6. Die WG
Im Sommer 1993 kam Stella zusammen mit ihrem Mitbewohner Antonio von einer Party und war auf dem Weg nach Hause. Sie kamen dabei an einem Nachtclub vorbei, der für seine strengen Türsteher und seine reichen Gäste berüchtigt war.
Stella hatte den Club noch nie von innen gesehen, weil sie auf die Gesellschaft der mehr oder weniger namhaften Promis keinen Wert legte.
Vor dem Nachtclub diskutierten die Türsteher gerade mit einem Gast, den sie soeben herausbefördert hatten und der sich nicht mehr gerade auf den Beinen halten konnte.
„Wenn Sie hier weiter Ärger machen, brauchen Sie sich gar nicht mehr hier blicken lassen!", drohte einer der Türsteher auf Englisch.
„Pfff! ... Dann kaufe ich den Laden halt und schmeiß dich raus", lallte der Gast.
Stella hatte das gehört und näherte sich ein wenig, um sicherzugehen, dass sie den Mann nicht verwechselte.
„Tony?"
„Ah, Stella. Sag dem Heini mal, dass er mich wieder reinlassen soll. Ich habe da drin noch einen halben Drink stehen."
Der Türsteher spannte sich an, als Stella sich an Tonys Seite stellte.
„Sie hätten den auch austrinken können, wenn Sie keine Prügelei angezettelt hätten."
„Lass gut sein, Tony. Bist du allein hier?", fragte Stella den jungen Milliardär und legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter.
„Ja, ich darf schon alleine in Clubs, weißt du", witzelte der Betrunkene.
„Also gut, dann komm erstmal mit zu mir nach Hause und wir sehen dann weiter", schlug sie vor.
Tony schnaubte abfällig. „Na schön, aber den Drecksladen hier kaufe ich trotzdem. Dann können die scheiß Türsteher sehen, wo sie dann arbeiten dürfen."
Stella wandte sich an den Türsteher und sagte leise. „Ist schon gut. Ich kenne ihn und kümmere mich um ihn."
Der Türsteher entspannte sich und ging an seinen Platz zurück.
Nach wenigen Metern hatten Antonio und Stella eingesehen, dass Tony nicht mehr alleine geradeaus laufen konnte, daher stützten sie ihn den Rest des Weges ab.
Im Treppenhaus fragte Tony auf jedem Stockwerk: „Warum fahren wir nicht mit dem Aufzug?"
Stella sagte jedes Mal ruhig: „Weil das Haus keinen Aufzug hat. Aber wir sind gleich oben, so hoch ist das Haus nicht."
Als sie endlich im Dachgeschoss des Altbaus angekommen waren, bugsierten sie Tony zuerst in den Wohnungsflur und dann in Stellas Zimmer, wo er vornüber aufs Bett fiel.
Stella öffnete das Fenster, um frische Luft hineinzulassen, und half Tony aus seinem Sakko.
„Vom vielen Treppenlaufen ist mir schlecht geworden", stellte Tony plötzlich fest und Stella konnte ihm geradeso schnell genug ihren Papierkorb reichen.
Als der erste Schwall vorüber war, tauschte Antonio den Papierkorb gegen einen Putzeimer aus und ging raus, um den Inhalt zu entsorgen.
„Was führt dich nach Berlin?", wollte Stella wissen.
„Ich war geschäftlich in Paris und bin dann mit ein paar Typen weitergezogen, um mir eine kleine Auszeit zu gönnen", antwortete Tony knapp und hielt sich dann erschöpft die Hand vor die Augen.
Stella nahm ihn vorsichtig in den Arm.
„Ich kann das einfach nicht mehr. Ständig will jemand eine Unterschrift von mir oder mein Geld. Obadiah sagt mir laufend, was ich entscheiden oder tun soll, und schickt mich um die Welt wie ein verdammtes Paket. Fuck, ich weiß nicht, wie Dad das geschafft hat", gab Tony zu und übergab sich in den Putzeimer.
Stella brachte ihn danach dazu, einmal durchzuatmen. Er legte sich auf die Seite und platzierte seinen Kopf auf ihren Schoß. In dieser Position klagte er noch eine ganze Weile immer wieder sein Leid, bis er irgendwann einschlief.
Die junge Studentin ließ Tony so liegen und blieb aufrecht sitzen, um besser auf ihn aufpassen zu können. Irgendwann holte schließlich auch sie der Schlaf ein.
