15. Kapitel - Meine Schwester

Mein Herz überschlug sich, meine Lungen brannten, die Maisblätter schnitten mir in die nackten Arme, aber meine Beine rannten weiter. Liefen, ohne genau zu wissen, wohin. 

Schreie mischten sich zwischen das laute Peitschen der langen Maisblätter und ich kniff die Augen zusammen, während ich Aadils Kopf schützend an meine Brust drückte. Ich spürte, die kleinen Schnitte, die die Blätter auf meinem Gesicht hinterließen, so gut, wie ich den stechenden Schmerz von Malek fühlte. Er hielt den Kopf gesenkt und versuchte, uns so viel Last wie nur möglich abzunehmen, aber ich sah, wie nah ihn das hier an seine Grenzen brachte. 

Plötzlich stolperte ich über meine eigenen Beine und fiel mit Aadil in den Armen auf die Knie. Tarek und Malek blieben stehen, aber ich ignorierte das Brennen, an den Stellen, die durch den Fall aufgerissen waren und suchte stattdessen in der lockeren Erde Halt, um mich wieder aufrichten zu können. Mit Aadils Schreien, die in meinen Ohren klirrten, trat ich wieder an Maleks Seite und wir flohen weiter. Adrenalin pulsierte in meinen Adern und meine Beine überschlugen sich bei dem Gedanken, auf der Flucht zu sein.

„Aleyna, Malek!"

Ryans Stimme übertönte das laute Rascheln, das wir verursachten, aber ich wagte es nicht, mich umzuschauen. Schnelle Schritte erklangen in der synchron angelegten Maisreihe rechts von mir und mein Blick zuckte zu der Gestalt, die dort neben mir lief. Nur wenige Meter lagen zwischen uns. 

Ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich sah, dass es Ryan war. Wir flohen gemeinsam weiter in der Hoffnung, mit dem Ende des Feldes käme die Sicherheit. Während mein Atem immer lauter wurde, hatte ich das Gefühl, meine Lungen würden immer schwerer werden.

Ich versuchte etwas durch die grünen Blätter erkennen zu können, doch es war aussichtslos. Dieses Feld schien endlos, aber ich rannte weiter, denn wenn mich diese Flucht eins gelehrt hatte, dann war es, nicht stehen zu bleiben.

Wenn man auf der Flucht ist, verharrt man nicht.

Plötzlich wurde das Licht heller und das Maisfeld öffnete sich. Jeder unserer Schritte schien uns näher ans Licht zu bringen, bis Malek plötzlich in unseren Armen zusammensackte und sich nicht mehr bewegte. 

Vor Schreck stolperte ich erneut und fiel mit meinen Brüdern in den Armen zu Boden. Mir schoss die Luft aus den Lungen, während ich sah, wie Ryan durch die Reihe trat. Schwarze Sterne tanzten vor meinen Augen und für einen winzigen Augenblick sah ich hinauf in den beinahe weißen Himmel. Es war, als würden sie zu ihm gehören.

„Fuck!", fluchte Ryan und weckte mich aus der kurzen Trance. Hektisch versuchte ich mich aufzusetzen, wurde aber durch Maleks Gewicht auf meinem Körper zurückgehalten. Ryan hob ihn hoch und schwang ihn sich vorsichtig über die Schulter. „Los!", rief Ryan und nickte in die Richtung der Straße. Tarek rannte los, während ich Aadil wieder in die Arme nahm und mich aufrichtete. Ryan wartete, bis ich einen Fuß vor den nächsten setzte und er mir folgte.

Schweratmend kamen wir an der Straße an und sahen uns desorientiert um. Nichts. Kein Schild oder sonst irgendein Anhaltspunkt, mit dem wir hätten herausfinden können, wo wir waren.

„Wir müssen die Straße entlang", erklärte Ryan und ich blickte der Unendlichkeit der Straße nach. Die Silhouetten von vereinzelten Häuserspitzen konnte man am Ende erkennen.

Ein Ende ist in Sicht.

„Okay", antwortete Tarek, ehe wir losliefen.

Bei dem Gedanken, dass wir die anderen verloren hatten und nicht wussten, wo wir überhaupt waren, schlug mein Herz wieder schneller und ich vergrub den Kopf in Aadils schwarzen Ringellocken. Ich schloss die Augen und genoss den vertrauten Geruch, der mich an Heimat erinnerte. 

„Wieso humpelst du?", fragte ich, öffnete dabei jedoch nicht die Augen.

