44. Kapitel - Was denkst Du?
Als ich Elif und Flynn auf der kleinen Bühne entdeckte, blieb ich vor ihnen stehen und legte den Kopf schief. „Kann ich helfen?", fragte ich und zog so die Blicke der beiden auf mich. Flynns Augenbrauen schossen in die Höhe, wohingegen Elif mir ein kurzes Lächeln zuwarf und sich anschließend wieder vor die Box hockte. „Du kannst gleich mal singen, Süße."
Ich nickte und sah wieder Flynn an, der den Daumen nach oben streckte, während er vom Podium trat. „Sieht top aus." Mit diesen Worten verschwand er hinter der Theke. Ich lächelte.
„Schau mal, ob du die Lieder da auf den Blättern kennst", Elif deutete in die Richtung des Tisches, an dem William am vorigen Tag gesessen hatte und ich ging darauf zu. Rund zehn Blätter lagen verteilt auf dem Tisch. Ich griff nach dem ersten und schluckte nervös, als ich sah, dass der Songtext auf englisch war.
„Ich", stammelte ich. „Ich kann nicht so gut Englisch lesen."
Elifs Kopf schoss in meine Richtung, bevor sie von der Bühne hüpfte und auf mich zu kam. „Warte." Sie zog ihr Handy aus der Tasche, sah mir kurz über die Schulter auf den Songtext und tippte anschließend etwas auf den Bildschirm ein. Als plötzlich laute Musik aus der kleinen Box drang, zuckte ich erschrocken zusammen. „Holy shit", fluchte Elif, bevor der Song leiser wurde.
Ihr Blick lag aufmerksam auf mir, während ich dem Lied lauschte. „Kennst du den Song?"
Ich schüttelte den Kopf.
Sie schaute auf das nächste Blatt und tippte wieder etwas auf ihrem Handy ein. „Den denn?"
Ein bekanntes Lied drang aus dem Lautsprecher, während ich lächelnd nickte. Zu den Songs von Adele hatten Muma und ich früher immer mitgesungen, wenn ich am Esstisch etwas für die Schule und sie das Essen zubereitet hatte.
„Super", Elif legte den Songtext zur Seite und tippte den nächsten Titel ein.
Am Ende hatten wir sechs Songs, die ich kannte und somit vermutlich auch der überwiegende Teil der englischen Bevölkerung.
Flynn kam mit einem Glas Wasser in der Hand zurück zu mir hinter die Theke, nachdem Elif die Eingangstür geöffnet hatte, und drückte es mir in die Hände. „Ich meine mich erinnern zu können, das sollte ganz gut für den Hals sein." Er grinste mich an, als ich das Glas dankbar entgegennahm. „Danke, Flynn."
Er nickte und musterte die ersten Gäste, die nach und nach eintrudelten, bevor er sich verabschiedete und zurück im Flur verschwand.
Es war gerade mal drei Uhr nachmittags, weshalb Flynn sich nicht hetzen musste. Mein Herz hingegen schlug mir bereits bis zum Hals. Äußerlich versuchte ich jedoch so gelassen wie möglich auszusehen, bis sich plötzlich jemand hinter mir räusperte.
Erschrocken fuhr ich zusammen, während mein Blick hektisch hinter mich glitt. William blickte mir geradewegs in die Augen, während er sich überschwänglich langsam seitlich gegen die Theke lehnte. „Wie geht's dir?"
Seine Stimme klang zu meinem Erstaunen nicht mehr so distanziert wie noch vor einem Tag, sondern eher freundlich. Vielleicht sogar interessiert.
Ich nickte vorsichtig. „Ganz gut."
Seine Augen wanderten von mir zu Elif und verharrten am Mikrofon, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Bist du bereit?"
Ich glaube, ich habe mich noch nie richtig zu etwas bereit gefühlt.
„Bestimmt", antwortete ich und wich seinem Blick aus, indem ich den älteren Mann beobachtete, der gerade an einem Tisch Platz nahm.
„Sehr gut." William richtete sich wieder zu voller Größe auf. „Dann kannst du ja anfangen."
Mein Kopf schoss zurück in seine Richtung. Ich blinzelte, sah zur Bühne, dann wieder zurück zu ihm und nickte zögernd.
William winkte Elif zu sich und redete ruhig auf sie ein, während ich bereits zum Podium lief. Die Zeit raste an mir vorbei, sodass ich viel zu schnell am Mikrofon ankam und das Blatt mit dem Songtext in meiner Hand anfing zu zittern. Fünf fremde Augenpaare zuckten interessiert in meine Richtung, als die leise Melodie des ersten Lieds schon aus der Box drang und mein Herz aus allen Wolken fiel.
Konsterniert glitt mein Blick über die Menge.
Ich versuchte meine Atmung zu beruhigen, versuchte meine Knie zu stabilisieren, aber es brachte nichts.
Ich schloss atemlos die Augen, konzentrierte mich auf die Worte, die dort in meinen Händen bebten.
Ich bin alleine. Mein Herz wurde langsamer.
Ich bin ruhig. Meine Beine hörten auf zu wackeln.
Ich kann singen. Meine Stimmbänder vibrierten.
Die englischen Worte tummelten sich in meinen Gedanken, stellten sich hintereinander auf, mischten sich mit der Kraft, die sich in meinen Lungen sammelte und rannten über meine Lippen.
