Kapitel 19
"Sie können jetzt eigentlich wieder gehen."
Ich schaue die Krankenschwester an und bringe nur ein 'na endlich' über die Lippen.
Die letzte Stunde habe ich mich wie ein Versuchskaninchen gefühlt, so toll hat der Arzt mich untersucht.
Im Zimmer angekommen sitzt Steven auf meinem Bett und schaut auf seine ineinander verschlungenen Hände.
"Hey, was ist?", frage ich unsicher und schnappe mir die Tasche, die mir Lukas mit neuen Klamotten vorbeigebracht hat, da mein Vater anscheinend nur traurig zu Hause rumhockt und sich keine Gedanken darüber macht, was eigentlich mit seiner Tochter los ist.
"Du gehst?"
Oh, deshalb so traurig. Aber eigentlich kenne ich ihn ja gar nicht gescheit.
"Ja", ist alles was mir dazu einfällt.
Steven schaut auf.
"Ich hatte nie jemanden, mit dem ich so gut reden konnte", gesteht er mir.
Der Abend gestern mit ihm hat anscheinend nicht nur mir gut getan. Wir haben zuerst einen Horrorfilm angeschaut, dann uns über die netten Ärzte unterhalten, wobei er mir deutlich mehr erzählen konnte, zum Beispiel, dass der Arzt, der mich zu einem Versuchskaninchen gemacht hat, auch 'Adlerauge' genannt wird und das nicht zu Unrecht, und dann haben wir noch Karten gespielt. So toll wie gestern ging es mir schon lange nicht mehr.
"Du kannst mich jeder Zeit anschreiben. Meine Handynummer hast du", sage ich und umarme ihn.
Er lächelt.
"Werde ich, darauf kannst du dich verlassen. Bis... wann auch immer."
"Machs gut."
Mit diesen Worten drücke ich ihn noch einmal und dann verlasse ich das Zimmer und das Krankenhaus.
So, jetzt muss ich zuerst mal schauen, wie ich nach Hause komme.
Mein Dad wird mich nicht abholen, aber das nehme ich ihm nicht übel. Hauptsache er übersteht den Schmerz gut.
Lukas kann mich nicht abholen, da er jetzt noch Gabentraining hat.
Ich seufze. Das heißt wohl Zug oder Bus.
Am Ende entscheide ich mich für die U-Bahn, weil ich das schon immer mal machen wollte, es aber nie durfte. 'Da sind zu viele Normale und Arme!', hatte meine Mutter immer gesagt.
Über mein Handy informiere ich mich, welche Station so nah wie möglich bei mir zu Hause ist, aber die nähste ist zwischen der Schule für die 'Normalen' und der, auf die ich gehe.
Ganz langsam laufe ich die Treppen runter und kaufe ein Ticket, bevor ich mich an das Gleis stelle und darauf warte, dass die U-Bahn kommt.
Der Steig neben dem Gleis wird nach und nach immer voller und die Meisten sind wirklich 'Arme'.
Ich steige ein und werde auch gleich richtig zusammengequetscht, weil es so voll ist.
Mir gegenüber steht eine Frau und führt ganz eifrig ein Telefonat.
"Wie bitte? Das dürfen Sie nicht bekannt geben!"
Ich schlucke. Die Frau ist von der Presse, eindeutig.
"Ich sage Ihnen, wenn ich will, dass Sie es veröffentlichen."
Jap, Vermutung bestätigt.
"Ja, zuerst noch geheim halten."
Genau, ein Telefonat in der U-Bahn über hochgeheime Sachen führen. Wer bekommt das dann nicht mit?
"Haben wir Zeugen?"
Mord?
"Schade. Aber..."
Oh, keine Zeugen.
"Nein. Auf keinen Fall. Wie viele sind es denn?"
Was jetzt? Mehrere Tote?
"Ganz schön viele."
Oh nein. Nicht schon wieder ein Amokläufer!
"Ich bin gleich da. Schicken Sie mir schon mal alles, was Sie bis jetzt haben!"
Schade, sehr unterhaltsam.
Die Frau schiebt sich an mir vorbei und eilt aus der U-Bahn.
Ich will gerade Musik anmachen und mir die Kopfhörer in die Ohren stecken, als grüne Augen meine finden.
Schnell drehe ich mich um, aber Liam scheint mich schon entdeckt zu haben, da er sich einen Weg zu mir bahnt.
Ich tue so, als würde ich auch zu jemandem laufen wollen und quetsche mich durch die ganzen Leute durch, weg von den grünen Augen. Das Letzte was ich jetzt gebrauchen könnte, wäre ein Gespräch mit ihm.
