Kapitel 19 《Savin' me》 Eliza

Ich hätte ausrasten können. Warum haben wir gestern noch mit ihm geredet, wenn er heute doch abhaut? Ist ihm nicht eingefallen, dass er damit selber nicht viel besser ist als Aidan und Linus?
Er kann sich nicht über die beiden beschweren und sie kritisieren und dann den gleichen Mist abziehen. Er hat gar nicht an Linus und mich gedacht!
Bei dem Gedanken musste ich über mich selber den Kopf schütteln; jetzt klang ich selber schon wie er.

„Meinst du", fragte ich Linus, „er kommt schnell wieder?"
Wir saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer von Tristans Tante und blätterten durch alte Zeitschriften. Ohne aufzuschauen, zuckte Linus mit den Schultern. „Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er recht standhaft bleiben. Könnte also sein, dass er erst sehr spät wiederkommt."
Ich seufzte. Hieß also, dass wir nicht viel tun können, außer herumzusitzen und nichts zu tun.

„Hoffentlich weiß er noch, dass wir uns auf einen Plan geeinigt hatten."
„Das wird er schon", versicherte mir Linus. „Vielleicht macht er auch nur einen kleinen Spaziergang oder so." Ich brummte nur. Ganz bestimmt geht er nur spazieren.

Linus warf die Zeitschrift neben sich hin und schnaubte: „Wahrscheinlich will er nur weg von mir." Jetzt übertrieb er aber.
„Ich glaube, er wird mir niemals verzeihen. Oder was denkst du?"
Auf so ein Gespräch war ich nicht vorbereitet. „Ich habe keine Ahnung, Linus. So lange kenne ich Fynn ja auch noch nicht."
„Er versteht mich einfach nicht, das ist das Problem", murrte er. Die Frage ist, wer konnte Fynn das nur verübeln? Wenn ich das Ganze richtig verstanden hatte, hat er nur gesagt, dass er „Das" nicht mehr könne und ist nachts einfach davongelaufen. Wie sollte man dann auch das Verhalten – ganz zu schweigen von der Person an sich – dann auch verstehen? Selbst in Telenovelas werden mehr Gründe gegeben, warum einer den anderen verlässt.

„Ich bin ehrlich", gestand ich, „ich verstehe dich auch nicht." Linus seufzte daraufhin und verrollte die Augen. „Wir hatten nichts mehr", begann er schließlich zu erklären. „Wir wurden von zwei Freunden aus unerklärlichen Gründen verlassen, neues Essen wurde immer schwerer zu finden und – ich weiß nicht, ob dir das schon aufgefallen ist – aber Fynn und ich sind nicht gerade das Dreamteam. Es war bedrückend und langweilig und irgendwann habe ich dann Sal getroffen."

Ich brauchte eine Sekunde, bis mir wieder einfiel, dass Linus Lecter bei unserer ersten Begegnung darum gebeten hatte, diesen Sal zu grüßen.

„Ich wusste am Anfang gar nicht, zu welcher Gruppe er gehört!", verteidigte sich Linus schnell. Ich nickte und sagte ihm, er solle erstmal fertig erzählen, bevor er versucht sich zu rechtfertigen.

„Er versprach mir, dass ich in seiner Gruppe ein besseres Leben führe würde als gerade. Und- ich... Keine Ahnung!" Linus seufzte, fuhr sich über die Augen und Stirn und stützte dann die Seite seines Kopfes mit der Hand. „Ich hatte ihm davon erzählt, dass ich unzufrieden damit bin, wie ich momentan mit einem Freund lebe, weil es einfach langweilig und eintönig ist. Das war alles, was ich gesagt habe. Er hat nicht nach meinen Eltern gefragt oder wegen unserer Situation nachgehakt. Er hat mir einfach nur versprochen, dass es mir bei ihm mehr gefallen würde."
„Er hat dich gelockt", schlussfolgerte ich.
„Ja! Und dazukam, dass..." Er seufzte frustriert. „Dazukam halt, dass Fynn nun mal Fynn ist!" Jetzt war ich gespannt, was er damit meinte, dass "Fynn nun mal Fynn ist".

„Er ist halt ständig nur am Lesen oder er ist schlecht gelaunt. Alles was Spaß macht, lässt er nicht zu! Ich bin eingegangen, bei ihm, verstehst du? Ich musste einfach raus."
Jetzt konnte ich ihn schon ein bisschen besser nachvollziehen, auch wenn ich es ganz schön hart fand, wie er über Fynn sprach. Immerhin litt auch er darunter, dass Aidan und Tristan nicht mehr da waren. So wie Linus nur noch Fynn hatte, hatte Fynn nur noch Linus.

Nur eine Sache interessierte mich noch: „Wusstest du denn, zu welcher Gruppe Sal gehört, als du mit ihm gegangen bist?" Linus holte Luft und nickte schließlich. Er sah zu Boden und ich wusste nicht ganz, was ich jetzt von ihm halten sollte. Ich machte den Mund auf und wollte was sagen, schloss ihn aber wieder, als Linus sprach: „Es war die einzige Möglichkeit, irgendwas anderes zu machen. Zumindest in meinen Augen." Er sah wieder hoch. Er wirkte nicht so, als würde er sich in Grund und Boden schämen. Stattdessen machte er eher den Eindruck, als würde er versuchen, die richtigen Worte zu finden.

