„Dadda?", hörte Harry die leise Stimme seines Sohnes.
Erst jetzt merkte er, dass seine Augen brannten und wandte sie blinzelnd vom Feuer ab, das im offenen Kamin loderte.
Sie saßen in der Hütte, die in diesem Jahr wie alle Jahre zuvor eine dicke Schicht Schnee auf dem Dach trug, und warteten darauf, dass sich der große Zeiger von der 9 auf die 12 bewegte. Weihnachten und das neue Jahr waren so schnell vor der Tür gestanden, dass Harry beinahe vergessen hatte, mit seinem 3-jährigen Sohn hier hoch zu kommen. Erst als ihn der kleine Lockenkopf gefragt hatte, ob sie denn dieses Jahr nicht zu der Weihnachtsmannhütte gehen würden, war er durch das Haus gerannt und hatte alle notwendigen Dinge in eine große Tragtasche gestopft.
Beim Gedanken daran musste der Braunhaarige grinsen. Mykaela hätte ihm die Hölle heiß gemacht, wenn sie hier gewesen wäre.
Nun saßen er und sein Sohn jedoch vor dem Wärme spendenden Feuer, bereit, um bei einer Minute vor Mitternacht mit den dicken Daunenjacken in der bitterkalten Nacht das alljährliche Feuerwerk zu bestaunen.
Heilig Abend war noch etwas schwierig gewesen, weil der kleine Lockenkopf darüber schmollte, dass hier ja gar kein Weihnachtsmann wohnte. Harry hatte ihm geduldig erklärt, dass der Weihnachtsmann viel weiter im Norden wohnen würde und dies hier 'nur' ihre Weihnachtshütte war – nicht die Weihnachtsmannhütte.
„Hm?", erwiderte Harry, während er mit dem Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken entlang fuhr und auf Augenhöhe kurz zudrückte.
„Wie war Mama?"
Die großen braunen Augen sahen seinen Vater neugierig an und dessen Herz ging auf bei diesem Anblick gemeinsam mit den Gedanken von gerade eben.
Mykaela hatte Harry's Augen geliebt und er wusste, dass sie sich insgeheim gewünscht hatte, dass ihre Kinder dieselbe Augenfarbe hätten. Zugegeben hätte sie diese Vorstellung jedoch nie. 'Hauptsache, es ist gesund' hatte sie immer gesagt. Dennoch war er dankbar, dass der Dreikäsehoch vor ihm, dessen Füße gerade noch so über das Polster des tiefen Sessels hingen, die Augen seiner Mutter geerbt hatte. Der gemeinsame Sohn erinnerte ihn jeden Tag an die Frau, die er mehr als alles andere geliebt hatte.
„Sie war ein Engel."
„Hatte sie denn Flügel?", fragte der Dreijährige mit leuchtenden Augen.
Der Anblick und sein neugieriger Tonfall machten es unmöglich, nicht zu lachen.
„Nein, das hatte sie nicht. Die bekam sie erst, als sie in den Himmel ging", entgegnete Harry mit einem Lächeln auf den Lippen, während er den kleinen Stich in seinem Herzen wahrnahm.
Er hievte seinen Sohn von seinem Sessel auf den Schoß und legte seine Arme von hinten um den kleinen Oberkörper. Dann beugte er seinen Kopf leicht nach unten und sprach leise in das linke Ohr seines Sohnes.
„Deine Mum war die beste Köchin. Sie stand an Weihnachten jeweils eine halbe Ewigkeit in dieser Küche", begann Harry zu erzählen und deutete auf die kleine Küchenzeile ihnen Gegenüber. „Die Füllung musste gemacht, der Truthahn gestopft und die Süßkartoffeln, die dein Vater nicht mag, gestampft werden. Sie war sanftmütig und schnell dabei, mir zu vergeben. Sie war aber auch eine Kämpferin. Sie hat so sehr um dich und ihr Leben gekämpft."
