Am 17. Dezember 1991 klingelte das Telefon in Stellas Wohngemeinschaft in Berlin und als sie ranging, traf sie die Nachricht, die ihre Mutter für sie hatte, wie ein Blitz.
Tonys Eltern sind beide in der vorangegangenen Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die genauen Umstände waren noch nicht geklärt. Fest stand aber, dass Tony jetzt keine lebenden Verwandten mehr hatte.
Sie hatte ursprünglich einen Flug nach Denver gebucht, um erst am 23. Dezember nach Hause zu fliegen und die Feiertage bei ihrer Familie zu verbringen. Doch aufgrund der Neuigkeit packte sie sofort ihren Koffer und buchte den Flug um.
Bestürzt musste sie jedoch feststellen, dass sie auch mit dem schnellstmöglichen Flug nach New York trotzdem erst nach der Trauerfeier ankommen würde.
Um ihrem besten Freund dennoch beizustehen, versuchte sie ihn mehrmals anzurufen. Obwohl sie genau auf die Zeitverschiebung geachtet hatte, ging Tony nie dran. Einmal ging Mr. Stane, ein Geschäftspartner von Mr. Stark, ran und wimmelte Stella rüde ab.
Bis zu ihrer Ankunft in New York machte Stella sich zahlreiche Gedanken um Tony. Er hatte ihr in der Vergangenheit oft sein Leid geklagt, weil er ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater hatte. Sie glaubte trotzdem, dass Tony ihn insgeheim immer geliebt hatte und nun tieftraurig sein musste. Besonders, weil auch seine Mutter, mit der er immer gut ausgekommen war, ebenfalls umgekommen war.
Sie war sich unsicher, was die passende Begrüßung in so einer Situation sein könnte, aber sie kam zu dem Schluss, dass Tony vielleicht einfach nur ein Ohr zum Zuhören brauchte.
Gleich nach der Landung nahm sie sich einen Mietwagen und fuhr weiter zum Anwesen der Starks etwas außerhalb der Stadt.
Sie parkte den Wagen in der Auffahrt und holte noch einmal tief Luft, bevor sie die Stufen zum Haupteingang hinaufging und dort klingelte.
Nach einer Weile wurde die Tür von innen geöffnet. In dem Spalt erschien das freundliche Gesicht von Mr. Jarvis, der bereits seit Jahrzehnten der Butler der Starks war. Seine Haare waren inzwischen weiß und seine tiefen Falten zeigten die Sorgen und die Trauer, die er in letzten Tagen empfinden musste. Als er jedoch Stella erkannte, erhellte sich sein Blick leicht.
Der Butler bat sie, ins Haus zu kommen. Schon der Eingangsbereich war trotz allem weihnachtlich geschmückt. Mr. Stark war zwar nie ein gläubiger Christ gewesen, aber seine Frau fand es wichtig, ein paar Traditionen aufrecht zu erhalten. Und zu diesen Traditionen gehörte auch ein aus Holz geschnitztes Krippenspiel, dessen Figuren liebevoll angeordnet waren und welches neben der großen Treppe platziert war.
Mr. Jarvis führte Stella weiter ins Esszimmer, wo Tony bald eintreffen sollte. Er selbst wollte in die Küche gehen, um ihr einen Tee zu kochen.
Als sie allein im Raum war, sah sich Stella um und entdeckte, dass an einem Ende des großen Tisches verschiedene wichtig anmutende Papiere ausgebreitet waren. Sie wagte es nicht, sich den Blättern zu nähern, um zu sehen, was drauf stand, doch sie vermutete, dass es irgendetwas mit dem Konzern von Tonys Vater zu hatte.
Muss Tony etwa jetzt schon den Konzern allein führen? Das muss eine erdrückende Verantwortung sein, dachte sie bedrückt.
Am anderen Ende des Tisches waren zahlreiche Trauerkarten und Blumensträuße aufgereiht.
„Ich hätte ahnen müssen, dass du hier auch noch aufkreuzt", riss Tonys genervte Stimme sie aus ihren Gedanken.