„Ich wollte leben und nicht überleben, was Sal zu verstehen schien. „Eine Gruppe sei wie eine Familie; die Älteren kümmern sich um die Jüngeren", war das, was er mir sagte. Und ich dachte mir, ja, er hat recht! Fynn ist der ältere von uns beiden und was macht er? Nur dieselben Bücher lesen."
„Wie viel älter ist er denn?", fragte ich. „Drei Monate." Scharf zog ich die Luft ein und fasste mir an meine Nasenbrücke. Wie kann jemand, der zwei Jahre älter ist als ich, so viel kindischer sein?
Drei, Monate, das ist alles?

Linus ging auf meine Reaktion nicht ein, sondern fuhr mit seinem Monolog fort: „Ständig Bücher! Nur Bücher! Ich brauchte mehr als Bücher und herumgammeln. Dann war die Möglichkeit da und ich habe sie ergriffen."

Es faszinierte mich, dass ich seine Entscheidung nun zwar mehr nachvollziehen konnte, aber gleichzeitig noch immer dämlich fand.
„Warum hast du ihm nicht direkt das Ganze so erklärt, wie du es mir gerade erklärt hast?", hinterfragte ich. Wenn er Fynn das gesagt hätte, was er mir gerade gesagt hatte, dann hätte er ihn viel besser oder zumindest ein wenig verstehen können.
Linus zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass er mir zugehört oder mir geglaubt hätte."
Ich musterte ihn. Ich vermutete eher, dass er sich nicht traute, zu gestehen, dass er einen Fehler begangen hat. Immerhin hätte er noch einen Rückzieher machen können, nachdem er erfahren hat, zu welcher Gruppe Sal gehört, aber er entschied sich trotzdem für ihn, und das ist wahrscheinlich das, was an seinem Gewissen (zurecht) nagt.

Ich widersprach ihm deshalb: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dir zumindest zugehört hätte. Ob er deine Handlung dadurch nachvollzogen hätte, ist etwas anderes, aber dann hätte er zumindest mehr Begründung gehabt als jetzt." Linus zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Keine Ahnung", murmelte er.
„Hättest du ihm überhaupt etwas gesagt, wenn es zu 100% sicher gewesen wäre, dass er dir wenigstens zuhört?", fragte ich. Wie aus der Pistole geschossen antwortete er: „Klar! Er hätte es nur nicht eingesehen."
Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln. Es sah nicht so aus, als würde ich bei ihm weiterkommen, also sah ich das Gespräch als beendet an, doch Linus sah das offenbar anders. „Wohin gehst du?", wollte er wissen, als ich aufstand. „Ich wollte lesen gehen." Er verdrehte die Augen und murmelte: „Natürlich geht sie auch lieber lesen"

„Ganz ehrlich", sagte ich nun, denn mir reichte es langsam, „du solltest dich mal lieber fragen, ob es nicht Angst war, die dich daran gehindert hat, ehrlich zu Fynn zu sein. Aber es sieht eher danach aus, als würdest du nicht einmal dir selber die Wahrheit sagen können." Ich drehte mich um und ging in das Zimmer von Tristans Tante und holte Fynns Buch heraus.

Keine zehn Sekunden später, ging ein zaghaftes Klopfen von der Tür aus und Linus öffnete sie. „Sorry dass ich so nervig war." Nervig war er nicht, nur einfach sehr festgefahren in seiner Meinung. „Nervig ist das falsche Wort", erklärte ich ihm. „Du hast halt Fynn direkt die Schuld zugeschoben und bestritten, dass du vielleicht auch zu einem nicht geraden kleinen Anteil schuldig daran bist, dass ihr euch heute nicht mehr so blendend versteht. Die Sturheit macht es halt einfach echt schwer, weißt du?"
Diesmal nahm er sich einen Moment Zeit, bevor er mir eine Antwort gab: „Vielleicht hatte ich wirklich Angst." Er öffnete die Tür weiter und lehnte sich am Rahmen an. „Was ist, wenn der Typ mir oder Fynn etwas antut, weil ich ihm doch nicht beitrete? Oder was würde Fynn nur sagen, wenn ich ihm alles erkläre? Glücklich würde er bestimmt nicht sein. Wenn er erfährt, dass ich auch nur in Erwägung gezogen habe, den doomed Eagles beizutreten, dann hätte er mich bestimmt umgebracht, beziehungsweise raus geworfen. Und dann stände ich da komplett alleine, weil, zurück zu der Gruppe hätte ich ja dann auch nicht gehen können." Er seufzte schwer. Natürlich hatte er recht, aber das machte es trotzdem nicht besser.
„Erklär Fynn einfach all das, was du mir bisher erzählt hast", riet ich ihm. Er nickte und verschwand. Endlich konnte ich in Ruhe lesen.

