Kapitel 18 《Holding out for a hero》 Nero

Vi klopfte wieder bei mir an. Vorsichtig steckte sie den Kopf durch die Tür. „Kann ich reinkommen?", fragte sie. Ich nickte. Sie kam rein und setzte sich auf meinen Klavierhocker. Für ein paar Sekunden sahen wir uns nur an. Ihr Blick wirkte nachdenklich, als würde sie versuchen, etwas zu verstehen. Ich hob eine Augenbraue an. Warum sagt sie nichts?

„Was gibt's?", fragte ich schließlich. Vi zuckte mit den Schultern. „Wollte nur mal nach dir sehen."
Langsam nickte ich. Mein abrupter Abgang gestern Abend war vermutlich der Grund für ihren Besuch bei mir.
„Mir geht's gut", meinte ich dann. Sie musterte mich, sagte aber nichts.
Stattdessen holte sie einen Umschlag aus ihrer Jackentasche. „Ich glaube, der ist für dich." Sie reichte ihn mir. Ich rutschte weiter zum Fußende meines Bettes und nahm das Papier entgegen. Der Umschlag wurde mit „Nevio M. Wagner" beschriftet. Es war die Schrift meiner Mutter.

Augenblicklich wurde mir schlecht.

Am liebsten hätte ich ihn sofort zerrissen, zerknüllt oder angezündet, aber ich hielt ihn nur in meinen Händen und sah ihn vermutlich schon viel zu lange an, ohne auch nur irgendetwas zu tun.

Erst als Vi sich neben mich setzte und eine Hand auf meine Schulter legte, konnte ich meinen Blick von dem Papier lösen.
Sie sah mich besorgt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich log wieder.
Mit zittrigen Händen riss ich den Umschlag mit meinem kleinen Finger an der Falte auf und holte den Brief heraus.

„Soll ich gehen?", fragte Vi und war schon im Begriff aufzustehen. „Nein, ist schon gut. Kannst ruhig bleiben", murmelte ich. Etwas emotionaler Beistand schadet womöglich nicht.
Sie setzte sich wieder hin und ich begann für mich zu lesen

‚Lieber Nevio, oder Nero Masuku, wie du nun genannt wirst,'

Sie wussten also wer ich bin; woher war mir zwar schleierhaft, aber sie hatten es irgendwie herausgefunden.
Ich konnte mir jedenfalls den Spott, mit dem meine Mutter diese Anrede geschrieben hatte, nur zu gut vorstellen.

‚dein Vater und ich schreiben dir diesen Brief, um dir mittzuteilen, wie geschockt und verletzt wir waren, als du von uns weggelaufen bist.
Weißt du, wie beunruhigt wir waren? Du, ein so kleiner Junge, ganz alleine, in solch einer Welt?
Wir haben uns die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Was, wenn du überwältigt, beraubt oder entführt worden wärst? Dein Vater und ich haben uns schreckliche Sorgen um dich gemacht. Wir waren uns sicher, dass du verschleppt worden bist, als wir dein Zimmer sahen. Kleidung kreuz und quer, überall lag Papier, die teuren Bilder, die auf dem Boden waren, die Bettwäsche war halb abgezogen und dein Bett war völlig unordentlich.'

Verächtlich schnaubte ich.
In der Nacht als ich abgehauen bin habe ich einen Wutanfall bekommen. Meine Angst hat auch etwas mitgespielt, aber es war primär die Wut auf meine Eltern, die für das Chaos gesorgt hat. Ich wundere mich heute noch, dass sie nicht dadurch aufgewacht sind.

Ob sie mir mit den Worten ein schlechtes Gewissen machen wollte? „Oh Nevio, wir vermissen dich ja so sehr und wir sind ganz bang um dich! Wie kannst du uns, deinen besorgten Eltern, nur so etwas antun?"
Am Arsch.

Wenn ich ein Elternteil wäre, würde ich mir wünschen, das Zimmer meines Kindes so aufzufinden? Nein, würde ich zwar nicht, aber ich bezweifle, dass ich es jemals so weit kommen lassen würde.
Dann hatten sie halt Angst um mich, na und?
Ob sie nun wirklich Angst hatten, weiß niemand vollends. Aber so manipulativ und falsch wären selbst sie nicht oder?
Nein, so waren selbst sie nicht, das wusste ich, nur das machte es nicht leichter, sie abgrundtief zu hassen. Verdammt, sie haben mich ja geliebt, aber was bringt einem das, wenn man nicht so behandelt wird? Mein ganzes Leben lang hat es sich mehr oder weniger nur so angefühlt, als wäre ich reine Deko, manchmal sogar weniger. Selbst die Bedeutung meines Namens sagt das: „Der Neue"!
Dankeschön! Ich bin „der Neue", hingegen mein Bruder „der Sieger" ist. Ich bin nur eine weitere Trophäe in der perfekt poliert und beschmückten Vitrine, in der mein Bruder das Glanzstück ist. Ich bin nur da. Ich existiere halt. Damit es in der Vitrine nicht zu leer aussieht.