Sie wollte auf ihn zugehen und ihn zur Begrüßung umarmen, doch als er abweisend seine Arme verschränkte, blieb sie ein paar Schritte entfernt stehen.
„Hallo Tony! Kann ich irgendetwas für dich tun?", fragte sie vorsichtig.
„Das glaube ich nicht", antwortete er knapp. „Es sei denn, du kannst neuerdings Tote wiederbeleben."
„Nein. Es tut mir leid, was passiert ist. Wenn du darüber reden magst, bin ich für dich da."
Tony schnaubte verächtlich. „Weißt du, wie oft ich das in den letzten Tagen gehört habe? Und was bringt mir das?"
Stella fiel keine passende Antwort ein und sie schaute betreten auf den Boden.
„Du weißt, dass es mir nichts bringt. Aber es bringt allen anderen etwas. Sie können sich besser fühlen und ruhig schlafen, nachdem sie ihr Mitleid geheuchelt haben", regte er sich auf und ging einen großen Schritt auf sie zu, sodass sie reflexartig zurückwich.
„Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas vorzuheucheln. Ich verstehe deine Wut. Ich bin hier, damit du sie dir von der Seele reden kannst", versuchte sie ihn zu beschwichtigen.
Er ging ein paar weitere Schritte auf sie zu, sodass sie erneut zurückweichen musste.
„Du willst meine Wut verstehen? Ausgerechnet du?"
„Ja, weil ich dich gut kenne."
Er schüttelte den Kopf. „Du verstehst gar nichts. Geh zurück nach Hause, auf deine kleine Farm, mit deinen perfekten Eltern und lass mich in Frieden", warf er ihr mit lauter werdender Stimme vor.
„Nein, ich bin jetzt extra hergekommen, um für dich da zu sein", wollte sie sich nicht abwimmeln lassen.
„Darum habe ich dich nicht gebeten. Also tu nicht so, als würdest du mir einen verdammten Gefallen tun. Verzieh dich!", spie er ihr entgegen.
„Bitte lass mich bleiben, bis ich wenigstens den Tee, den Mr. Jarvis mir gerade kocht, ausgetrunken habe. Ich bin bis dahin auch still", beharrte sie.
„Du kannst dir den Tee sonst wohin schieben. Raus!"
Er packte wahllos eine der Figuren aus dem Krippenspiel und schleuderte sie ihr entgegen.
Sie konnte ausweichen, bewegte sich dadurch aber weiter auf die Haustür zu.
Abwehrend hob sie ihre Arme und flehte leise „Tony, bitte!"
Eine weitere Figur flog durch die Luft und zerschmetterte das schmale Fenster neben der Haustür. Die nächste Figur traf eine Vase.
„Bist du so stur oder einfach nur schwer von Begriff?", regte er sich weiter auf und griff erneut nach einer Figur. „Hau endlich ab!", brüllte er und schmetterte den hölzernen Esel in ihre Richtung.
Dieses Mal schaffte sie es nicht, auszuweichen, und das Geschoss traf sie knapp oberhalb ihres Auges.
Tränen drückten in ihre Augen. Sie wusste nicht, ob es von dem physischen Schmerz kam oder ob die Verzweiflung inzwischen so sehr an ihr nagte. Sie versuchte sie einfach herunter zu schlucken. Als sie in Tony Gesicht sah, fiel ihr das umso schwerer.
Ihr bester Freund war erstarrt. Sein Gesicht war kreidebleich und seine Augen waren weit aufgerissen.
Gerade als er sich endlich aus seiner Haltung löste, um etwas zu sagen, öffnete sich die Haustür von außen.
Mr. Stane kam herein und begutachtete skeptisch die beiden jungen Menschen. Der großgewachsene Glatzkopf mit dem Vollbart wandte sich schließlich mit einem kühlen Blick an Stella.
„Du solltest jetzt gehen. Es war ja schon von draußen zu hören, dass Tony dich nicht sehen will."
