36. Die Informationen
Als die Steve, Natasha und Nadja mit ihrem Essen versorgt waren, setzten sie sich an einen Tisch in der hinteren Ecke des Gastraumes. Wer jetzt reinkam, sah den Platz nicht sofort, aber Steve konnte von dort aus alles halbwegs überblicken.
Eine Zeit lang schwiegen sie und waren damit beschäftigt ihre Sandwiches zu verspeisen. Am Ende der Mahlzeit öffnete Natasha die kleine Tüte Chips, die sie zum Menü dazubekommen hatte, und knabberte ein paar davon, während Nadja sichtlich ihren Keks genoss.
„Also, was gibt es so Neues? Ist irgendwas Interessantes passiert?", eröffnete Natasha schließlich das Gespräch.
„Geschichten aus dem Untergrund? Du weißt, dass ich über meine anderen Auftraggeber nicht rede."
„Ist mir klar. Aber wie ist so allgemein die Stimmung?"
„Nun ja es gehen Gerüchte um ..."
Das verschmitzte Funkeln in Nadjas Augen ließ Steve ahnen, dass jetzt ein Scherz kam. Natasha sah das Mädchen abwartend an.
„Mr. Hammond hat ein Forschungsteam beauftragt, um Dinosaurier DNA aus Bernstein zu gewinnen. Er will einen einzigartigen Tierpark eröffnen."
„Warum sollte er so etwas wollen?", wunderte Steve sich.
Natasha rollte mit den Augen, aber grinste. „Ich glaube, unser großer Blonder hier kennt den Film noch nicht."
„Nicht?", machte Nadja große Augen. „Das ist eine riesige Bildungslücke!"
Mit einem leisen Seufzer zog Steve sein Notizbüchlein aus der Tasche, in dem er nach Stellas Empfehlung alles aufschrieb, was er noch aufholen wollte. Jetzt bin ich doch auf sie hereingefallen, dachte er und fragte: „Wie heißt der Film?"
„Jurassic Park", diktierte Nadja. „Und kleiner Spoiler: Der Witz ist, dass der Typ im Film fast genauso heißt, wie der Dad von der einen Frau über die ich für Natasha nachforschen sollte."
„Hast du was rausbekommen?"
Sie kramte in ihrem Rucksack, den sie auf der Bank neben sich platziert hatte. Daraus holte sie eine gelbe Plastikfigur, die ein Fantasiewesen mit spitzen Öhrchen, Pausbäckchen und einem blitzförmig gezackten Schwanz darstellte.
„Da sind die Informationen zu der Frau und ihrem Ex-Mann drauf", erklärte das Mädchen und schob das gelbe Etwas zu Natasha herüber.
„Pikachu? Ist das dein Ernst?"
Nadja zuckte mit der Schulter. „Ich habe ihn aus einem Gachapon vor diesem Sushi-Laden gezogen. Keine Angst, ich habe das Dateisystem überprüft, er funktioniert einwandfrei. Man muss manchmal mit dem Arbeiten, was man hat, oder nicht?" Während sie erzählte, holte sie eine zweite Plastikfigur in Form eines Schwertes hervor und schob diese ebenfalls über den Tisch. „Hier sind die Daten zu der anderen Frau und ihrem Begleiter drauf."
Natasha beäugte die Figuren und zog dem gelben Tier den Kopf ab. Es zeigte sich der Stecker eines USB-Sticks.
„Wenn es dir lieber ist, nehme ich nächstes Mal einen einfachen silbernen."
„Fände ich gut, wenn du das einrichten könntest."
„Und dann schreibe ich in Rot >>Top Secret<< drauf", scherzte Nadja.
„Über die Beschriftung sollten wir noch einmal reden", schmunzelte Nat. „Kannst du uns eine kurze Zusammenfassung geben, was uns da drauf erwartet?"
„Über wen zuerst?"
„Das Paar, das auf dem Weg nach Europa sein müsste", entschied Natasha.
„Ich habe Sichtungen von den beiden in Italien, Deutschland und Frankreich."
„Weißt du, wo ihr Ziel ist?"