Die lauten Wellen, die über mir zusammenbrachen, wurden leiser. Ich legte die Hand um das Mikrofon und atmete lächelnd aus, während die Bedeutung der Worte auf dem Blatt in meinen Händen schwand. Vokale und Konsonanten verschwanden in der Dunkelheit meiner geschlossenen Augen und tasteten sich als Töne über meine Lippen. Meine Stimme bahnte sich einen Weg zu der Melodie, die aus dem Lautsprecher drang, fädelte sich spielerisch durch das Lied. Taktil mischten sich die Bässe, Klavierschläge und die gezupften Saiten der Gitarren mit den Farben meiner Stimme.
Die Melodie schreckte zurück, wurde immer leiser, während ich die Augen zusammenpresste und meine Stimme den letzten Ton hell in den Händen hielt, bis auch sie verstummte.
***
Als ich die Augen wieder öffnete, starrten mich acht Augenpaare an. Nach ein paar Sekunden hob sich der Nebel von meinen Sinnen und die Welt begann sich wieder zu drehen, während der kleine Applaus langsam zu mir vordrang. Ich lächelte, plötzlich wieder etwas wackliger auf den Beinen und glitt mit dem Blick suchend über die Gesichter. William lehnte mit dem Rücken an dem Tresen und starrte mir wieder direkt in die Augen.
Gerade als ich von der Bühne treten wollte, kam Elif um die Ecke und hielt mir ein neues Blatt Papier und ein Glas Wasser hin. „Brauchst du eine Pause oder kannst du noch?"
Ich nahm das Blatt schweigend entgegen und las mir den Songtext durch, während ich zurück zum Mikrofon ging. Ich beobachtete die Menschen, die in den vergangenen Minuten das Restaurant betreten hatten. Mittlerweile zählte ich neun.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein, lauschte den neuen Instrumenten des Songs, bevor der Sauerstoff meine Lungen verließ und ich wieder zu singen anfing.
***
Mit jedem Song schwanden die Hemmungen, die Befangenheit und die Angst weiter und hinterließen ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch.
Zwischen jedem weiteren Lied machte ich eine kurze Pause, verschwand zu Flynn nach hinten und kippte mehrere Gläser kaltes Wasser meine Kehle hinunter, während er mich von der Seite schiefangrinste.
Ich grinste zurück.
Bis das Licht, das von draußen durch die Fenster schien, verblasste, sang ich die sechs Lieder, die Elif rausgesucht hatte immer wieder von vorne und ignorierte dabei das Kratzen, das sich langsam in meinem Hals bemerkbar machte.
Nach dem zwölften Lied wank mich Elif zu sich hinter die Theke und ich lief zu ihr. „Ja?" Ich ließ den Blick kurz über die fast zwanzig Menschen wandern, bevor ich Elif wieder fragend musterte. „Alles okay?", fragte ich und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
Sie nickte und blinzelte kurz. „Ja", Elif blickte kurz über meine Schulter. „Also nein."
Ich starrte sie verwirrt an.
„William sagt, dass es für heute reicht." Sie zuckte kurz mit den Mundwinkeln, ehe sie in Richtung Küche wies. „Es ist schon halb neun. Du kannst Flynn noch schnell beim Aufräumen helfen."
Ich nickte und verschwand im Gang.
„Weißt du, was ich gerade denke?", begrüßte Flynn mich, bevor ich überhaupt erst aus dem Schatten des Flurs getreten war.
„Wäre irgendwie komisch, wenn ja", erwiderte ich und er lachte kurz auf. Ich hielt das dreckige Besteck unter heißes Wasser und wusch es mit einem alten Schwamm sauber.
„Du kannst eigentlich ganz gut singen, habe ich gedacht."
Ich schaute auf und begegnete seinem Blick, als er plötzlich losprustete.
„Was?" Ich starrte ihn verständnislos an.
„Keine Ahnung." Er lachte immer noch. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du das warst."
Mein Herz stolperte überrascht und überschlug sich mehrmals, bevor es jubelnd gegen meinen Brustkorb rannte.
„Oh." Ich lächelte etwas ungelenk.
„Das sollte kein Kompliment sein." Er schaltete das Radio aus. „Also doch, irgendwie schon." Er seufzte und lachte leise. „Ist nur noch nicht so richtig da oben angekommen." Er tippte sich an die Stirn. „Na ja, egal. Musst du dich noch umziehen?"
Ich nickte und folgte ihm etwas verstört nach hinten.
William kippte irgendwelche Flüssigkeiten in mehrere Gläser und beachtete Flynn und mich nicht weiter, als wir zu dem Raum hinter der Bühne gingen. „Zieh du dich schon Mal um, ich komm sofort." Mit diesen Worten ließ er mich alleine zurück.
Ich zog mich um, löste das Haargummi aus meinen Haaren und legte es auf die kleine Kommode, bevor ich wieder aus dem Raum trat und zu Elif lief.
„Kann ich noch irgendwas machen?", fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Wir sehen uns nächste Woche, Süße." Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln, ehe sie zügig zum nächsten Tisch schritt und die Getränkebestellungen aufnahm.
Ich winkte Flynn zum Abschied und verschwand durch den Hinterausgang nach draußen. Die dunkelblauen Augen, die sich dabei in meinen Rücken zu bohren schienen, versuchte ich dabei zu ignorieren.
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