16. Kapitel - Ihre Worte
Mein Vater hatte damals gesagt, das Abschiednehmen von Zurückbleibenden wäre das Los der Vorwärtsschreitenden.
Diese Worte waren damals zum Leitfaden geworden, an den ich mich geklammert hatte, in der Hoffnung, er würde mich aus diesen dunklen Zeiten holen.
Nach ihrem Tod war uns allen bewusst, dass wir nicht einfach so weiterleben konnten, denn alles schien uns an sie zu erinnern. Die bunten Bilder, die sie überall im Haus aufgehängt hatte. Ihre Schwäche für Duftkerzen, deren Düfte noch lange schwer in der Luft gelegen hatten. Ich konnte mich noch an ihr Lächeln erinnern. Ein echtes Lächeln, das schöner nicht hätte sein können.
„Hey." Tarek riss mich zurück aus den Gedanken und ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Als sich unsere Blicke begegneten, konnte ich es auch in seinen Augen erkennen. Für uns beide stellte die Zukunft zugleich unsere größte Angst und unsere hellste Hoffnung dar. Ich lächelte leicht.
„Alles okay?" Tarek hob fragend die Augenbrauen, ehe ich eilig nickte. Schweigend bogen wir in die nächste Gasse ab und der Geruch von Alkohol und Erbrochenem stach mir in die Nase. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Ryan blindlings entschied, wo lang wir gingen, denn es waren immer die Gassen, aus denen das meiste Licht kam, für die er sich entschied. Mir war gar nicht aufgefallen, dass die anderen stehen geblieben waren, bis sich die Gasse plötzlich öffnete und sich ein kleiner Hof auftat.
„Erkennst du hier irgendetwas wieder?", fragte Ryan und trat langsam neben mich. Zögernd schüttelte ich den Kopf, denn ich schämte mich dafür, uns nicht helfen zu können.
Ryan nickte, bevor er weiterging und Tarek und ich ihm folgten. Aadil hatte den Kopf neugierig nach vorne gerichtet und schien die Gegend zu beobachten. Die Sonnenstrahlen, die der Nachmittag übriggelassen hatten, schienen über die Dächer und lugten auf den Hof hinunter.
Vereinzelte Menschen bogen in andere Gassen ab, während ich mich auf die Umgebung konzentrierte und versuchte mich an frühere Zeiten zu erinnern. An die Zeit, in der Malek und ich lachend durch die bunten Straßen gelaufen waren und uns darum gestritten hatten, wer als erstes den anderen fing.
Als mein Blick an einem Schild hängen blieb, hielt ich inne. Die Schrift war mit Rost überzogen und sah alt aus, aber der Name war noch zu erkennen. Aiantos.
Ryan hatte mir bereits gesagt, dass wir in Aiantos waren, aber es zu lesen, war noch einmal etwas Anderes. Die Buchstaben, die zwar nicht auf meiner Sprache waren, aber die ich dennoch verstand, hüpften unruhig durch meinen Kopf.
Ich schaute mich um, während sich die Orientierung zaghaft durch meine Gedanken tastete. „Ich glaube, ich weiß, wo wir sind", dachte ich laut und sah hinüber zu Tarek, Ryan und Malek.
„Wir müssen da lang", erklärte ich, als Tarek abrupt stolperte und Ryan ihn automatisch mit der freien Hand am T-Shirt festhielt. Sofort lief ich auf die beiden zu und legte Tareks Arm um meine Schulter, um ihn zu stützen. „Los."
Meine Schritte waren plötzlich nicht mehr unsicher, weil ich nun durch die Straßen einer alten Heimat lief. Zwar war ich nur wenige Male mit meiner Familie bei meiner Großmutter gewesen, jedoch brauchte es momentan nicht viel, um mir eine Heimat zu sein. Die Erinnerungen, die ich mit dieser Stadt verband, waren nicht viele, aber zumindest waren sie noch ganz.
Die Menschen, die uns auf dem Weg begegneten, beäugten uns mit distanziertem Misstrauen und schienen beim Vorbeigehen wissentlich einen größeren Bogen um uns zu machen. Ihre Blicke verharrten an Malek, der immer noch auf Ryans Schulter lag, aber niemand schien uns für längere Zeit in die Augen schauen zu wollen. Mitleid und Ekel laß ich in ihren Augen, während wir über den Bürgersteig gingen und jeder von uns versuchte, die Abneigung in ihren Blicken zu ignorieren. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen, egal wohin wir gehen würden, automatisch nach einer Schublade suchen würden, in die wir passten. Auch wenn wir normal waren - was auch immer das sein sollte - würden sie eine finden.
Wenn wir einem Menschen begegneten, neigten wir schnell zu Vorurteilen. Alte Menschen waren vergesslich. Frauen mit Kopftuch unterdrückt und Männer weinten nicht.
Vermutlich waren wir deshalb häufig so überrascht, wenn jemand nicht unseren Vorstellungen entsprach oder etwas tat, womit wir nicht gerechnet hätten.
