Heilig Abend im Sturm
„Kannst du bitte die Süßkartoffeln schälen? Ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen", rief die Blonde über ihre Schultern dem jungen Mann, der sich gerade um den Kamin kümmerte, zu.
Mit einem Herzschlag, der sich schlagartig dem Rhythums eines Presslufthammers anpasste, schlug sich der Angesprochene geräuschvoll die Hand gegen die Stirn.
Er sah die verhassten rotbraunen Speicherwurzeln vor seinem inneren Auge. Dort, wo er sie zu Hause das letzte Mal gesehen hatte, ehe die Beiden hier hochgefahren waren. Die Bitte seiner Freundin, diese doch einzupacken, da sie diese zum Festessen machen würde, hallte durch seinen Kopf und er suchte in seinen Erinnerungen nach dem Bild, wie er sie daraufhin in die Tasche gelegt hatte. Aber da war keines. Konnte es gar nicht sein, denn er hatte es vergessen – und dies nicht ganz uneigennütz.
„Mikey, es tut mir leid, aber die liegen wohl noch auf der Anrichte zu Hause. Aber der Truthahn, die Füllung und der Grühnkohl reichen doch ...", begann er, wurde jedoch von einem ausgestreckten Arm seiner Freundin, die noch immer mit dem Rücken zu ihm stand und den Grühnkohl mit der rechten Hand vorbereitete, unterbrochen.
„Keine Sorge Harry, ich hab sie selber in die Tasche gelegt, nachdem du sie auch nach dem dritten Mal vorbeigehen nur böse angeschaut, aber nicht eingepackt hast", trällerte Mykaela und drehte ihren Kopf, um ihren Freund mit einem süffisanten Grinsen zu beschenken.
Mit gerümpfter Nase sah Harry von ihrem Gesicht zu ihrer linken Hand. Widerwillig nahm er sowohl die Wurzeln als auch ein Messer in seine Hand, stellte sich neben seine Freundin und begann damit, die Süßkartoffeln zu häuten.
Neben sich vernahm er ein Glucksen und sah von seiner Arbeit zu seinem Glück.
Er musste wohl einen fragenden Gesichtsausdruck zeigen, denn seine Freundin meinte: „Du siehst aus, als würdest du deinem Todfeind entgegensehen."
Wie sie ihn mit ihren strahlenden und lachenden Augen ansah, so vergab er ihr schon beinahe die Auswahl dieser Beilage. Aber nur beinahe.
„Todfeind trifft's ganz gut. Außerdem würdest du sie genauso ansehen, wenn du als Kind jeden Tag Kartoffeln oder Süßkartoffeln hättest essen müssen", gab Harry zurück, wusste aber, dass sein Gesicht einen sanften Ausdruck zeigte.
„Irgendwann wirst auch du wieder auf den Geschmack kommen", entgegnete Mykaela und drückte dem Lockenkopf einen Kuss auf den Mund.
Dieser schrie jedoch jäh auf, was die beiden auseinanderspringen ließ, während Mikey ihn verwirrt ansah.
Harry hielt die Hand hoch und zeigte ihr den Zeigefinger seiner linken Hand, aus dem ein stetiger Fluss an Blut hinunterlief.
Der Kuss seiner Freundin hatte ihn so eingenommen, dass er sich kein Bisschen mehr auf das Messer und die Süßkartoffel in seiner Hand konzentriert hatte.
„Oh shit!", entwich es seiner Freundin, woraufhin er lachen musste.
Sie war normalerweise die auf ihre Aussprache bedachte Person, aber jetzt fluchte sie als hätte sie mehrere Jahre mit Bauarbeitern rumgehangen. Mykaela wuselte durch die Hütte und öffnete dabei jeden Schrank auf der Suche nach einem Erste-Hilfe-Kasten. Dabei machte sie den Schneeflocken, die draußen vor dem Fenster dank des Schneesturmes wild durch die Luft wirbelten, Konkurrenz.
Alle ihre hastigen Bewegungen waren durch Harry's amüsierten Blick begleitet. Sein Finger schmerzte zwar, aber seine Freundin wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Wohnbereich laufen zu sehen, war einfach zu niedlich.