„Nein, darüber gab es nichts. Sie kaufen sich die Tickets immer erst an dem Bahnhof, ab dem sie losfahren und scheinbar nur für genau den nächsten Abschnitt der Reise. Vielleicht haben sie gar kein richtiges Ziel. Aber im Moment sieht es so aus, als würden sie sich Richtung Norden bewegen. Ihre Spuren sind aber sehr lückenhaft. Sie zahlen nicht mit Kreditkarten und haben meistens ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen."
Das überraschte Steve nicht, denn es war genau das Verhalten, das Natasha Wanda eingebläut hatte, bevor sich ihre Wege getrennt hatten.
„Na dann denken wir ja zumindest schon mal in die richtige Richtung", schlussfolgerte Natasha. „Was ist mit den anderen beiden?"
„Sie sind offiziell geschieden", fing Nadja an zu berichten.
Natasha hatte Steve von dem Vorfall in Cape Canaveral erzählt, bei dem Michael Stella mit den Scheidungspapieren überrascht hatte. Einerseits hatte Stella ihm leidgetan, weil Michael sie auf diese Weise schon wieder verletzt hat. Andererseits war er aber gleichzeitig ein bisschen erleichtert. So konnte sich seine Freundin endlich von diesem Mistkerl lösen, auch wenn sie diejenige hätte sein müssen, die die Scheidung veranlasst. Genug Gründe dafür hatte Michael schon längst geliefert.
„Der Mann wurde nach Nevada versetzt – in den Stützpunkt, der im Volksmund als Area 51 bekannt ist."
„Also hat er jetzt den schicken Posten, den er sich immer gewünscht hat", brummte Steve.
„So genau habe ich nicht nachgesehen. Die Frau wurde auch versetzt - zur Peterson Air Force Base in der Nähe von Colorado Springs. Sie hat ein Haus dort gekauft und Tickets für zwei Personen für den Autozug gebucht. Übermorgen geht die Reise los."
„Sie wurde auch versetzt?", wollte Steve sich versichern, dass er richtig gehört hatte.
„Ja", bestätigte die Hackerin.
„Warum? Was wird dort ihre Aufgabe sein? Ist an die Airbase auch ein Krankenhaus angeschlossen?"
„Ich weiß es nicht. Mehr habe ich nicht rausgefunden."
„Aber in ihrer Akte muss doch zumindest eine Bezeichnung für den neuen Posten stehen?", wunderte sich Natasha.
„Darauf hatte ich keinen Zugriff.", antwortete Nadja knapp und richtete sich ein wenig auf.
„Du willst mir erzählen, dass du es nicht geschafft hast, Einblick in eine Personalakte bei der Air Force zu bekommen?", bohrte Natasha weiter nach. „Du hast schon ganz andere Systeme geknackt."
Nadja schluckte leicht. Steve hörte, wie sich ihr Puls langsam beschleunigte.
„Vielleicht machen die Jungs bei der Space Force einfach einen besseren Job als ihre Kollegen?", entgegnete Nadja schnippisch.
„Das heißt, sie hat die Air Force verlassen und ist zur Space Force gewechselt?", wunderte Steve sich.
„Nein nicht ganz. Die Space Force ist ja ein Teil der Air Force", erinnerte Natasha ihn an die Struktur der heutigen Streitmächte. Sie richtete sich wieder an Nadja: „Wenn es ums Geld geht – ich kann dir im Moment leider nicht mehr geben. Aber ich würde das alles trotzdem gerne ein bisschen genauer wissen. Den Zusatzaufwand werde ich dir später auf jeden Fall vergüten."
„Es geht nicht", stellte Nadja klar. „Egal wie viel Geld du mir versprichst."
Nadjas Geruch hatte sich verändert, zu ihrem bisherigen Duft ist die Note hinzugekommen, die Steve als Angstschweiß bezeichnen würde. Ihre Muskeln waren jetzt so angespannt, als ob sie sich für eine Flucht bereit machte, während ihre Augen immer wieder zum Ausgang huschten.
Natasha schien die Körpersprache des Mädchens ähnlich zu interpretieren, wie Steve und lenkte ein: „Also gut, das hilft uns trotzdem schon sehr. Kontaktiere mich, wenn du es dir anders überlegst, ja?"