‚Erst nachdem wir gesehen haben, dass auch die Küche geplündert wurde, gerade so viel, dass es für einen kleinen Jungen reicht, dämmerte es uns, was passiert ist.
Später, als wir uns dein Zimmer genauer angeschaut haben, ist uns aufgefallen, dass bloß deine Lieblingskleider, Familienfotos, deine Zahnbürste und dein Rucksack fehlen. Wir konnten keine Einbruchsspuren an den Türen und Fenstern entdecken. Das war der Moment, wo wir uns fast vollends sicher waren, dass du weggelaufen bist.

Wir hofften nur, dass du zurückkommst, aber sobald wir von „Nero Masuku" hörten, wussten wir, dass wir umsonst hofften. Die Beschreibung traf auf dich nur zu gut zu.
Es beschämt uns nur, dass du Menschen bestiehlst und für welchen Lebensstil du dich entschieden hast. Wir fragen uns manchmal, ob du auch uns eines Tages heimsuchen wirst. Aber bis zum heutigen Tag haben wir dich nicht mehr gesehen.'

Ich hätte den Brief einfach zerreißen sollen, dann müsste ich mir jetzt nicht diese durch Toxin triefenden Zeilen durchlesen müssen. Toxisch-melodramatisch beschreibt diesen Brief gut.

Die Kirsche auf dem Eisberg kam allerdings erst noch.

‚Es fühlte sich wie damals mit Viktor an, mit dem einzigen Unterschied, dass du noch lebst. Aber selbst das haben wir hin und wieder angezweifelt. Der Tod von ihm saß noch tief in dir drin, sodass wir sogar schon befürchteten, dass du dir das Leben nehmen willst.
Der Schmerz, den du fühlst, wenn du denkst, dass beide Söhne von dir gegangen sind, kannst du dir nicht vorstellen.'

Meine Hände krallten sich an dem Papier zwischen ihnen. Meine Augen wurden feucht und die Wörter verschwammen vor meinen Augen.

Noch nie habe ich mich so ekelig und unwohl in meiner eigenen Haut gefühlt wie gerade.
Sie hatte es wirklich geschafft, dass ich mich schlecht fühle und sie gleichzeitig abgrundtief verabscheue.

Ich konnte nicht wirklich glauben, dass sie mein Verschwinden mit Viktors Tod verglich. Hieß das, dass ich für sie gestorben bin oder warum zur Hölle tat diese Hexe das?
Wieso las sich dieser Brief so, als wäre ich für sie wirklich von Bedeutung gewesen?
Meine Interessen und ich waren doch davor auch nie vom Belangen, weshalb dann jetzt ganz plötzlich?

Ich hatte die Anwesenheit von Vivian vergessen, bis sie eine Hand auf meine Schulter legte. „Ich... es... geht es...?" Ich schnitt ihre Frage mit einem Nicken ab.

‚Haben wir als Eltern etwa versagt?
Unser einziger, noch lebender Sohn ist von uns davongelaufen, um sein Leben als Dieb, ohne Skrupel, zu verbringen, was sagt das über uns aus?

Wir fragen uns, warum du noch nicht bei uns warst. Hattest du Angst, uns zu begegnen oder weshalb warst du bisher noch nicht hier?

Wolltest du uns vergessen?
Dein altes Leben hinter dir lassen?
Keine Verbindungen zwischen dir und uns entstehen lassen?

Falls das dein Ziel war, dann hast du es mit Bravour erreicht. Keiner weiß, aus welchen Verhältnissen der kaltherzige „Nero Masuku" stammt, mit wem er verwandt ist oder wer er früher war.'

Habe ich mich als „Nero Masuku" wirklich so anders verhalten als ich noch unter „Nevio" bekannt war? War „Nero Masuku" nicht schon immer ein Teil von mir? Immerhin habe ich mir dieses Pseudonym nur zugelegt, weil ich nicht wollte, dass mich meine Eltern finden und (da lag meine Mutter nicht falsch mit) damit keiner herausfindet, wer ich wirklich bin.

Ich möchte noch immer nicht, dass Leute aus meinem „alten Leben", wie es meine Mutter nannte, mich wiedererkennen. Meine alten Freunde sind natürlich Ausnahmen. Und sollte ich jemals wieder meinen Eltern begegnen, dann sollten sie sich besser auf etwas gefasst machen, denn wir haben einiges nachzuholen.