„Bin umgeknickt", erklärte Tarek und ich sah zu ihm.

„Du kannst dich ruhig an mir abstützen, wenn es dir hilft", bot ich an. Seine Augen zuckten überrascht zu mir und für einige Sekunden starrte er mich einfach an, bis ich fragend die Augenbrauen hob. „Ist gleich wieder weg, aber danke", lehnte er ab und ich nickte. Ich war mir sicher, dass er gelogen hatte. Vielleicht war es ihm gar nicht bewusst gewesen, denn in manchen Momenten logen wir, in der Hoffnung, die Lüge selbst zu glauben oder weil sich die Fiktion leichter tragen ließ. Vielleicht hatte er seinen Schmerz kleingeredet, um sich seine eigene Verletzlichkeit nicht eingestehen zu müssen. 

Obwohl ich denke, dass es unsere Verletzlichkeit ist, über die sich unsere Stärke definieren lässt.

***

Wir blieben stumm. Allein unsere Schritte und die leisen Lieder der Vögel schienen die Trostlosigkeit dieses Ortes lebendiger wirken zu lassen. 

Vielleicht war es aber auch gar nicht der Ort, der trostlos war. Vielleicht waren die Farben grauer geworden, weil ich es war, die sie nicht mehr sehen konnte.

Um mich abzulenken, dachte ich an die Gesichter der Anderen, die uns bis eben noch begleitet hatten. Vermutlich würde ich sie nicht mehr wiedersehen. Obwohl ich nur wenige Tage mit ihnen teilte, fehlten sie mir bereits. Auf eine seltsame Art und Weise hatten sie mich daran erinnert, dass wir auf diesem Weg nicht alleine waren und dass auch sie ihre Heimat verloren hatten. Ich kannte von keinem den Namen, aber ihre Namen waren bedeutungslos. Woran ich mich erinnern würde, waren die großen Augen des Jungen, das warme Lächeln der Frau, das schlafende Gesicht ihres Kindes und die weisen Worte des Mannes. Das alles zeigten unsere Namen nämlich nicht. Sie gaben uns eine Identität und betonten die Vielfalt unserer Welt, aber letztendlich sagten sie nichts über uns aus. 

„Sagt dir Aiantos was?" Ryan, der bis eben noch vor mir gelaufen war, verlangsamte seine Schritte, sodass er neben mir lief. Malek hing schlaff über seiner Schulter.
Ich löste den Blick von meinem bewusstlosen Bruder und versuchte die lauten Sorgen, die durch meinen Kopf brüllten, zu beruhigen, indem ich mich umschaute. „Wieso fragst du?" Ich konnte nichts entdecken, das darauf hinwies, dass wir in Aiantos waren. 

„Eben sind wir an einem Schild vorbeigelaufen", erklärte er und meine Augen wurden groß. War ich so unachtsam gewesen? Und warum erzählte er das erst jetzt?

„Aiantos liegt in der Nähe von Nestoros", erklärte ich und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.

„Kennst du dich hier gut aus?", fragte er und ich schüttelte leicht den Kopf. „Ich kenne ein paar Orte, aber ich bin keine verlässliche Quelle", gestand ich und Ryan fuhr sich erschöpft übers Gesicht. Zum ersten Mal erkannte ich die Müdigkeit in seinen Augen und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wie viele Geschichten er zu erzählen hatte. Wir hatten nicht viel Zeit gehabt, um uns auf diese Weise kennenzulernen. Das einzige, das uns verbunden hatte, war die Zukunft. Er hatte uns dabei geholfen, über die Grenze zu kommen. 

„Vielleicht erinnere ich mich, wenn wir durch die Straßen laufen." Er nickte, aber wog sich weiterhin im Schweigen. Fragen schwirrten wie lästige Insekten durch meine Gedanken und füllten sie mit neuen Sorgen.

Ryan ist selten still.

„Was ist los?", fragte ich nach einer Weile. Mittlerweile waren wir nah genug an der Stadt, um ganze Häuser sehen zu können.

Als seine Augen zu mir glitten, legte sich ein warmes Lächeln auf seine Lippen und ich erwischte mich dabei, wie sich automatisch auch meine Mundwinkel hoben. Er beugte sich etwas in meine Richtung, sodass nur ich ihn verstehen konnte.

„Mach dir keine Sorgen", wisperte er an meinem Ohr und es kam ein frustriertes Seufzen von mir. Ich hatte mit etwas Bedeutsamerem gerechnet. Er lachte über meine Unzufriedenheit und, obschon ich ihm gerne nochmal die selbe Fragen gestellt hätte, hielt ich den Mund. Wenn er darüber reden wollte, würde er reden. 

