18. Kapitel - Erinnern
Ich rechnete nicht mit dem Zuspruch meines Bruders, weshalb ich umso überraschter war, als er langsam nickte. „Du hast Recht", sagte er leise und ich beobachtete ihn dabei, wie er sich an der Lehne eines Stuhls festhielt, als könnte er nicht mehr lange stehen.
Oma stützte sich an dem Rand eines Tisches ab, während sie aufstand und Malek besorgt musterte. „Ihr solltet euch ausruhen. Morgen werden wir genug Zeit haben, um über alles zu reden." Auch bei ihren Worten merkte ich, dass sie sich unglaublich schwach fühlte.
Dafür schämte sie sich. Für ihr Schwachsein.
„Ja", stimmte ich ihr leise zu und richtete mich ebenfalls auf. Wortlos ging ich zu Tarek, der sich unwohl in den Schatten von uns gestellt hatte, ehe ich ihm ein schwaches Lächeln schenkte, in der Hoffnung, ihm damit zeigen zu können, wie dankbar ich ihm dafür war, dass er hier war. Dass er kein Wort darüber verlor, was hier gerade passierte.
Mein Blick glitt zurück zu dem gedimmten Licht, das Schatten auf die Stufen warf, die nach oben führten.
„Ich würde ja gerne sagen, dass ihr euch bis Morgen entscheiden könnt, aber je schneller desto besser", erklärte Ryan und ich sah, wie er in seinem Rucksack nach etwas suchte. Er zog ein kleines Handy heraus. „Also, seid ihr euch sicher?", fragte er und sah uns dabei nacheinander aufmerksam in die Augen.
„Kann ich mitkommen?", erklang plötzlich Tareks Stimme und mein Kopf schoss in seine Richtung. „Ich habe Geld", fügte er hinzu und Ryans Augenbrauen wanderten in die Höhe, als würde er daran zweifeln, dass Tarek wusste, wie viel Geld es kosten würde. „Genug", antwortete Tarek auf seine unausgesprochene Frage.
„Gebt mir eine Minute, okay?" Ryan hielt das Handy in die Höhe, um uns klar zu machen, dass er den LKW-Fahrer anrufen würde. Malek und ich nickten. „Da sind Sie ungestört", rief meine Großmutter ihm hinterher und deutete währenddessen auf die Tür, hinter der sich das Gäste-WC befand. Zumindest früher.
„Komm, wir gehen nach oben", richtete ich mich an Malek und legte seinen Arm um meine Schulter, damit er sich an mir festhalten konnte.
Tarek folgte uns, während wir die Treppe hinauf gingen und einen Gang erreichten, der mit Nostalgie gefüllt war.
Als wir den engen Weg entlang gingen, musterte ich die bekannten Möbel in den Ecken und Bilder, die als Erinnerung an den Wänden hingen. Ich versuchte den Kloß in meinem Hals zu ignorieren und öffnete stattdessen eine der rechten Türen. Ich taumelte ein wenig, bevor wir in den Raum traten, da sich die Tür nur schwer öffnen ließ. Das Zuhause meiner Großmutter war so eng und voll, dass Malek und ich nur geradeso durch den Türrahmen passten.
Ich wusste, dass Oma wollte, dass wir hier schliefen, denn früher, als Malek noch mein einziger Bruder gewesen war, hatten wir immer hier übernachtet. Dadurch war dieses Zimmer zu einem Souvenir aus schallendem Gelächter und lauten Worten geworden.
Aus Erinnerungen.
In dem kleinen Raum standen mehrere Schränke an den Wänden und Kisten in den Ecken. Es schien, als hätte sich nichts verändert. Selbst die Matratze, die Oma extra für Malek und mich gekauft hatte, lag neben dem Holzbett, auf das wir zugingen.
Vorsichtig ließ ich Malek auf das Bett gleiten, das unter seinem Gewicht knarzte, ehe ich Aadil an seine Brust legte. „Liegst du gut?", fragte ich und breitete die Decke über ihren Körpern aus, die am Ende der Matratze gelegen hatte.
„Ja", erwiderte er mit geschlossenen Augen und ich setzte mich behutsam neben ihn an den Rand des Bettes. Als ich spürte, wie Tarek immer noch unbehaglich in der Nähe der Tür stand und uns schweigend beobachtete.