Doch nach wenigen Metern stehe ich an dem Ende des U-Bahn-Zugs. Ich wusste gar nicht, dass ich so weit hinten eingstiegen bin. Ich seufze und drehe mich um.
Liam quetscht sich noch einmal durch und kommt direkt vor mir zum Stehen.
"Habe nicht erwartet dich hier zu treffen", sagt er und hält sich an einer Stange fest.
"Ich auch nicht, sonst wäre ich wohl kaum eingestiegen", bringe ich über die Lippen und blicke zur Seite. Merkt er nicht, dass mir gerade nicht nach einem Gespräch ist? Ich lasse meinen Blick über die verschiedenen Schuhpaare um uns herum schweifen und verharre bei einem kleinen Mädchen, welches sich mit einer Hand die Tränen vom Gesicht wischt und soeben von ihrer Mutter hoch gehoben wird. Ich beobachte, wie die Mutter ihrem Kind durch die Haare streicht und in ihrer Tasche nach etwas sucht. Als sie dann einen kleinen Stoffteddybären mit großen, schwarzen Kulleraugen hervorzieht, erinnere ich mich daran, wie mich meine Mutter immer in den Arm nahm, wenn ich traurig war. Nachdem ich mich beruhigt hatte, machte sie mir immer einen Gute-Laune-Tee, wie sie ihn nannte. Mittlerweile weiß ich, dass es ein normaler Früchtetee war, dennoch hatte der Tee seinen ganz einzigartigen Zauber, wenn ihn meine Mutter machte.
"Grace, was ist los?" Liam hat den Kopf schief gelegt und betrachtet mich mit einer gewissen Seriosität, die ich selten bei ihm gesehen habe. Das Grinsen ist aus seinem Gesicht verschwunden, auch wenn ich es mir herbei wünsche. Liam versteht es, durch sein Grinsen anderen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
"Nichts", murmele ich und blinzele mehrmals, um die Tränen zurückzuhalten, die schon in meinen Augen brennen. Ich möchte nicht schwach vor ihm und all den anderen Leuten hier wirken.
"Jeder Blinde würde erkennen, dass nicht nichts ist", stellt Liam fest. Ich nicke, doch werde mit den Worten nicht herausrücken. Aus dem Augenwinkel sehe ich das Mädchen, das sich an ihren Teddy knuddelt und die Augen schließt.
Ein Schmerz schießt mir durch die Brust, als sich eine Träne aus meinem Auge traut und quälend langsam über meine Wange kullert. Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Mutter so sehr, dass es sich anfühlt, als habe sie meine Seele mit sich genommen und nur die leere Hülle meines Körpers zurückgelassen, der sich kaum traut zu atmen, weil er Angst davor hat, zu realisieren, dass sie von mir gegangen ist. Für immer. Ehe ich mich versehen habe, hat Liam mich an sich gezogen und schlingt seine Arme fest um mich, als würde er mir sagen wollen, dass er für mich da ist. Meine Haut fängt an zu kribbeln, wo er mich berührt, doch ich ignoriere es und kralle mich stattdessen an seinem T-Shirt fest. Es tut so gut, einfach mal loszulassen und zu wissen, dass jemand für mich da ist, der mich auffängt, wenn ich falle. Ich blende die anderen Leute aus und lege meinen Kopf an seiner Brust ab. Sein Herzschlag ist schnell, zu schnell, um ihn noch als normal bezeichnen zu können.
Mein Körper bebt unter meinen Schluchzern, während Liam mit einer Hand über meinen Rücken streicht und versucht mich zu beruhigen. Ich spüre seinen Atem im Nacken, seine Finger auf meiner Jacke und doch genieße ich das Gefühl, ihm so nahe zu sein.
Ein Räuspern holt mich zurück in die Wirklichkeit, mitten in die überfüllte U-Bahn. Erschrocken lasse ich Liam los und gewinne mehrere Zentimeter Abstand, wobei sich ein Mann zwischen Liam und mir nach draußen quetscht. Ich versuche zu verstehen, wie es gerade so weit kommen konnte, doch es scheint keine logische Erklärung dafür zu geben. Ich schüttele den Kopf und bahne mir einen Weg aus der U-Bahn. Ich muss einfach weg von Liam, weit weg.
"Also ich müsste erst bei der nächsten Station raus, aber ich will dich ja nicht alleine lassen. Wer weiß, was dann passiert?", sagt Liam und läuft neben mir her. Ich schließe einen Moment die Augen und wünsche mich an einen anderen Ort - leider ergebnislos.
"Spiel hier bloß nicht den Fürsorglichen!", zische ich ihn genervt an. Meine Gedanken wirbeln unaufhörlich wild durch meinen Kopf.
