frage ich stattdessen.
"Ja, aber...", unterbricht Liam und man sieht richtig, wie er versucht einen Zusammenhang zu finden und ihn zu verstehen. Er richtet sich schneller auf, als ich erwartet habe und kommt mir bedrohlich näher. "Ich bin ein Gefangener? Eine Geisel?"
Ehe Liam mir noch näher kommen kann, verleihe ich ihm kräftige Wasserfesseln an den Füßen.
"Wo ist der Schlüssel?", frage ich ernst und gehe nicht auf seine Fragen ein.
"Sag ich dir erst, wenn du mich von den ganzen Seilen und Fesseln befreist", gibt Liam schnell zurück und ich schüttele den Kopf.
"Bitte", versuche ich es erneut.
Liam schaut mir stur in die Augen. "Nein."
Ich schaue auf die Seite und fahre mir verzweifelt durch die Haare. Der Schlüssel könnte überall sein, zumindest überall, wo Liam oft hingeht.
"Warum hast du mir nichts gesagt?", fragt Liam leise und setzt sich auf den Boden, da er eh keine Chance zur Flucht hat. "Weil du das niemals mitgemacht hättest.", erkläre ich und lasse den Punkt, dass ich noch zu wenig Vertrauen in ihn habe, aus.
"Doch, hätte ich", murmelt Liam. Ich ignoriere seinen Satz und hole mein Handy aus der Tasche. Schnell wähle ich Renées Nummer und warte, bis sie abnimmt.
"Grace? Wo bist du? Gibt es bei dir Probleme?", schießt sie los und ich versuche eine Atempause zu nutzen, um sie zu unterbrechen. "Nein, hat alles geklappt. Kannst du hierher kommen, du weißt schon, mit deiner Gabe."
"Ja klar", sagt sie und steht keine Sekunde später direkt neben mir. Obwohl ich es hätte wissen müssen, dass das so schnell geht, zucke ich zusammen.
Renée schaut sich um und bleibt bei Liam hängen. "Schön hier.", gibt sie zu. "Jetzt zu mir oder noch eine Zwischenstation?"
"Noch eine Zwischenstation", sage ich und zeige auf Liam. "Zu ihm nach Hause.".
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