„Wohin gehst du, wenn wir da sind?"

Er hatte gesagt, er würde nach England wollen, um den fremden Rest seiner Familie kennenzulernen, aber wie er dort hinkommen sollte, war mir noch unklar.

„Ich hab mit ein paar Leuten geredet. Es gibt einen Schleuser, der griechischen Wein nach England transportiert und ab und zu auch ein paar Flüchtlinge."

Mein Blick begegnete seinem und sein schiefes Lächeln breitete sich wieder auf seinen Lippen aus.

Ich nickte langsam und fragte mich, wie und wann er Kontakt zu einem Schleuser, von denen es nicht viele gab, hatte aufbauen können. Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte ich mir die Frage gestellt, woher er so viele Menschen kannte. Eine Antwort hatte ich bis jetzt nicht finden können. 

Die Straßen wurden kürzer, da wir nicht mehr auf den Straßen, sondern durch die Gassen der Stadt liefen. Ich mochte es nicht, wenn wir das Ende einer Gasse erreichten, denn wir wussten nicht, wo wir langgehen mussten, um anzukommen.  Wir konnten lediglich blindlings eine Entscheidung treffen und uns für rechts oder links entscheiden. Manchmal gingen wir auch einfach weiter geradeaus. 

Im Entscheidungen treffen war ich bereits früher nicht gut gewesen, aber seit wir auf der Flucht waren, geriet etwas in mir oftmals so sehr in Panik, dass es mir schwerfiel, einen klaren Kopf zu bewahren. 

„Ich habe Angst." Bei meinen leisen Worten wich ich Ryans Blick bewusst aus und starrte stattdessen auf meine Schuhe, aber als ich seine Finger unter meinem Kinn spürte, sah ich überrascht zu ihm auf. „Wovor hast du Angst?", hakte er nach, während sich meine Nägel in meine Handinnenflächen bohrten und der Schmerz meinen Arm hinaufwanderte. Er ließ mein Kinn los. „Ich habe Angst, Entscheidungen zu treffen", murmelte ich, bis seine Finger plötzlich meine streiften und sich sanft um meine Hand legten, die ich zur Faust geballt hatte. „Decidophobie", flüsterte Ryan und löste währenddessen meine Finger. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er merkte, dass ich nicht wusste, was er meinte. „Die Angst vor Entscheidungen."

Bei der Erinnerung an Ryans Worte zuckte mein Blick zurück zu ihm. Ich bezweifelte, dass auch er Angst hatte, Entscheidungen zu treffen. Dafür traf er zu viele. 

Seit dem Tod meiner Schwester war diese Angst gewachsen. 

Meine Schwester.

Wir hatten sie vor wenigen Jahren an Krebs verloren. Vier Jahre hatte sie gekämpft, hatten wir alles getan, was in unserer Macht gestanden hatte, um der Ungerechtigkeit doch noch eine Strich durch die Rechnung zu machen. Mein Herz wurde schwer, als meine Gedanken zu ihr drifteten. Ich hatte lange nicht mehr an sie gedacht. In dem ersten Jahr nach ihrem Tod hatte ich weder gegessen, noch versucht mein Leben wieder einigermaßen auf die Kette zu bekommen. Ich war leer gewesen.

Deshalb hatte ich angefangen, die Erinnerungen an meine Schwester zu verdrängen, um dem Schmerz zu entkommen, den sie hinterlassen hatte. Ich hatte gewusst, dass sie sterben würde und dennoch hatte mich der Schmerz und die Traurigkeit so unvorbereitet getroffen, dass ich gefallen war. 

Es hat Ähnlichkeit mit einem Sonnenuntergang, denn du siehst ihr zu, beim Untergehen, und erschrickst dennoch, wenn es plötzlich dunkel ist. 

Als ich damals aufgehört hatte zu weinen und die Trauer unter all den Problemen, um die ich mich kümmern musste, verborgen geblieben war, wurde es besser. Ich hatte funktioniert und mich um meine Familie gekümmert. Die Sorgen meiner Eltern waren weniger geworden, aber meine Gedanken blieben finster.

Je länger wir jedoch auf der Flucht waren und je mehr Momente mich daran erinnerten, dass ich auch Malek und Aadil verlieren könnte, wurde mir bewusst, dass ich den Schmerz und die Trauer nicht für immer verdrängen konnte. 

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