"Ich dachte eigentlich, dass ich das schon bin und nicht mehr spielen muss."
Ich verdrehe die Augen. "Such dir andere Leute, die du nerven kannst."
"Ich wollte dir bloß helfen", verteidigt Liam sich und schiebt seine Hände in die Hosentaschen.
"Du hast keine Ahnung", bringe ich über die Lippen und beiße mir im selben Moment auf die Zunge. Ihn dafür anzumotzen, dass er mir nur helfen wollte, ist nicht fair.
"Du hast Recht." Ich muss mich beherrschen, nicht vor Überraschung über meine Beine zu stolpern. "Ich habe keine Ahnung, wie es bei euch Reichen abläuft, aber ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Keiner kann es auf Dauer aushalten, den Schmerz zu verdrängen. Denn dann zerstört er dich ganz langsam von innen."
Ich zucke nur die Schultern. Ein anderes Thema muss her und das schleunigst. "Ich merke mir dein Angebot, mich bei dir auszuheulen, falls ich es nicht mehr verkrafte. Aber weißt du was, Liam? So weit wird es niemals kommen." Ich übersehe eine Stufe und kann mich gerade noch so am Geländer stützen, während Liam schon eine Hand nach mir ausstreckt, um mich aufzufangen. Ich beschleunige meine Schritte, um endlich aus dieser stickigen U-Bahn Station zu flüchten.
"Wir werden sehen", gibt Liam von sich und klingt dabei äußerst zuversichtlich. Ich erwidere nichts darauf, sondern drehe mich einmal im Kreis, um meine Orientierung wiederzufinden. Doch keines der Hochhäuser kommt mir auch nur ansatzweise bekannt vor. Wo bin ich hier bloß gelandet?
"Wie war dein Date?", fragt Liam und reißt mich aus meinem Schweigen.
"Was geht dich das an?", frage ich und schaue mich um, während ich unsicher von einem Bein auf das andere trete.
"Mich interessiert es, weil wir Normalen so was nicht haben. Also?"
"Bei euch gibt es keine Dates?", frage ich überrascht und Liam lächelt.
"Ne."
Ich schüttele fassungslos den Kopf. "Habt ihr es gut."
Liam zuckt die Schultern. "Vielleicht. Also? Dein Date?"
"Ja. War gut", sage ich, obwohl ich ewig davon hätte erzählen können, doch ich halte mich zurück, als ich seinen finsteren Blick bemerke. Irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass es Liam nicht ganz passt.
"Nur gut?", hakt Liam nach und kickt einen Stein über die Straße.
"Ich weiß nicht, was dich das angeht", weiche ich aus und entscheide mich, den Weg Richtung Süden einzuschlagen.
"Na gut. Wohin willst du eigentlich laufen?"
"Äh...nach Hause?"
Liam lacht laut auf, auch wenn ich nicht verstehe, was daran lustig ist. "Soll ich dir den Weg zeigen?"
"Wow, nicht nur fürsorglich sondern auch hilfsbereit."
"Du hast meine Frage nicht beantwortet", erinnert mich Liam.
"Ich weiß."
"Und?"
"Ja, bitte."
"Oh nein. Ich will, dass du mir sagst, dass du unterwürfige Miss Reich deinen super netten und vor allem lieben Idiot nach dem Weg fragst."
"Niemals."
"Na schön, dann wirst du nicht nach Hause finden und vor Kälte sterben", sagt Liam und grinst.
"Arschloch. Okay, ich, die unterwürfige Miss Reich, frage dich, den super netten Idioten, ob du mir den Weg nach Hause zeigst."
"Du hast was vergessen."
"Ich weiß."
Liam fängt an zu lachen. "Ich will aber alles hören."
"Das ist aber leider nicht realitätsgetreu. Du bist alles andere als lieb."
"Mir doch egal", sagt Liam und verschränkt lässig die Arme vor der Brust.
"Ich werde es nicht sagen."
"Na gut. Option zwei."
"Was ist Option zwei?", frage ich verwirrt und runzele die Stirn.
"Ein Date. Du und ich."
Ich lache trocken. Das kann er unmöglich ernst meinen.
"Träum weiter", sage ich mit fester Stimme.
"Oder du sagst alles", schlägt Liam vor.
"Nein. Weißt du was? Ich werde einfach jemanden fragen", sage ich, woraufhin Liam nur lacht.
"Komm gut nach Hause, Grace."
Ich drehe mich um und erblicke ein 'arme', alte Frau, die auf einer Bank sitzt und Löcher in die Luft starrt.
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