Unsere Umwelt in die engen Grenzen einer Schublade zu zwängen war einfacher.
Das weiß ich, weil ich nicht anders bin.
Auch ich erwischte mich oft dabei, wie ich mir einbildete, die Person vor mir zu kennen, obwohl sie sich manchmal selbst noch gar nicht kannte.
Ich schloss meine Augen und atmete tief ein, um meine Gedanken leiser zu stimmen, aber spätestens als wir in die Straße meiner Großmutter einbogen, gab ich auf.
Es war bereits dunkel, während wir an dem kleinen Restaurant meiner Großmutter ankamen. In den Fenstern brannte kein Licht mehr, nur in der zweiten Etage konnte ich das gelbe Flackern einer Glühbirne erkennen. Die Laternen tauchten die bekannten Straßen Nestoros' in ein verhaltenes Orange und mein Herz hämmerte schreiend gegen meinen Brustkorb, während ich mit zitternden Händen an dem Seil der Türglocke zog. Kurze Zeit später erklangen schwere Schritte hinter der verschlossenen Tür und ich wich automatisch zurück.
„Μια στιγμή παρακαλώ!" Verwirrt drehte ich mich in Ryans Richtung, der am Treppenansatz wartete. „Du sollst warten", erklärte er mir, als er meinen fragenden Blick bemerkte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie würde sie reagieren? Hatte sie etwas von Muma und Papa gehört? Zögernd machte ich einen weiteren Schritt rückwärts. Sollte ich sie umarmen? War sie alleine?
Ich hörte, wie sich der Schlüssel umdrehte und wich erneut zurück, bis Ryan plötzlichen neben mir auftauchte und nach meiner Hand griff. Er sagte nichts und ehe ich etwas erwidern konnte, öffnete sie die Tür und ich schaute geradewegs in ihre Augen.
***
Ein überraschter Laut verließ ihre Lippen und sie hielt sich fassungslos die Hände vor den Mund, während ihre Augen groß wurden.
„Oh Gott", wisperte sie, bevor ihre Stimme brach und ich sah, wie ihre Schultern anfingen zu beben. Auch sie hatte nicht gewusst, ob wir lebendig bei ihr ankommen würden. Mein Kinn fing an zu zittern.
„Hallo Oma", flüsterte ich, aber auch meine Stimme versagte bei dem Gefühl, das die Erinnerungen in mir weckten.
Wir waren da. Wir waren angekommen.
Ich schloss den Abstand zwischen uns und legte meinen freien Arm um ihren Körper. Im Gegensatz zum letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, war ich deutlich größer geworden.
Als sich unsere Blicke für einen Moment trafen, sah ich, dass ihre Augen voller Trauer und Erleichterung waren. Sie brach zusammen und krallte sich in meine löchrigen Klamotten. Ich schloss die Augen und fuhr ihr ruhig über den Rücken. „Es ist alles gut." Vorsichtig legte ich mein Kinn auf ihrer Stirn ab und atmete tiefer ein, als mir ihr bekannter Geruch in die Nase kroch. Sie roch nach Geborgenheit. Nach Wärme.
„Ich dachte, ihr hättet es nicht geschafft." Bei ihren Worten löste ich mich ein Stück von ihr, um sie anschauen zu können. Ich versuchte zu lächeln. „Jetzt sind wir da."
Ihr Blick fiel auf Aadil, der in meinem Arm lag und ihr neugierig entgegenblickte. Sie hatte ihn nie kennengelernt. „Ist das", fragte sie, beendete den Satz jedoch nicht. Ich nickte. „Darf ich ihn halten?" Wieder brachte ich nur ein Nicken zustande und hielt ihr Aadil entgegen. Vorsichtig, als könnte er kaputtgehen, nahm sie ihn in die Arme. Ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen, während spürte, wie ich erneut die Nägel in meine Handflächen bohrte.
„Ist das Malek?", fragte Oma plötzlich auf arabisch und ich folgte ihrem Blick, der auf Ryan, Tarek und Malek lag.
„Ja und er braucht Hilfe", erklärte ich und sah zurück zu ihr.
„Kommt rein", sagte sie mit heiserer Stimme. Sie fragte nicht nach Ryan und Tarek. Sie schien mir zu vertrauen. Während wir in das kleine Restaurant traten, sah Oma sich mehrmals nach mir um, als hätte sie Angst, wir könnten jeden Moment wieder verschwinden. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss und plötzlich war es stockdüster.
Warmes Licht flutete den Raum und ich konnte das Surren der Glühbirne hören, die Oma angeschaltet hatte.
„Hat Papa schon angerufen?", erkundigte ich mich zögernd, um sie nicht gleich mit Fragen zu überfordern. Gerade als wir an der Theke ankamen, stolperte sie plötzlich und ich hielt sie am Arm fest, damit sie nicht fiel. „Ist alles okay?", fragte ich, während Sorgen durch meine Gedanken rauschten und sie sich zu mir drehte. Ihre Augen waren voller Schmerz und Trauer. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. Ich hatte gedacht, dass wir der Grund für ihre Traurigkeit waren, aber warum war da so viel Schmerz?