„Du kannst dich dort hinlegen", bot ich ihm an und versuchte zu lächeln, damit er sich hier zumindest ein wenig wohler fühlen konnte. Ich verstand, warum er das starke Gefühl hatte, fehl am Platz zu sein. Wäre ich an seiner Stelle würde ich in diesem Moment vermutlich überall lieber sein als hier.
Es tat mir leid, dass ich an seinem Gefühl nichts ändern konnte, denn auch wenn ich ganz andere Probleme hatte, würde ich ihm gerne helfen.
Er nickte und ließ sich leise auf die Matratze auf dem Boden sinken.
Minuten vergingen, in denen ich nicht von Maleks Seite wich und wartete, bis er eingeschlafen war. Als sein Atem immer ruhiger und tiefer wurde, schlich ich auf Zehenspitzen zurück zur Tür und blickte noch einmal zu den beiden zurück, die sich in ihre Träume geflüchtet hatten.
Ich schloss vorsichtig die Tür hinter mir und atmete zittrig aus. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich lautlos gegen die Tür sinken und versuchte das Chaos, das in meinem Körper herrschte, zu sortieren. Ich schaffe das. Ich muss nur weitermachen.
Leise tapste ich zu der Tür, hinter der früher das Badezimmer gewesen war, und öffnete sie. Meine Hand tastete über die kalten Fliesen nach dem Lichtschalter, ehe weißes Licht den Raum flutete und erneut Erinnerungen in meinen Gedanken Wurzeln schlugen, als mir die vergilbten Wände entgegenstarrten. Nichts hatte sich verändert. Alles war gleichgeblieben.
Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss und ich zuckte leicht zusammen. Zögernd ging ich auf die Dusche zu und fuhr nachdenklich über den Griff. Als ich ihn zur Seite drehte, schoss mit einem Quietschen kaltes Wasser aus dem Duschkopf und ich wich einige Schritte zurück.
Sekunden vergingen, in denen ich das klare Wasser dabei beobachtete, wie es anfing zu dampfen. Unsicher ließ ich die Jacke über meine Schultern gleiten, legte sie auf den Stuhl, ehe ich erstarrte. Über dem Tisch, vor dem der Stuhl stand, hing ein Spiegel. Ein Mädchen mit geweiteten Augen starrte mir entgegen und ich ging zaghaft auf mein eigenes Abbild zu. Es war Monate her, seitdem ich zum letzten Mal in einen Spiegel geschaut hatte.
Ich hatte mich verändert.
Meine dunklen Augen versteckten sich unter verknoteten, dicken Locken und ich strich sie mit zitternden Händen hinter die Ohren. Mein Gesicht war schmal geworden. Die Wangenknochen ließen mich älter wirken. Meine Augenbrauen waren dichter geworden, während meine Lippen rissig und trocken aussahen. Vorsichtig fuhr ich mir mit den Fingern über die Lippen. Meine Augen waren leer, als hätten mich die Farben meines Lebens verlassen. Angst flackerte in meinem Blick auf und ich wich einen Schritt zurück.
„Ali?" Ein Klopfen ließ mich zusammenfahren und ich drehte mich erschrocken zur Tür. Mein Herz hämmerte ängstlich gegen meinen Brustkorb, während ich hilflos nach Dingen suchte, an die ich mich klammern konnte.
Ich atme.
Ich bin noch da.
„Ali? Hörst du mich?" Bei den Worten meiner Oma hob ich die Hand und öffnete die Tür. „Ja." Meine Stimme klang rau und gebrochen.
Sie zwang sich zu einem verhaltenen Lächeln und ich versuchte es zu erwidern. „Tut mir leid, ich wollte dir nur sagen, dass auf der Heizung ein Kopftuch für dich liegt und hier, das ist für dich."
Meine Augen wurden groß, als sie mir frische Kleidung entgegenhielt und ich sie annahm. „Danke, Oma."
Ihr Lächeln wich nicht von ihren Lippen. „Du weißt, wo du mich findest", erinnerte sie mich und ich nickte dankbar.
Sie erwiderte es und ich schloss die Tür. Mit geschlossenen Augen ließ ich den Kopf gegen die Tür sinken und starrte für einen kurzen Moment an die fleckige Decke.
Übermorgen.
Lautlos legte ich den Haufen mit den neuen Klamotten auf den Tisch vor dem Spiegel und zog mir die restlichen Klamotten aus. Ich legte sie gefaltet auf die Jacke und trat unter die laufende Dusche, ohne ein weiteres Mal in den Spiegel zu sehen.
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