***
Als Tony aufwachte, lag sein Kopf auf dem warmen Schoß einer Frau. Ein Luftzug wehte frische Luft an ihn heran, bei der es aber schon spürbar war, dass heute wieder ein sommerlicher Tag in dieser Stadt werden würden.
Sein Kopf schmerzte, sobald er ihn ein wenig drehte, aber er wagte es, seine Augen einen Spalt breit zu öffnen.
Sein Gesicht war von der Frau abgewandt und er blickte in das überschaubar große Zimmer mit den schlichten hellen Möbeln. Außer einem Kleiderschrank, dem Bett, einer Kommode und einem Schreibtisch gab es hier nichts.
Über dem Schreibtisch hing eine Pinnwand, die vor lauter Notizzetteln überquoll. Auf dem Schreibtisch stapelten sich neben einem PC Bücher. Tony konnte die Titel nicht entziffern, aber auf ein paar der Buchrücken war die schematische Darstellung eines Menschen abgebildet.
Bin ich hier bei einer Medizinstudentin gelandet? Könnte schlimmer sein, oder?
Er schloss die Augen und stellte sich schlafend, bevor er sich umdrehte. Er wollte noch nicht in ihr Gesicht blicken, denn die meisten Frauen, die er abschleppte, sahen am nächsten Morgen nicht so aus, wie noch am Abend. Ihre Gesichter waren oft genug durch das verschmierte Make-up leicht entstellt.
Aber sie ist schön warm und riecht gut. Ob sie bereit für eine Abschiedsnummer ist?
Er schob seine Hand vorsichtig nach oben und tastete nach ihrer Brust. Sie lag angenehm weich in seiner Hand und er wollte damit anfangen, sie sanft zu kneten.
„Hey, lass das!", protestierte die Frau und schob seine Hand eilig weg.
Die Stimme kam ihm so vertraut vor, dass er aufschreckte und die Augen aufriss.
Das Gesicht der Frau war ungeschminkt und wurde von ein paar Sommersprossen geziert. Es war umrahmt von roten Locken und ihre grünen Augen funkelten ihn angesäuert an.
Auf einen Schlag erinnerte er sich grob daran, was letzte Nacht passiert war.
Ich war in diesem Club und habe meine Kumpels aus den Augen verloren, nachdem ich mit der Blondine auf der Toilette war. Danach wollte mich dieser Schrank von Kerl zur Rede stellen, was ich mit seiner Freundin gemacht habe. Und als wäre das meine Schuld, hat mich der Türsteher rausgeworfen. Stella hat mich aufgegabelt. Verdammt, ich habe ihr die ganze Nacht die Ohren vorgeheult!
„Sorry, ich dachte, du wärst jemand anderes", murmelte Tony und rutschte ein Stück weit von Stella weg.
„Wer soll ich denn sein?", hinterfragte sie.
Er zuckte mit der Schulter. „Die Blondine von der Toilette."
Der Ärger wich aus ihrem Blick und wurde durch etwas anderes ersetzt, was Tony nicht deuten konnte.
„Wachst du denn oft bei fremden Frauen auf?"
„Nein, meistens verdrücke ich mich noch in der Nacht", gab er zu.
Stella seufzte und rieb sich ihren Nacken, bevor sie vom Bett aufstand und zur Tür ging.
„Wir sollten erstmal frühstücken. Dein Magen dürfte ziemlich leer sein", forderte sie ihn auf.
Er folgte ihr durch den Flur in die Küche. Die drei Menschen, die an dem kleinen Tisch bereits saßen, waren alle etwa in Stellas Alter.
„Das sind meine Mitbewohner", begann Stella die Runde vorzustellen. „Da drüben sitzt Antonio, aber alle nennen ihn Garry."
Der junge Mann mit den dunkelblonden Haaren und der Brille nickte freundlich.
„Daneben sitzt Jill", sagte Stella und deutete auf die schwarzhaarige Frau in der Mitte. „Und rechts ist Carlotta."
„Oder kurz Lotta", kicherte die Brünette, während sie Tony aufmerksam musterte.
„Und das hier ist Tony", stellte Stella auch ihn vor, bevor sie aus der altmodischen Anrichte Geschirr holte und an die beiden freien Plätze auf den Tisch stellte.