‚Solltest du diesen Brief lesen, dann bist du doch zurückgekehrt, allerdings zu spät. Wir sind weg, an einem sicheren Ort.

Du hattest Zeit genug und sie ist abgelaufen.

Auf Wiedersehen, Nevio Maximilian Wagner!

In Liebe, deine Eltern'

Die letzten Zeilen überflog ich nur noch, denn schneller als ich es selber bemerkte, waren die Seiten zerknüllt und lagen in der Ecke des Raumes. Vis Hand war beim Wurf von meiner Schulter gerutscht. Ich sah zu ihr, wobei sehen übertrieben war; meine Sicht war wegen neuer Tränen wieder eingeschränkt. Schnell schniefte ich meine Nase und wischte mit meinem Arm das Wasser weg. Jetzt konnte ich sehen, dass auch ihre Augen wässrig glänzten.

Wortlos nahm sie mich in den Arm, ebenso wortlos erwiderte ich die Umarmung.
Vielleicht hatte sie mitgelesen, vielleicht auch nicht – das war egal. Sie hasst mich nicht, oder zumindest weniger als es meine eigene Mutter es jemals tat.

Ich ließ meine Tränen fließen und löste mich nach kurzer Zeit wieder von ihr. „Danke", murmelte ich und meinte es tatsächlich auch so. Der Brief hatte mir zwar auf brutalster Weise mein Herz herausgerissen, aber es tat auch gleichzeitig gut, bestätigt bekommen zu haben, dass es gut war, abzuhauen. Ich sollte kein schlechtes Gewissen haben, abgehauen zu sein.

Vis Schultern sackten zusammen und sie ließ ihren Kopf hängen. „Es tut mir unfassbar leid, Nero... Ich dachte nicht, dass der Brief so grausam ist! Ich- ich dachte, dass vielleicht etwas Schönes darin steht. Ich wollte dich nicht verletzen, wirklich."
Ich schüttelte den Kopf und versicherte ihr, dass ich nicht auf sie wütend bin: „Du hast diesen Brief nicht geschrieben und konntest nicht wissen, wie meine Eltern drauf sind; woher hättest du wissen sollen, was für ein Scheiß in diesem Umschlag ist?" Sie nickte und hatte sich mittlerweile ihre Tränen weggewischt.
„Ich hätte nur vielleicht nochmal nachdenken sollen. Du hattest immerhin gestern schon angedeutet, dass deine Eltern nicht die besten waren. Nur... Es hätte sein können, dass sie sich in dem Brief bei dir entschuldigen, weißt du?"

Sie ist eine hoffnungslose Optimistin, keine Frage. Ich wollte nicht weiter darüber reden, wie schrecklich genau meine Eltern waren und dass es ihr ja leid tut. Ich war nicht wütend auf sie, nur weil sie mir den Brief gegeben hat. Meine Eltern sind die, auf die ich wütend war. Das ist eine Sache zwischen ihnen und mir und kein anderer kann irgendwas dafür.

„Jetzt mal was anderes", lenkte ich ab, „wo hast du den Brief gefunden?"
Wie konnte ich den Umschlag übersehen haben, so oft wie ich in jeder Ecke dieses Hauses war?
„Ich habe einen Schlüssel in einem der Nachttische neben dem Bett gefunden und er sah so aus als würde er zu der Schublade unter dem Schreibtisch im Nebenzimmer gehören", erklärte sie mir.
Ich nickte. Im Arbeitszimmer meines Vaters habe ich mich viel zu wenig umgeschaut. Vermutlich befinden sich dort, unter dem ganzen Papierkram, noch ganz andere Sachen.

„Wenn du noch irgendwas findest dann sag mir bitte Bescheid, ja?"
„Ist vermerkt! Tut mir leid, wirklich."
Ich atmete tief ein. Was jetzt? Sollte ich ihr direkt von Viktor erzählen? Wenn sie alles, alles mitgelesen hat, dann weiß sie schon was mit ihm ist.

„Hast du alles mitgele-"
„Bist du sicher, dass es gut-"
Resigniert kratzte ich mich am Kopf und bestand darauf, dass sie zuerst ihre Frage stellte. Nur nach mehrmaliger Aufforderung fragte sie dann ihre Frage: „Bist du dir wirklich sicher, dass es gut war, dass du abgehauen bist?" Ohne zu zögern nickte ich. „Klar! Lies dir nochmal den Brief durch, dann wirst du sehen warum ich hier weg wollte."
Sie seufzte und sah zum zerknäulten Brief. „Ich hab ja selber gelesen, was darinstand. Aber vielleicht hätten sich die Wogen wieder irgendwann geglättet?"
Positives Denken ist ja ganz schön und gut, aber das grenzt schon an völliger Realitätsferne.
„Das Leben ist kein Disney Film, Vi. Sie und ich hätten uns nicht irgendwann supi dupi gut verstanden!"