Denn kämpfen hatte sie gemusst.
Die Schwangerschaft war mehr oder weniger normal verlaufen. Bis auf die Morgenübelkeit und zunehmenden Rückenschmerzen hatte Mykaela glücklicherweise nichts weiter Unangenehmes beklagen müssen. Sie beide hatten sich auf den ersten Zuwachs gefreut und hatten bereits alles Nötige besorgt und organisiert.
Nichts hätte Harry, aber vor allem Mykaela, auf die bevorstehende Geburt vorbereiten können. Nach zwei Stunden heftiger Wehen, während derer Harry seinem Engel gut zugesprochen und ihre Hand gehalten hatte, war er plötzlich von einer Hebamme zur Seite geschoben worden. Der Raum hatte sich in ein Wespennest verwandelt, denn die Hebammen hatten einander Fachwörter zugerufen, die Harry zum Großteil leider Gottes verstand und den Rest nur zu gut erahnen konnte. Außerdem waren zwei Ärztinnen hereingestürmt und hatten weitere Anweisungen erteilt.
Der werdende Vater war von Sekunde zu Sekunde nervöser geworden, hatte sich jedoch nicht getraut, nach einer Antwort auf dieses Chaos zu fragen. Alle Menschen hatten viel zu konzentriert und gleichzeitig gestresst gewirkt.
Er hätte alles gegeben, um seiner Freundin gerade in diesem Moment beizustehen, weshalb er dennoch bemüht darum gewesen war, ruhig zu bleiben. Bewusst gleichmäßiges Ein- und Ausatmen hatte ihm geholfen genau das zu tun.
Erst, als sich eine Hebamme des Lockenkopfs erbarmt, ihn aus dem Raum bugsiert und ihm erklärt hatte, was vor sich ging, war es auch um seine Ruhe geschehen gewesen.
Sein Herz hatte begonnen zu rasen und er hatte sich die Haare gerauft, während er wie ein eingesperrter Panther von links nach rechts tigerte und die Worte der Geburtshelferin in seinem Kopf immer und immer wieder durchspielten.
„Großer Blutverlust ... instabil ... sofortiger Kaiserschnitt ..."
Die Sorge um seinen Engel und den Kleinen war so groß gewesen, dass Harry das Gefühl gehabt hatte, jeglicher Atem wäre seinen Lungen entwichen. Dass er auch noch weitere zwei Stunden hatte warten müssen, ehe man ihm einen Blick auf das kleine Bündel gewährte aber nichts über Mykaela berichtete, hatte seine Spannung aufs Äußerste strapaziert.
Die Gedanken, die ihm dank seines Berufes durch den Kopf gegangen waren, waren alles andere als hilfreich. Er wusste, was 'großer Blutverlust' bedeutete. Wusste auch, dass Frauen während der Geburt generell eher schwächer wurden.
Und trotz all der Hoffnung in die Medizin und Mykaela's Kampfwillen, war Harry's Welt mit einem Blick auf die zum Raum heraustretenden Ärztin zusammengebrochen. Seine Beine hatten ihn nicht mehr gehalten und er hatte bitterlich geweint, während man ihm erklärt hatte, dass es Miss Byrne nicht geschafft hätte.
Die Bilder des schlimmsten Tag seines Lebens fluteten Harry's Gedanken und die Trauer keimte auf.
Der kleine Junge auf seinem Schoß drehte sich herum und sah ihm mit einem undefinierbaren Blick in die Augen. Dann drückte er sich fest an den Oberkörper seines Vaters und schlang seine kurzen Arme um dessen Rippen.
„Sie hat dich so sehr geliebt, David! So, so sehr!", flüsterte Harry und umarmte ihn fest, während ihm eine einzelne Träne über die Wangen lief und schließlich in den Locken seines Sohnes versickerte.
