Die wundersame Wende der Rosa M. Sparks
Es war genau so wie jedes Jahr. Im Trubel des vorweihnachtlichen Eifers klingelte bei Rosa M. Sparks das alte Wählscheibentelefon: »Hallo« fragte eine fröhliche Stimme, die zeitgleich doch sehr aufgeregt erschien. Rosa freute sich.Es war ihre Tochter Mireille, die am anderen Ende der Telefonverbindung vor einem wohl ebenso altem Wählscheibentelefon sitzen müsste.
»Krisengespräch« sagte sie dann, ohne auf die eigentliche Unterhaltung einzugehen. In Ihrer Hand hatte sich ein kleiner beschriebener Zettel entfaltet, Buchstaben waren krakelig geschrieben - irgendwas, was sie in den letzten Tagen bewegt haben müsste.
Rosa war gewöhnt darin, dass sie in dieser Zeit mehrere Anrufe ihrer Tochter erhielt. Manchmal zählte sie die Schneeflocken, bis es passierte. Dann starrte sie durch ihr Fenster, auf den Wald, Rosa arbeitete im obersten Geschoss einer Bank, und sah die Eiskristalle langsam hernieder sinken. Mireille erzählte dann, wie schlecht es ihr ginge, wie die Tage verliefen und wie ihr ganz persönliches Weihnachtsfest aussehen sollte. Sie sprach dann von schwarzen Tellern mit Besteck in Messingtönen, einer langen Tafel, einem hohen Christbaum mit goldenen und roten kugeln, auf welchem ebenfalls ein goldener Stern thronte. Es war alles sehr phantastisch, wie sie das so erzählte, wie ihre Träume waren, wie Mireille sich einfach Dinge wünschte. Mireille.
Östersund 1941: die Stadt am Storsjön war inmitten eines riesigen Weltkrieges. Die Menschen hatten sich verändert, sie wussten nicht was zu tun war. Schweden verhielt sich recht zurückhaltend und so taten es auch die Menschen. Was »Recht« und »Unrecht« ist, konnte niemand mehr so wirklich beschrieben. Sie verstanden sich als »unpolitische«, jeder hatte eine Meinung, aber irgendwie auch keine, die jeder andere irgendwie akzeptieren musste und sollte, es war ja schließlich Schweden. Nur ein Land von Hundertsechsundneunzig seiner Zeit, ein einzelner hätte sowieso nichts verändern können. Es war Krieg, aber man lebte. Seit Dezember 1940 war Deutschland der bedeutendste Wirtschaftsfaktor. Diesen Luxus konnte man nicht einfach so aufgeben, so »böse« war dieser Faschismus aus Deutschland gar nicht.
Dieselbe Meinung hatte auch Mireilles Vater Torsten. Er war bedeutender Anhänger der faschistischen Bewegung und hatte keine Scham, seine Überzeugung überall kundzutun. Fremde nickten nur, andere liefen vorbei, wenn er dann so etwas sagte und ganz andere applaudierten dann. Dann sagten sie, dass Juden Verbrecher wären, sie seien »die Mutter aller Probleme«, die Rothschilds kontrollierten die Welt.
Mireille wusste nicht, wie sie damit umzugehen hatte. Sie war eine bedeutende Demokratin, überzeugt, standhaft und schlau genug zu verstehen, Wass die Pauschalisierung von einer Menschengruppe nicht zu rechtfertigen war, dass der Tod von unzähligen Gläubigen kein politisches Mittel war, welches man zu tolerieren hatte. Man bezog sich immer auf den »guten christlichen Glauben«, der aber nur dann etwas wert war, wenn Landsleute starben.
Jedenfalls hatte Mireille sich die Tage wieder Gedanken gemacht, konnte nicht schlafen - was sollte sie nur tun? Sie war abhängig von ihren Eltern, sie brauchte das Geld - aber sie konnte eine menschenfeindliche Meinung nicht akzeptieren. Sie verbot es sich, sie hatte ihre eigene Meinung. »Wie kannst du nur verlangen, dass man deine Meinung akzeptiert, wenn du gleichzeitig die andere nicht anhörst?«, rief man ihr mal entgegen. In diesem Moment verstand sie, dass die Überzeugung »Juden hatten zu sterben« längst eine legitime Äußerung war. Es war nichts anderes als: »Menschen hatten zu sterben«, aber niemand hätte jemals diesen Satz geäußert.