„Tarek?" Während ich hörte, wie er auf meine Worte reagierte, indem er nach vorne trat, beugte ich mich zu Oma und nahm ihr Aadil sanft aus den Armen. „Du weißt es noch nicht, oder?", wisperte sie und ich hörte ihre Stimme weinen. „Was weiß ich noch nicht?" Beunruhigt entgegnete ich ihren Blick und sie holte zittrig Luft. „Oma?" Ich legte Aadil in Tareks Arme und blickte kurz dankbar zu ihm auf, ehe ich mich wieder auf meine Großmutter konzentrierte. „Was ist denn los?", versuchte ich es erneut, aber statt zu antworten, brach sie zusammen. Meine Arme hielten sie fest, während die Tränen wie Regentropfen über ihr Gesicht liefen.
Als ich sie weinen sah, knackte etwas in mir, brach zusammen. Es tat weh, sie weinen zu sehen. Wieder strich ich ihr ruhig über den Rücken und schloss die Augen. „Alles ist gut", wiederholte ich und war mir dabei nicht sicher, ob ich das sagte, um sie oder mich zu beruhigen.
„Nein." Sie schüttelte den Kopf und löste sich von mir. Sie zitterte am ganzen Körper. „Du solltest dich setzen, Oma", bat ich sie und sie nickte leicht. Schweigend schob sie einen der Stühle zur Seite und ließ sich darauf sinken. Ich wagte es nicht zu atmen, als sie erneut meinem Blick begegnete. „Was ist los?", fragte ich und ging vor ihr in die Hocke. Sanft legte ich meine Hände auf ihre, die in ihrem Schoß lagen, und versuchte ihr ein Lächeln zu schenken.
Es gelang mir nicht.
„Seit wann hast du nichts mehr von ihnen gehört?"
Omas Kinn bebte, als sie antwortete. „Sechs Tage."
Ich erstarrte.
Sechs Tage.
Sechs Tage waren zu viele. Wenn es ihnen gutgehen würde, hätten sie in diesen sechs Tagen längst einen Weg gefunden, um Oma auf einen anderen Weg zu kontaktieren. Sie hatten uns gesagt, sie würden jeden Tag bei Oma anrufen, egal, was passieren würde.
„Nein." Wie betäubt löste ich meine Hände aus ihren und sackte kraftlos zurück auf den Boden.
Plötzlich legten sich zwei Arme um meinen Körper und ich zuckte erschrocken zusammen. Der Geruch meines großen Bruders stieg mir in die Nase und ich drehte mich verwirrt zu ihm um. Seine Augen waren gerötet, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Meine Augen glitten besorgt zu seinem Bein, aber es schien ihm nicht weh zu tun. „Seit wann", wollte ich wissen, aber hielt inne, als ich sah, wie sehr er versuchte zurückzuhalten, was aus ihm raus wollte. „Komm her", presste er hervor und ich ließ mich von ihm an seine Brust ziehen. Seine Arme drückten mich so eng an seinen Körper, als könnte er den Halt verlieren, sobald er mich losließ.
Ich presste die Lippen fest aufeinander und schloss die Augen, während ich Maleks Stimme lauschte.
„Du hast in den letzten sechs Tagen nichts von ihnen gehört?", vergewisserte er sich und ich spürte das Vibrieren seiner Stimme unter meiner Stirn.
„Doch, ich", fing Oma an und ich löste mich aus Maleks Umarmung. „In den Nachrichten da", ihre Stimme brach erneut und mein Herz klopfte wild gegen meinen Brustkorb. Ich wollte nicht, dass sie so litt, aber wir mussten wissen, was sie uns zu sagen hatte. „Ja?", hakte Malek weiter nach und ich wusste, dass er das gleiche befürchtete, wie ich.
Ein heftiges Schluchzen verließ ihre Lippen, bevor sie versuchte zu antworten. Sie sah aus, wie eine verwelkte Blume. Ich beugte mich vor und schlang erneut die Arme um ihren Körper, ehe ich die Augen schloss. „Es tut mir leid." Ihre Stimme war weniger als ein Flüstern. Bei der Verletzlichkeit, die in ihren Worten lag, riss etwas in mir entzwei und ich konnte spüren, wie etwas Warmes meine Wange hinunterlief.
„Sie haben Bomben abgeworfen."
Sekunden vergingen, in denen die Welt bei ihren Worten still zu stehen schien und wir der Stille lauschten.
„Nein." Maleks Stimme hallte durch die Finsternis, die uns umgab, wie schwarzer Nebel. „Bitte nicht."
Schmerz sammelte sich in meiner Brust und ließ mich nicht zu Atem kommen. Das war zu viel.
Das ist alles zu viel.
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