Es erinnerte ihn daran, wie sie vor all ihren Ferien immer nochmals durchs ganze Haus lief, um sich zu versichern, dass sie auch ja nichts vergessen hatten und mit ihrer Liste vor den Taschen stand und die Dinge abhackte, die eingepackt waren.
Sie vergassen dennoch jedes Mal mindestens eine Sache. Letztes Jahr war's das Brettspiel 'Scrabble', das sie beide so liebten und das Jahr davor die Haarbürste. Mykaela hatte das ganze Wochenende so ausgesehen, als wäre sie gerade erst aufgestanden und Harry hatte ein Dankesgebet gen Himmel geschickt. Er liebte es, wenn sie sich schick machte, aber er liebte es noch mehr, wenn sie mit offenem Mund und wild vom Kopf abstehenden Haaren neben ihm lag und leise schnarchte.
„Wie konnte ich auch den Erste-Hilfe-Kasten vergessen?", schalt sie sich selber und entdeckte mit dem nächsten Schrank die grüne Kiste mit dem roten Kreuz auf dem Deckel.
Schnell kam sie zur Küchenzeile zurück und begann ihren Freund zu verarzten.
„Harry, das ist echt tief! Warum hast du das Messer auch nicht weggelegt?"
Er ließ sie das Pflaster mit der Salbe anbringen, ehe er sie an sich zog.
Der Lockenkopf bog sich zu ihr runter und flüsterte: „Deine Lippen sind jeden Schmerz wert."
Mykaela drückte ihren Oberkörper etwas von ihm weg, damit er ihre verdrehenden Augen sehen konnte.
Lachend fügte Harry an: „Außerdem hab ich jetzt eine Ausrede mehr, keine Süßkartoffeln zu essen. Die sind gefährlich."
Er zwinkerte ihr zu und gab ihr einen sanften Kuss, ehe er sich abwandte und zum Kamin zurückging.
„Ich würde sagen, ich schaue, dass wir hier im Sturm nicht erfrieren, während du das machst, was du fast mehr liebst als mich - kochen."
Sein nicht ernst gemeinter trauriger Blick fing ihm ein erneutes Augenrollen seiner Freundin ein, die sich dann nur lachend wieder an die Arbeit machte.
Das Feuer im Kamin loderte und der Truthahn im Ofen verströhmte einen unwiderstehlichen Duft.
Mit Mykaela in seinen Armen, die ihren engelsgleichen blonden Lockenkopf an seine Schulter lehnte, während sie ihre Beine über seinen Schoß gestreckt hatte.
„Was geht dir gerade durch deinen hübschen Kopf?", fragte Harry.
Seine Freundin hatte eine leichte Furche auf ihrer Stirn und starrte ins Feuer ohne groß zu blinzeln. Obwohl er sich vorstellen konnte, was sie in diesem Moment beschäftigte, wollte er, dass sie wusste, dass es ihm nicht gleichgültig war.
Der Wind pfiff um die Hütte und er klammerte sich noch fester an die schmale Frau, die er seine Freundin nennen durfte.
Mykaela wandte ihre Augen vom Feuer zu ihm und lächelte etwas schelmisch.
„Sieh's positiv. Sollten wir von einem Baum zerquetscht werden, dann sterben wir wenigstens gemeinsam", neckte sie und tippte ihm auf die Nase.
„Nicht hilfreich", gab Harry zwischen zusammengepressten Zähnen zurück und versuchte sich zu entspannen.
Stürme machten ihm schon seit eh und je Angst. Selbst mit 28 hatte er diese Furcht noch nicht ablegen können und schämte sich in Momenten wie diesen dafür. Er war derjenige, der seine Freundin trösten und beruhigen sollte und nicht umgekehrt. Er war der Mann. Er sollte stark sein und sich ganz sicher nicht wegen einer Wetterlage in die Hose machen.
Die Blonde setzte sich aufrecht hin, nahm seinen Kopf in ihre Hände und entschuldigte sich: „Es tut mir Leid, Harry. Das war nicht ok. Ich weiß doch, wie sehr dir dieses Wetter zu schaffen macht. Kann ich irgendwas tun, um es erträglicher zu machen?"