Mireille dachte, dass das viele persönliche Gründe haben musste. Ihr Vater war nicht dumm, er war aber einfach nicht anständig. Er schmatzte laut bei Tisch, er lief halbnackt durch die Wohnung, wenn Besuch erschien, scheute sich nicht seinen Unmut über schlechte Geschenke zu äußern und war eigentlich ganz infantil. Das sagte Mireille auch Rosa, aber sie sagte nichts dazu. Hatte Rosa das noch nicht in ihrem Leben mitbekommen? Dachte Rosa, dass dieses Verhalten ganz in Ordnung wäre, dass man sich so verhalten müsse, wenn man älter ist. Mireille wurde anders erzogen - dafür war sie auch mehr als nur dankbar.
In Östersund schneite es, als Mireille bei Rosa anrief. Die Schneeflocken tanzten unbekümmert nach unten, sie rieselten leid hernieder und bedeckten die Straßen, die langen Wege der großen Stadt am Wasser. Eintausendsechshundert Kilometer weiter würden sie die Häupter von kämpfenden Soldaten und deren Gewehren bedecken. Es schien so irreal. Und doch war es genau wie in den anderen Jahren, als Mireille bei ihrer Mutter anrief, alles war genau so wie sonst. Lediglich ein Umstand hatte sich verändert, ein Faktor löste die Wende bei Rosa M. Sparks aus:
Mireille hatte angefangen, die Geschichten wahr werden zu lassen. Mireille schrieb Erzählungen, kleine Gedanken, die sie bewegten, wie ihre eigene Zukunft aussehen sollte, wie sie sich fühlte. Sie tat es, damit sie nicht darüber reden müsse, sie tat es, weil sie es mochte. An diesem Tag, dem achtzehnten Dezember, erzählte sie alles, was sie niederschrieb, was auf ihrem kleinen Zettel notiert hatte. Mireille sprach über die Ängste, die Gedanken, darüber, wie sie sich den Kopf zerbrach. Wie sollte das Leben weitergehen, wenn niemand sie unterstützte. Sie war ein Bollwerk, sie hätte sich mit jedem in einen Kampf verwickelt - aber sie brauchte Rückendeckung. Und die hatte sie nicht. Sie hatte nicht die Unterstützung, die sie sich erhoffte, die notwendig war, damit es ihr gut ging.
Zuhause musste sie sich verstellen. Sie sprach wenig darüber, wer sie war und was sie mochte. Denn es hätte zwei Wege gegeben: Der erste würde so aussehen, dass man ihr ein »Aha« entgegnete und der andere würde »Warum?« teilweise auch: »Wieso?« lauten. Dabei ist zu beachten, dass der Hintergrund dieser unbedachten Fragerei nicht im Sinne der Interessensgewinnung stand, sondern darin, dass man ihr Leben für »unehrenhaft« und »komisch« hielt. Warum tat sie eben das, was sie tat, warum machte sie nicht etwas anderes, warum war man denn nicht gleich wie sie.
Mireille stand schon immer zu sich und zu ihren Positionen. Sie schämte sich nicht für Fehler, für Vergehen, für das, was ihr dann manchmal passierte. Die Scham ihres Verhaltens bezeugten andere, viele andere, die ihr Leben nicht recht war. Mireille fühlte sich alleine. Mireille sagte Rosa, wie sehr sich nun etwas verändern müsste und wie doch alles nur auf ein einsames, endloses Ziel hinauslaufen würde, wenn Rosa nicht handelte. Beziehungsweise, wenn Rosa so handelte, wie die Jahre zuvor.
In all den Telefonaten, die Mireille dann mit Rosa geführt hatte, jedes Jahr kurz vor Weihnachten, bat Mireille um Unterstützung. Diplomatisch versuchte sie die Umstände zu umgehen, sie zu schildern, sie handfest zu machen und sie irgendwie zu regeln. Das hatte Mireille schon immer zu tun: Sie regelte die Angelegenheiten, die eigentlich in die Welt von Erwachsenen gehörten, das tat sie bereits als ganz kleines Kind, wenn sie sich dann bei ihrem Vater entschuldigte, weil er ihr Unrecht getan hatte. Schicksale schreibt das Leben und das Leben ist nicht immer gerecht. Das hatte Mireille schon sehr früh lernen müssen, früher, als manch anderer. Oft kam sie damit zu recht, jetzt holte sie das Schicksal ein, ihr Vergehen, welches sie sich nicht verzeihen konnte. - Wie auch? Sie hatte so gehandelt, wie sie es erlernt hatte und wie man es von ihr erwartete. Sie war eine kreierte Zeitbombe die ihren Zenit erreicht hatte. Es würde etwas passieren, wenn man sie nicht schützte.