Es roch bereits nach frisch aufgebrühtem Kaffee und auf dem Tisch befanden sich zwei Sorten Brot, Marmelade, Käse, Wurst und Butter.
Tony freute sich über die Tasse Kaffee, die Stella ihm hinstellte und begann ein wenig zu essen, während der Rest sich wieder in ein Gespräch vertiefte.
„Wir haben uns überlegt, heute an den See zu fahren. Das Wasser dürfte warm genug zum Baden sein", schlug Carlotta vor. „Matze und die anderen von Gegenüber haben gestern schon gesagt, dass sie auch mitkommen."
Stella sah Tony an und fragte: „Magst du auch mitkommen?"
„Ich habe keine Badehose dabei", wollte Tony sich herausreden.
„Du kannst eine von mir haben", sagte Garry.
„Es ist wirklich schön dort", versuchte Stella ihn weiter zu überzeugen. „So ein paar Stunden Frischluft werden uns allen guttun."
Tony erinnerte sich daran, dass Stella auch zu Hause gerne einfach im nächsten See badete. Er konnte das nie nachvollziehen, weil er sich vor den Fischen und den Algen scheute. Aber nun sah er in die erwartungsvollen Blicke dieser WG und gab sich geschlagen.
„Darf ich aber vorher telefonieren. Ich sollte Obadiah Bescheid geben, wo ich mich gerade aufhalte, bevor er die Polizei aufscheucht."
„Ja mach das", sagte Stella. „Das Telefon steht im Wohnzimmer."
„Ihr habt nur ein Telefon?", fragte Tony entsetzt.
Stella zuckte mit der Schulter. „Das reicht doch."
Garry stand auf und stellte sein Geschirr weg. „Ich werde dann mal die Badehose rauslegen. Sollen wir so in etwa einer Stunde losfahren? Können wir deinen Wagen nehmen?", fragte er Stella.
„Ja, das passt."
Nachdem die Stunde verstrichen war und alle ihre Aufgaben erledigt hatten, gingen alle gemeinsam aus der Wohnung.
Ihr Weg führte sie zwischen den Häusern hindurch in einen Hinterhof. Der Platz war auf drei Seiten von gleichförmigen Fertiggaragen umgeben. Die meisten Tore waren grau gestrichen, andere braun oder grün und wiederum andere waren mit kindlichen Motiven wie Sonnenblumen und Wölkchen bemalt.
Will ich wirklich wissen, was Stella für ein Auto fährt, dass es in diese kleine Garage passt, dachte er, als Stella gerade auf eines der grauen Tore zusteuerte.
Sie schloss es von Hand auf und schob das Tor nach oben.
Das Auto, das sich hinter dem Tor verborgen hatte, ließ die Garage auf einen Schlag deutlich größer wirken.
„Du kannst dir aussuchen, ob du bei mir oder bei Matze mitfährst", sagte Stella plötzlich und deutete mit dem Kopf auf einen blauen Kombi, der gerade auf den Hof gefahren kam.
Tony gefiel der Gedanke, bei einem Fremden mitzufahren noch weniger, als sich in das kleine Auto, das aussah wie eine gestauchte Limousine, quetschen zu müssen.
„Ich fahre bei dir mit, aber erst müssen wohl all die Clowns aussteigen." Er klopfte herausfordernd auf die hellblaue Karosserie und war erstaunt über den Klang. „Kunststoff? Jetzt weiß ich's: Du hast das Auto aus einem dieser Schokoladeneier, die sie hier verkaufen!"
„So ähnlich", warf Garry ein. „Der Vorbesitzer hat ihr zur Wohnung auch die Garage überlassen. Mit allem, was drin war. Also auch dem Trabbi."
„Und das Ding fährt wirklich oder muss man es vorher aufziehen?"
Stella verdrehte genervt die Augen. „Es fährt, wenn du aufhörst zu meckern."
„Also gut, ich sitze aber vorne!"
Sie stiegen nacheinander ein und fuhren los.
Am See suchten sie sich einen schattigen Platz und gingen nacheinander in eine der nahen Umkleidekabinen, um sich auf das erfrischende Nass vorzubereiten.
Tony hatte sich zwar die Badehose angezogen, hoffte aber, sitzen bleiben zu können und in Ruhe gelassen zu werden. Nach ein paar Minuten kam Stella aus der Umkleidekabine zu ihrem Platz zurück.