Nadja nickte vorsichtig.
„Und hast du das Ersatzteil?"
Nadja zog ein in Packpapier eingewickeltes Ding aus ihrem Rucksack und reichte es unter dem Tisch zu Natasha herüber. Diese warf durch einen Spalt in der Verpackung einen kurzen Blick darauf und ließ es dann in ihrem eigenen Rucksack verschwinden.
„Gute Arbeit", schloss Natasha schließlich den geschäftlichen Teil des Treffens ab.
Sie leerten noch ihre Getränkebecher und räumten dann ihre Tabletts weg. Steve wickelte den Keks, den er zu seinem Menü dazu genommen hatte, in eine Serviette ein und reichte das kleine Bündel Nadja, nachdem sie den Laden verlassen hatten und auf dem Weg davor standen. „Du kannst bestimmt noch ein wenig Wegzehrung gebrauchen", sagte er dazu.
Zögernd nahm sie die Süßigkeit an und steckte sie in ihren Rucksack. „Danke", sagte sie leise. Steve schenkte ihr dafür noch ein kleines Lächeln.
Nadja räusperte sich und sagte: „Also, ich lasse euch beide hier jetzt allein. Mein Bett ruft. Viel Glück auf eurer Reise!"
„Danke", antwortete Natasha. „Und du bleibst am Leben, klar?"
„Hatte ich so vor", schmunzelte das Mädchen. Sie nickte Steve noch einmal zu, bevor sie sich umdrehte und in die Gasse hinter ihr verschwand.
Er versuchte sie mit seinem Blick zu verfolgen, doch nachdem sie am Ende des Weges flink über einen Zaun kletterte, bog sie ab und verschwand damit in der Nacht.
***
Auf dem ganzen Weg zum Quinjet sah Natasha ihrem Begleiter bereits an, dass er Fragen hatte. Sie war froh, dass er sie nicht aussprach, denn sie grübelte selbst noch über das Gespräch mit Nadja nach. Was sie wie bei jeder Begegnung mit ihr nicht verstand, war die Tatsache, dass es sich seltsam anfühlte, sie am Ende wieder in die Nacht ziehen zu lassen.
Im Quinjet angekommen, machte sich Natasha daran die Daten auf den beiden USB-Sticks zu sichten. Nadja hatte die Erkenntnisse akkurat zusammen gefasst.
„Wer ist das Mädchen?", konnte Steve schließlich nicht mehr an sich halten.
„Nadja", antwortete Natasha knapp.
„Und sie ist eine Hackerin? Du kannst diese Dinge doch auch – ist sie darauf spezialisiert?"
„Ja ist sie. Dafür ist sie nicht sehr gut im Nahkampf. Aber mit Computersystemen umgehen kann sie."
„Das war also nicht ihr erster Auftrag", sprach Steve das Offensichtliche aus.
„Weißt du noch neulich am Busbahnhof, als wir dieses Phantombild gesehen haben?"
„Du meinst den Kerl mit dem eigenartigen Namen. Dreamhouse nannte er sich, oder? Das CIA ist hinter ihm her."
„Nicht nur die. Nadjas Glück ist es, dass sie eine ziemlich stereotypische Vorstellung davon haben, wer Dreamhouse sein könnte. Die denken, dass deren meistgesuchter Hacker ein fetter Kerl Mitte dreißig ist, der im Keller seiner Mutter haust. Wie du gesehen hast, entspricht sie dem Bild nicht ganz."
„Aber was hat jemand wie sie in diesem ... Gewerbe zu suchen? Woher kommt sie? Wer ist sie?"
„Warum interessiert dich das so sehr?"
„Sie sieht ein wenig aus wie Buckys Schwester. Andererseits könnte sie auch mit Milly verwandt sein. Sie war ein Mädchen, das damals mit uns befreundet gewesen ist."
Ist es möglich, dass wir etwas übersehen haben, als wir sie damals durchleuchtet haben?
„Also gut, ich erzähle, dir was ich weiß. Viel ist es aber nicht, denn sie selbst spricht nicht über ihre Vergangenheit", gab Natasha mit einem Seufzer nach.