Der Drang zur Selbstzerstörung war schon immer in ihr angelegt, das wusste sie. Sie musste es tun, man wollte es bis sie es schließlich ebenfalls wollte. Und so sagte sie das ihrer Mutter und ihre Mutter wurde in diesem Moment sichtlich sehr ruhig, sie blickte hinunter auf den Schreibtisch, blickte auf die Bilder ihrer Tochter, ihres Mannes, drehte den Kopf und überflog den Stapel an Papieren, der sich vor ihr aufbaute. Rosa hatte verstanden, worum es ging. Sie verstand, was zwischen den Zeilen stand in den Büchern, die Mireille veröffentlichte. Mireille setzte für Rosa das Puzzle zusammen, dessen einzelne Teile ihrer Mutter vollkommen bewusst waren - sie aber nie im Konstrukt eines kompletten Ensembles gesehen hatte. Erst durch das letzte Teil, durch die Offenbarung der Mireille persönlich, ergab sich Rosa ein Bild eines Zustandes, der nicht mehr im Interesse und schon gar nicht ihrer Meinung widerspiegelte.
Das Telefonat endete und Mireille saß im Bus des öffentlichen Verkehrsnetzes. Sie war glücklich, sie hatte das gesagt, was gesagt werden musste. Sie nahm die Rolle eines Kindes ein, welches bei der Mutter Schutz suchte - so, wie es sein musste. So, wie es eigentlich selbstverständlich war. Sie hatte das eigentliche Kind, einen Parasiten vertrieben und hatte sich den Platz rechtmäßig zurückerobert. Sie triumphierte, richtete die Krone des unverstandenen Kindes und das Volk jubelte, sie war zurück auf ihrem Stammplatz und hatte alles auf eine Karte gesetzt: Nur die Zeit hätte eine Antwort darauf, ob ihr Vorgehen richtig oder falsch war.
Allerdings war Mireille auch sehr unglücklich. Sie hatte sich in eine Position gestellt, aus der sich vor Jahren befreien musste, um nicht unterzugehen, um sich zu behaupten. Sie konnte Rosa nicht mit dem belasten, was ihr so sehr auf dem Herzen lag. Sie konnte ihrer Mutter doch nicht erzählen, welche Gedanken sie sich machte, welche Sorgen sie hatte. Das ging nicht, dafür schämte sich nicht. Mireille schämte sich an diesem Tag noch sehr lange.
Die Stunden vergingen und Weihnachten rückte näher. Der Salon von Rosa und Thorsten war genau so geschmückt, wie die Jahre zuvor auch. In der Ecke stand ein Tannenbaum, der sich mit sitzen Nadeln zu schmücken versuchte und an welchem die Mutter die Kugeln so gehängt hatte, dass jede ihren rechtmäßigen Platz erhielt. Die Umgebung war in braun gehalten, durfte keine Ecken und Kanten haben und in der Mitte präsentierte sich ein alter Tisch, vier Stühle fanden an ihm Platz.
In den vergangenen Jahren war die Streitfrage um das Kind im Haus immer an ihren Vater gegangen, der Kampf war unbezwingbar, sie hatte keine Chance ihn zu gewinnen. Thorsten verfügte über Waffen, die Mireille nicht zu standen. Jahrelang stand sie im Fokus eines Artilleriegeschützes, in der Schusslinie, im Feuerhagel. Und immer dachte sie, sie hätte das auszuhalten, sie hätte sich zu rechtfertigen, warum und wieso. Erst in diesem Jahr verstand sie es, dass es nicht so war. Dass sie nicht so behandelt werden zu hatte, dass man sie zu beschützen hatte. Mireille lernte eine so wichtige Lektion in ihrem Leben so spät.
Und da passierte es: Als der nächste Schuss sie treffen sollte, als sich das Artilleriegeschütz aufstellte und auf das schlagende Herz der Mireille Parks zielte, sie nicht ausweichen konnte, da stieß Rosa sie aus dem Fadenkreuz und stellte sich. Sie opferte sich für das Kind, eine Handlung, die von so viel Liebe zeugte, wie kaum etwas anderes. Am Boden sah Mireille zu ihrer Mutter, die standhaft blieb aber im Beschuss zu Grunde ging. Und Mireille schämte sich erneut. So hatte sie sich Weihnachten nicht vorgestellt.
Denn Mireille tauschte nicht nur die Position mit Thorsten, sie tauschte sie mit ihrer eigenen Mutter. Mireille war es nun, die schweigend zu sah, weil sie nicht selbst getroffen werden wollte. Mireille war es, die nun zwischen den Stühlen saß, die nicht wusste, was sie machen sollte. Und so war das Erleben dieses Festes das Gleiche: Die Hilflosigkeit dieser Tage, das Schweigen von Menschen und die Unfähigkeit, zurückzuschlagen.
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