Stella blickte fragend zu Tony herüber, der aber immer noch stumm da stand.
„Geh jetzt raus oder ich rufe die Polizei", drängte Mr. Stane.
Stella schluckte. Sie wollte ihren Freund nicht in dieser Situation alleine lassen. Aber sie war hier auch nicht erwünscht und nicht fähig zu helfen.
„Bitte melde dich, wenn ich was tun kann", sagte sie leise zu Tony, bevor sie still durch die Haustür verschwand.
***
Tony wusste nicht, was ihn geritten hatte, mit Gegenständen nach Stella zu werfen. Doch in dem Moment, als er sie schließlich traf, blieb sein Herz fast stehen.
Er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie mit aller Macht versuchte tapfer zu bleiben. Die Stelle oberhalb ihres Auges blutete und er war derjenige, der das angerichtet hatte.
Nachdem Mr. Stane sie schließlich weggeschickt hatte, sah er ihr noch einen Augenblick betreten hinterher. In ihm wuchs langsam die Angst, seine Freundin für immer vertrieben zu haben und er fragte sich, wie sie nun heimkommen würde. Er fing an sich alle möglichen Szenarien ausdenken, die zu einer Bedrohung für sie werden könnten.
„Können wir jetzt mit den Unterlagen anfangen?", wies Mr. Stane Tony darauf hin, dass sie noch eine Menge zu tun hatten.
„Eine Minute noch", bat Tony und begann damit, die Krippenfiguren aufzuheben und an ihren Platz zurückzustellen. Als er dabei einen Blick durch das Fenster neben der Tür erhaschte, sah er, dass Mr. Jarvis noch mit Stella an ihrem Auto sprach.
Er war froh, dass der treue Butler sich noch um sie kümmerte und sie nicht einfach fortfahren ließ.
***
Mit schnellen Schritten war Stella von der Haustür weg zu ihrem Mietwagen gegangen und blieb stehen. Als sie den Schlüssel in das Türschloss stecken wollte, spürte sie, wie sehr ihre Hände zitterten. Erschöpfung machte sich in ihr breit und sie lehnte sich mit ihrer Vorderseite an den Wagen an, um einen Moment durchzuatmen.
Nach dem letzten tiefen Atemzug spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich danach um.
Mr. Jarvis war zu ihr herausgekommen und schaute sie besorgt an.
„Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig dazwischen gehen konnte", entschuldigte der alte Mann sich.
„Es ist schon gut. Im Moment kann wohl niemand mit ihm einfach reden", antwortete sie mit einem kleinen Seufzer.
„Ich bin froh, dass Sie nicht direkt losgefahren sind. Beim Fahren sollte man einen kühlen Kopf haben. Und außerdem kann ich Ihnen somit wenigstens noch etwas mit auf den Weg geben", sagte er und hielt eine Thermoskanne sowie eine kleine Frischhaltedose hoch. „Ein heißer Tee und etwas frisch gebackener Lebkuchen."
„Das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich kann die Behälter nicht so bald zurückbringen."
„Das ist schon in Ordnung. Mr. Stark wird es sich leisten können beides neu zu kaufen – derartige Sorgen hat er gerade nicht", er griff in seine Manteltasche und zog ein Taschentuch heraus, welches er Stella reichte. „Für die Stelle über Ihrem Auge", erklärte er.
Sie nickte und nahm das Tuch dankend entgegen. „Bitte passen Sie auf ihn auf. Ich fürchte, Sie sind hier im Moment der Einzige, der es aufrichtig gut mit ihm meint", sagte sie und dachte an den Blick von Mr. Stane zurück. Bei diesem Mann hatte sie ein seltsames Bauchgefühl.
„Ich werde tun, was in meiner Macht steht", antwortete der Butler mit einem aufmunternden Lächeln. „Grüßen Sie Ihre Eltern von mir!"
„Auf Wiedersehen!", sagte Stella und setzte sich in den Wagen, um ihre Heimreise zu beginnen.
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