Sie hatte ihr Sommerkleid gegen einen Bikini getauscht und Tony fiel auf, dass seine Sandkastenfreundin zu einer attraktiven jungen Frau herangewachsen war. Er hatte sie schon immer hübsch gefunden, doch sie hatte in seiner Gegenwart noch nie so wenig angehabt, wie jetzt.
Hat sie eigentlich inzwischen mal einen Freund? Es kann ja nicht sein, dass niemand was von ihr will, dachte er, als er ihr dabei zusah, wie sie Sonnencreme auf ihre helle Haut auftrug. Nachdem sie alle Stellen, bis auf den Rücken geschafft hatte, drehte sie sich zu Tony um.
Sein Blick fiel unvermittelt in ihr Dekolleté.
„Du hast ein Tattoo!", staunte er, als er den weißen Wolfskopf auf der linken Seite ihres Ausschnitts erblickte.
Sie lachte nervös auf. „Ja, aber erzähle es bitte nicht meinen Eltern."
„Dann darfst du dich ihnen nie wieder im Bikini zeigen", entgegnete er, ohne den Blick von dem Tattoo abzuwenden.
„Es irritiert mich, wenn du da so hinstarrst!", beklagte sie sich.
„Wie soll ich denn da nicht hingucken. Das Kunstwerk will bestaunt werden."
Sie verschränkte die Arme und verdeckte den Anblick.
„Wer ist denn der Künstler?"
„Garry."
„Okay, zwei Fragen: Warum nennt man ihn Garry? Und läuft da was zwischen euch?"
„Sein Nachname ist Garibaldi und Garry ist kürzer. Und nein, zwischen uns läuft nichts."
„Aber er durfte dich da tätowieren?"
„Ja."
„Und er ist bei euch der Hahn im Korb. Mit mindestens einer von euch muss doch was laufen."
„Na ja," fing Stella zögerlich an. „Ich glaube, er steht nicht auf Hennen," flüsterte sie. „Auch wenn er sich da noch selbst unsicher ist."
Tony überlegte einen Augenblick und zuckte dann mit der Schulter. „Na dann, mehr Hennen für mich. Und wie siehts mit dir aus? Stehst du auf Hennen? Hast du es schonmal probiert oder würdest du gerne?", fragte er frei heraus, während er ihren Rücken fertig eincremte.
Sie lief leicht rot an und stand auf. „Das geht dich nichts an", presste sie hervor.
„Schon gut, ich mein ja nur, weil du immer noch keinen Freund hast. Wie kann das sein?"
In dem Moment lief ein junger Mann in einer engen Jeans mit Muskelshirt und Cowboystiefel vorbei und blieb bei Stellas Anblick pfeifend stehen. Er legte seinen vorne kurz und hinten lang frisierten Kopf schief, zwinkerte und sagte irgendetwas auf Deutsch zu Stella. Sie guckte angewidert und entgegnete ihm irgendetwas Schnippisches, worauf er mit der Schulter zuckte und weiter ging.
„Was hat er denn gesagt?"
Stella stieß genervt die Luft aus. „Er hat gesagt: Ey, Süße! Du hast ein klasse Fahrgestell! Ich würde dich gerne mal tiefer legen. So ein Idiot!"
„Ich glaube, den letzten Teil hast du dazu erfunden", amüsierte Tony sich.
„Und das ist der Grund, wieso ich noch keinen Freund habe. Weil alle Kerle, die mich ansprechen, Idioten sind."
„Ja ja, ich weiß, du wartest auf deinen Prinzen auf dem weißen Ross. Aber was spricht dagegen, sich in der Zwischenzeit zu amüsieren?"
„Mit so einem?"
„Na, es gibt schon auch noch was zwischen dem und dem Prinzen."
„Du weißt, dass mir das nicht liegt. Ich kann auch auf andere Weise Freude haben."
„Das interpretiere ich mal, so wie ich es will."
Bevor Stella antworten konnte, kam Lotta herübergelaufen und zog beide an den Händen ein Stück weit Richtung Wasser. „Los kommt schon ihr Langweiler! Wer als Erstes drin ist!"
Stella war schnell überredet und lief hinterher.
Tony ließ sich schließlich ebenfalls breitschlagen und planschte gemeinsam mit den anderen. Ohne dass er es je laut aussprechen würde, gefiel es ihm, zur Abwechslung mal auf so einfache Weise Spaß zu haben.
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