„Nah bei mir sein und mir erzählen, was dich bis vor einigen Sekunden noch beschäftigt hat", erwiderte Harry und zog Mykaela noch näher an sich.
Schlagartig waren ihre Augen wieder etwas distanziert und strahlten eine gewisse Sorge aus.
„Engel, deinen Eltern geht es gut. Sie feiern womöglich gerade eine riesen Party mit all ihren Heim-Buddys. Ihnen fehlt es an nichts."
„Das weiß ich Harry", meinte sie und fuhr nach einer kurzen Pause fort. „Aber sie fehlen mir."
„Ich weiß, dass sie mich nicht mehr kennen, dass es sie noch nicht einmal stören würde, wenn ich sie nie besuchen würde. Und doch ist da die Hoffnung, jedes Mal, wenn ich ins St. George Care Home trete, dass sie sich wenigstens noch ein kleines bisschen an mich erinnern. Sie sehen aus wie Mum und Dad, sie klingen wie Mum und Dad, aber sie sind in ihren eigenen Augen keine Eltern mehr - waren es nie."
In den fünf Jahren, in denen sie nun bereits zusammen waren, war die Demenz Mykaela's Eltern in Form von Alzheimer schon immer Thema gewesen. Harry kannte ihre Eltern nicht anders und doch konnte er sich in seine Freundin hineinfühlen. Wenn er sich vorstellte, dass sich seine Eltern nicht mehr an ihn erinnern könnten, zog sich sein Herz jedes Mal schmerzhaft zusammen.
Es musste so schwierig sein zu wissen, dass sich die eigenen Eltern, die einen aufgezogen, Weisheiten weitergegeben und eine Familie gestaltet haben, nie mehr an all das erinnern würden.
Da er in diesem Moment nicht wusste, was er sagen sollte, da alles, was als Antwort zur Auswahl stand zu plump wirkte, schwieg er und legte seinen Kopf auf ihren, während er beruhigend über ihre Unterarme strich.
„Harry?", drang nach einiger Zeit die Stimme seiner Freundin zu ihm.
„Hm?", erwiderte er mit geschlossenen Augen und dem Kopf noch immer auf ihrem.
„Danke für die Zeit hier oben. Ich genieße jede einzelne Sekunde mit dir."
„Ich auch, wobei ich noch nicht weiß, ob es sich für mich dieses Jahr gelohnt hat", gab er glucksend zurück.
Er hob die Hand vor sie beide und drehte sie hin und her. Das Pflaster an seinem linken Zeigefinger sah man nicht mehr. Der Verband, der sich um seine ganze Hand und um den Zeige- und Mittelfinger wickelte, verdeckte es.
Als er sich nach seinem ersten 'Unfall' weiter um das Kaminfeuer gekümmert hatte, hatte er sich nach wenigen Minuten verbrannt.
„Deine perfektionistische Ader bringt dich irgendwann mal noch um", lachte Mykaela. „Das Holzscheit hätte auch 10 Grad gedreht noch richtig gebrannt."
Sanft nahm sie seine verbundene Hand in ihre, hauchte einen Kuss darauf und stahl sich dann einen von seinen Lippen.
Die Wärme, die sich in seinem Inneren ausbreitete, war nicht zu vergleichen mit der Wärme, die sich dank des Feuers in der Hütte befand. Er hätte sich beim Aufstieg zu diesem Ort auch das Bein brechen können und doch würde er sich nirgends anders wünschen als mit seinem Engel hier in ihrer Weihnachtshütte.
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Und so starten wir in diese kurze Weihnachtsgeschichte.
Heilig Abend ist bei Mykaela und Harry gemütlich und ruhig (bis auf den Sturm vor der Tür) und ich hoffe, dass auch ihr einen schönen Abend mit euren Liebsten verbringen könnt.
Ich geh jetzt mit meiner Familie Weihnachten feiern und melde mich morgen mit dem zweiten Kapitel.
Frohes Fest euch allen.
Eure StephVi
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