Steve nickte.
„Sie heißt Nadja Kavalski. Ihr Dad war Lieutenant bei der Air Force und ist im Einsatz ums Leben gekommen. Ihre Mutter hat sich, gleich nachdem sie davon erfahren hatte, sein Sterbegeld auf einen Schlag auszahlen lassen und ist damit abgehauen."
„Und hat ihre Tochter zurück gelassen?", fragte Steve mit großen Augen.
„Ja."
„Gab es niemand anderes, der sich gekümmert hat?"
„Nein, die Großeltern waren schon länger tot oder lebten weiter weg. Die Familie ist oft umgezogen, weswegen es auch keine engeren Freunde in der Nähe gab."
„Und das Jugendamt?"
„Sie war schon weg, als man mal auf die Idee kam, nachzusehen. Der Vermieter hat das Haus schließlich räumen lassen. Fury hat dafür gesorgt, dass die Habseligkeiten der Familie eingelagert werden."
„Aber ihr habt sie weiter auf der Straße leben gelassen? Oder wo ist sie untergekommen?", hinterfragte Steve. Natasha war klar gewesen, dass jetzt sein Drang, immer das Richtige zu tun, durchkommen würde.
„Ich weiß manchmal auch nicht, was in Fury vorgeht. Und nein, ich habe keine Ahnung, wo ihr Unterschlupf ist. Ich habe mal versucht, ihr zu folgen, aber sie hat mich abgeschüttelt."
„Sie hat dich abgeschüttelt?" Ein kleines Lächeln huschte über Steves Lippen.
„Sie ist recht wendig und hat ein extrem gutes Gedächtnis. Durch ihren Heimvorteil kennt sie wahrscheinlich jeden Winkel und jeden Tunnel in der Stadt.", erklärte Natasha, auch wenn es tatsächlich leicht an ihrem Ego kratzte, dass sie diesen Teenager nicht aufspüren konnte.
„Das heißt, sie schläft wo? Vielleicht in der Kanalisation?" Er schüttelte den Kopf. „Nenn mich altmodisch, aber das ist nicht das Leben, das ein Mädchen in ihrem Alter führen sollte. Ihr hättet ihr da raus helfen können, wenn ihr schon davon wusstet."
„Wie gesagt – ich weiß auch nicht immer, was Furys Pläne sind. Aber er hat was davon gesagt, dass sie auf die Weise ihr volles Potential ausleben kann. Sie ist besser, als sie selbst glaubt."
Steve hob eine Augenbraue.
„Fury hat mal versucht sie damit zu beauftragen, Tonys Anzug zu hacken. Sie hat sich geweigert, den Auftrag anzunehmen. Da steckt ein Mensch drin, war ihre Begründung. Sie wollte ihn nicht gefährden."
„Sie hatte große Angst, ich denke, das hast du ihr auch angesehen, oder? Wovor?"
„Sie muss vorsichtig sein. Dadurch lebt sie länger. Ich habe ihr ein paar Verteidigungstechniken beigebracht, aber das ist noch kein Grund für sie übermütig zu werden."
Natasha hoffte, dass Steve diese Erklärung reichte. Tatsächlich war Nadja es durchaus gewohnt auch mal mit finsteren Gestalten zu verkehren. Aber sie glaubte auch, dass das Mädchen einer Organisation über den Weg gelaufen ist, die ein sehr guter Grund war, Angst zu haben. Die Vermutung, dass sie bei den Nachforschungen über Stella auf eben diese gestoßen sein könnte, wollte Nat aber Steve nicht wissen lassen.
Er würde losstürmen und Stella helfen wollen. Aber wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.
„Hör zu, wenn du magst, können wir uns später noch einmal mit Nadja beschäftigen", schlug Nat vor. „Aber erst sollten wir an unserem Plan festhalten und Wanda und Vision finden. Wenn Stella zugibt, dass sie Visionen hat, muss es doch wichtig sein? Oder sollten wir das etwa ignorieren?"
„Nein sollten wir nicht", gab Steve ihr Recht und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Passt das Ersatzteil denn?"
„Ja, unserem Flug nach Europa steht nichts mehr im Weg."
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