Ich hatte mich nach hinten fallen lassen und sah zur Decke hoch. Ich hörte, dass auch sie sich anders hinsetzte.
„Gibt's denn wirklich gar nichts, wofür du ihr wenigstens ein bisschen dankbar bist?", hakte sie nach.
Ich musste nachdenken, und zwar lange, bis mir etwas einfiel: „Die Klavier-, Gitarren- und Japanisch-Stunden, vielleicht, aber mehr auch nicht. Außerdem war das mit Japanisch eh ganz schnell vorbei. Ich war schrecklich. Weißt du, dass ‚Masuku' auch Japanisch ist?" Ich drehte mich so zu ihr, dass ich mich mit meinem rechten Arm abstützte. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich dachte, es heißt Tuch, dabei heißt es Maske oder Mundschutz, irgendwie sowas." Mittlerweile schämte ich mich für diese Fehlübersetzung nicht mehr so sehr wie früher.

„Also gab es doch etwas Schönes", meinte Vivian, lächelnd. Ich schüttelte den Kopf und stöhnte.
„Das macht nicht die ganzen Sachen wett, die sie mir vermiest hat. Glaub mir einfach, diese Frau ist schrecklich."
Vis Lächeln war weg. „Mir fällt es einfach nur schwer zu glauben, dass eine Mutter wirklich so eine Tyrannin zu ihrem eigenen Kind sein kann", erklärte sie nun ihren Versuch etwas Gutes an meiner Mutter zu erkennen. Langsam nickte ich. Es gab, gibt und es wird leider auch weiterhin schlechte Eltern geben, und meine Mutter war zwar beim weiten nicht die schlechteste Mutter oder das schlechteste Elternteil was es gibt, aber das macht sie nicht gut. Nur weil es immer schlimmer geht, heißt es nicht, dass es sie besser macht. Sie ist immer noch schlimm, aber eben auf ihre eigene Art und Weise.

„Wie kann man seine Kinder nur miteinander vergleichen...", murmelte Vi. Erneut nickte ich nur, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
„Und dann noch den Tod von dem einen Kind da reinziehen."
Jetzt wusste ich noch weniger, was ich sagen sollte. Ich ließ mich einfach wieder auf meinen Rücken fallen.

„Das eine Zimmer gehörte ihm, oder?", fragte sie jetzt.
„Ja"
„Das alles tut mir unfassbar leid." Sie umfasste meine Hand und drückte sie. Ich betrachtete nur weiterhin die weiße Decke.

„Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du reden willst, ja? Egal über was." Als sie das sagte, ließ sie meine Hand wieder los und stand auf.
„Ich glaube, Tristan braucht dich mehr als ich", entgegnete ich. Sie legte ihren Kopf schief, hob eine Augenbraue und sie hätte eigentlich gar nichts mehr sagen müssen, denn ihr Blick tat das schon für sie. „Du brauchst auch jemanden, und wenn ich ehrlich bin, würde ich euch beiden wirklich ans Herz legen, einfach mal miteinander zu reden, statt nur übereinander."

Klar, weil er auch so gerne mit mir redet.
„Verdreh nicht deine Augen so! Einer muss den ersten Schritt wagen. Wenn noch was ist: Ich bin draußen im Garten. Tristan ist Unterwegs, wollte sich etwas die Beine vertreten." Sie öffnete die Tür und verschwand.

Ich stieß eine Menge Luft aus, setzte mich wieder normal hin und sah zum Brief. Der kleine Teufel in mir wollte ihn nur allzu gern brennen sehen, aber dann wäre der Beweis weg, dass meine Mutter ein manipulatives Arschloch war.
Also ließ ich die Seiten dort einfach liegen und beschloss sie nie wieder anzurühren.

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Soooo...
18 Kapitel schon, hm?
Unglaublich... Und es werden noch mehr!

Nebenbei arbeite ich an dem Funfact "Buch" für diese Story und dafür hab ich unter anderem auch OC Q&As geplant. Solltet ihr also Fragen haben, schreibt sie ruhig hier in die Kommentare oder mir privat, ich werde sie mir durchlesen und sollten sie noch nicht in meinem Fragenpool drin sein, werde ich sie aufnehmen und euch später auch markieren. :]
(Ihr könnt natürlich auch Fragen, die an mich gerichtet sind, stellen)

LG LMS

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