Die Namensgebung war etwas vom Ersten gewesen, das er ohne seinen Engel hatte entscheiden müssen. Sie hatten sich während der gesamten Schwangerschaft auf keinen Namen einigen können und hatten entschieden, dass sie sich nach der Geburt auf einen festlegen würden.
Und obwohl Harry sich nun alleine für einen Namen hatte entscheiden müssen, so war es ihm ganz und gar nicht danach, einen der Namen zu nehmen, die er schön fand, ihr aber nicht gefallen hätte. Diese scheinbar kleine Sache, die mit einem Zuwachs in der Familie einherging, hatte ihm etliche schlaflose Nächte bereitet. Die verbleibenden Tage im Krankenhaus hatten sich wegen all der Tests und Untersuchungen an seinem Sohn so lange gezogen und doch war der Tag der Entlassung - die sich selbst gesetzte Deadline für die Namensfindung - schnell erreicht.
Es war Zufall, dass er gerade diesen Namen in der Liste über die Bedeutungen angeklickt hatte, wollte er doch eigentlich die Bedeutung von 'Matthew' wissen. Doch als er das Geschriebene über 'David' gelesen hatte, hatte es keinen Zweifel mehr gegeben. Sein Sohn war so sehr geliebt, dass seine eigene Mutter ihr Leben für ihn geopfert hatte, einen passenderen Namen als David, der Geliebte, gab es also nicht.
Die kleinen Arme seines Gegenübers schlossen Harry in eine noch engere Umarmung und er wusste, dass sein Engel lächelnd auf die Beiden hinab sah. 'David' war weder auf ihrer Liste der gewünschten Namen noch auf Harry's Liste niedergeschrieben gewesen und doch wusste er, dass sie diesen Namen und vor allem dessen Bedeutung genauso geliebt hätte.
Diese Vorstellung vertrieb den Schmerz in die weniger spürbaren Ecken seines Herzens und ließ ihn zitternd aufatmen.
Sachte strich er seinem Sohn über den Kopf und schaukelte seinen Oberkörper leicht hin und her.
Nach einer Weile strich der Lockenkopf den Ärmel seines Pullovers zurück, um einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Dieser verriet ihm, dass sie nun definitiv vor die Hütte mussten, um das spektakuläre Feuerwerk nicht zu verpassen.
Schnell half er seinem Sohn in seine Jacke, stülpte ihm die Mütze über den Kopf und die Handschuhe über die Hände.
Gerade rechtzeitig standen sie an derselben Stelle, an der Harry mit Mykaela vor vier Jahren das letzte Mal gestanden hatte und wo Harry's Herz auf ein Vielfaches angeschwollen war. Dort, wo David das erste Mal bei diesem Feuerwerk dabei gewesen war - wenngleich er damals noch kleiner als ein Tennisball war.
Die erste Rakete explodierte über ihren Köpfen und David hüpfte vergnügt auf und ab, während er quietschend in die Hände klatschte.
„Wuooo!! Dadda, schau mal, der war so groß!", rief er, zog das 'so' in die Länge und unterstrich es mit weit auseinander gestreckten Armen.
Lächelnd sah Harry auf seinen aufgeregten und zufriedenen Jungen, der ihn gerade so sehr an Mykaela erinnerte, dass er gen Himmel schaute und ein 'Danke, mein Engel' wisperte.
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So, das war es also bereits mit dieser sehr kurzen Kurzgeschichte.
Ich hoffe, sie hat euch gefallen, denn ich hab sie echt gerne geschrieben.
Obwohl mich Harry's Verlust schmerzt, so kann ich dennoch lächeln, denn ihm ist der größte Beweis ihrer gegenseitigen Liebe geblieben.
Das war's von mir. Ich danke euch fürs Lesen, Voten und Kommentieren! Das alles ist nicht selbstverständlich und ich war soo motiviert diese Geschichte zu schreiben. Von daher: DANKE EUCH!
LG und bis bald (bei Huffle-in hoffentlich)
Eure StephVi
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