Am Abend kam Fynn wieder. Die Tür flog auf, er stürmte in die Wohnung und marschierte im Wohnzimmer auf und ab. Ständig flüsterte er etwas, was nach „Ich wusste es" klang, bis er dann auf einmal stehen blieb und gegen die Wand schlug. „Aber natürlich!", stöhnte er nun und griff sich an seinen Kopf. Linus und ich sahen uns ratlos an.

„Alles in Ordnung?", fragte ich, unsicher, ob ich auf ihn zugehen sollte oder nicht. Er lachte kurz auf. „Natürlich waren sie zusammen", nuschelte er, sich immer noch die Stirn haltend.
„Redest du über Aidan und Tristan?", erfragte Linus. „Um wen denn sonst, hm?", gab Fynn zurück. Er war noch leichter zu reizen als sonst, wie auch immer das möglich sein konnte.

„Überlegen wir doch mal" – er zählte Indizien an seinen Fingern ab – „Zuerst hätten wir da, dass die beiden sich stundenlang über Comics oder Musik unterhalten konnten und dabei immer alles und jeden ausgeblendet haben, dann wäre da noch, dass Aidan Tristan wirklich immer zugehört hat, wenn es um Fußball ging, obwohl er anderweitig nicht viel Interesse an Fußball hatte. Er war öfter bei seinen Spielen als wir beide zusammen, Tristan hat bei ihm am meisten gelacht und was mir vorhin wieder eingefallen ist, ist dass Alex einen festen Freund hatte! Kein Wunder, dass Tristan so sehr zu ihm aufgeschaut hat! Alex war der erste offen Schwule an der Schule – zumindest zu der Zeit als wir hingingen – und er hat sich für alles Mögliche eingesetzt und verteidigt. Verdammt, Linus, die beiden hatten bestimmt irgendwas, als wir sie losgeschickt haben!" Er fasste sich wieder an den Kopf und schüttelte diesen. „Ich kann nicht glauben wie blind wir waren..."

„Moment mal", wiedersprach Linus ihm nun, „die beiden haben Interessen geteilt und Tristan fand Aidan lustig, aber das heißt doch nichts, Man. Die Sache mit Alex und Eric ergibt da schon mehr Sinn, aber der Rest ist einfach nur eine absolute Bullshit-Begründung. Das sind alles Dinge, die gute Freunde halt tun. Du meinst jetzt, alles miteinander verbinden zu können, dabei haben wir ja nicht mal eine Bestätigung, dass Tristan schwul ist, meine Fresse! Ich mein, das ändert nichts an ihm, aber du bist auf diesen Fakt so fixiert, dass ist ja schon fast krankhaft. Komm mal wieder runter, wir müssen eh auf Aidan warten, wo auch immer er ist..."

Das war womöglich das Klügste, was dieser Junge den ganzen Tag lang gesagt hatte. Und dann musste er seinen Glanzaugenblick zerstören: „Aber gut, sie hatten ja einen guten Grund, ich nicht..."
So oft wie ich meinen Kopf über die beiden schütteln müsste, würde ich einen Krampf noch bekommen.
Alles nur Kleinkinder um mich herum!

Fynn seufzte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. „Sorry, ich konnte ja nicht wissen, dass das der Grund ist." Linus ließ Fynn zappeln. Er machte ein langgezogenes „Hm" und sagte erst etwas, als ich ihn gegen den Ellenbogen stieß. Das war sein Einsatz, sich zu erklären. Und zwar diesmal vernünftig.

Linus räusperte sich und sprach dann: „Sorry angenommen. Und, äh, mir tut es leid, dass ich damals abgehauen bin. Das hätte ich nicht tun sollen. Es war nur... Ich hatte keine Ahnung mehr, wie es weitergehen sollte. Du hast nur gelesen und dich nicht wirklich für mich interessiert, sobald Aidan und Tristan weg waren und ich brauchte einfach Action und ich hab die beiden auch vermisst und ich wusste erst gar nicht wer genau Sal ist und er hat mir so vieles versprochen und... ja... ich- ich wusste wer er war, etwas bevor es zu spät war, einen Rückzieher zu machen. Es klang einfach so verlockend, es tut mir wirklich leid! Ich hab nicht an dich gedacht."

Für einen Moment sah Fynn ihn nur an und nickte leicht. „Danke, ich nimm deine Entschuldigung auch an." Dann stieß er sich wieder von der Wand ab und verabschiedete sich in Tristans altes Zimmer. Ihn nahm alles unglaublich mit. Seine Haltung war nicht so straff wie sonst und auch seine Reaktion war so energielos.

„Glaubst du, er wird mir wieder vertrauen?", fragte Linus, als die Tür hinter Fynn zuging. Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, keine Ahnung."

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Da in diesem Kapitel die ein oder andere Entschuldigungen gefallen sind, möchte ich mich auch mal kurz dafür entschuldigen, dass letzten Monat nichts kam! ':)

Ich hoffe wirklich, dass ich es schaffe, ab nächsten Monat wieder den richtigen Rhythmus reinzubringen, aber versprechen kann ich nichts. ':D

Genießt den Tag noch!

- LMS

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