33. Der Fluchtplan

Am nächsten Tag hat Stella sich endlich dazu durchringen können, ihrem Sohn zu erzählen, welche Änderung noch auf die beiden zukam. Sie hatte gar nicht erwartet, dass er sich darüber freuen würde, doch ein Teil von ihr hatte gehofft, dass er es besser aufnehmen würde.

Tatsächlich protestierte er, weil er seine Freunde nicht zurücklassen wollte, um in weiter Ferne an eine neue Schule zu gehen.

Das einzige Argument, dass ihn beschwichtigen konnte, war die Tatsache, dass sie nach dem Umzug deutlich näher an der Farm sein würden. Außerdem versuchte Stella ihm klar zu machen, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als den neuen Posten anzunehmen.

Nach dem Gespräch herrschte hauptsächlich Schweigen zwischen den beiden und Antony zog sich den Rest des Tages in sein Zimmer zurück.

Stella versuchte in der Zwischenzeit erneut, die Scheidungspapiere zu lesen, und hatte den Vorsatz, sie zu unterschreiben. Sie verstand inzwischen ein bisschen mehr davon, was da stand. Dennoch konnte sie sich am Ende nicht dazu durchringen, den Stift in die Hand zu nehmen und es endlich hinter sich zu bringen. Wenn er mich all die Jahre so hintergangen hat, könnte er auch dieses Mal einen Haken versteckt haben, war der Gedanke, der sie dazu veranlasste das Dokument zurück zulegen. Stattdessen wandte sie sich ihrem Computer zu und begann damit, nach einer passenden Unterkunft an ihrem neuen Wohnort zu suchen.

Sie merkte sich dabei mehrere mögliche Treffer und schaltete zu weit fortgeschrittener Stunde schließlich den Computer ab.

Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie nicht ruhig schlafen. Neue Träume suchten sie inzwischen zum wiederholten Male ein. Sie fühlten sich genauso bedrohlich an, wie diejenigen, die sie vor dem Alien-Angriff auf New York hatte. Nur waren es dieses Mal deutlich mehr unterschiedliche Bilder, die wie ein großes Puzzle an ihr vorbeizogen. Es gelang ihr nicht, sie zu ordnen, stattdessen notierte sie sich die Fetzen, die sie halbwegs klar beschreiben konnte. Was zwischen all dem hervorstach, waren die Bilder von der jungen Frau, die sie bereits in Lagos gesehen hatte. Und die Nachrichten hatten gezeigt, dass damals die Ereignisse, die Stella im Traum beobachtet hatte, wirklich eingetreten waren.

Doch wer würde mir zuhören, wenn ich so etwas Verrücktes erzähle?, überlegte sie, während sie versuchte, noch ein bisschen Schlaf zu finden.

Als Stella am nächsten Tag ihren Dienst in der Klinik antrat, kam ihr direkt Rachel entgegen.

„Hast du schon gehört, was diese Nacht passiert ist?", fragte sie nach einer hastigen Begrüßung.

„Nein, ich bin gerade erst angekommen. Was ist denn los?"

„Unser John Doe ist verschwunden."

„Der Mann, der über den Wischmopp gefallen ist?", hinterfragte Stella. Es war nicht außergewöhnlich, dass Patienten sich davon schlichen, wenn sie glaubten, dass sie sich ausreichend erholt haben. Meistens fand man sie dann in ihrem eigenen Zuhause wieder, zumindest wenn man wusste, wo sie wohnen. Aber sie wurden dabei auch fast immer von jemanden gesehen.

„Ja, hat sich wie ein Ninja rausgeschlichen. Nicht mal auf den Überwachungskameras war er zu sehen. Das sagen zumindest die Jungs vom Wachdienst."

Das gerade dieser Patient so spurlos verschwunden war, beunruhigte Stella. Da er in der Nacht aufgetaucht ist, in der Natasha eingeliefert wurde, glaubte sie, dass er was mit ihrem Unfall zu tun hatte. Und sie hatte den Verdacht, dass er kein Verbündeter von der Agentin war.

„Sucht man weiterhin nach ihm?", wollte Stella wissen.

„Im Moment sucht noch der Wachdienst selbst weiter. Man glaubt, dass er auch noch irgendwo auf dem Gelände sein könnte. Aber sie überlegen wohl, Hilfe von außen zu holen."

Das ist nicht gut. Wenn der Kerl weg ist, ist er zwar selbst erstmal kein Problem mehr. Aber wenn das Krankenhaus durchsucht wird, kann auch herauskommen, wer Natasha wirklich ist. Was kann ich dagegen tun?

***

Aus den Gesprächen der Krankenschwestern hatte Nat herausgehört, das der Kerl, den Stella mit dem Wischmopp ruhig gestellt hatte, verschwunden war. Das war noch kein Anlass zur Sorge. Was aber Nats Anspannung steigen ließ, war die Tatsache, dass jetzt gerade in dem Moment das komplette Gelände vom Wachdienst durchforstet wurde. Möglicherweise sollte auch Verstärkung angefordert werden.

Daher überlegte Nat gerade, wie sie es dem Wischmopp-Kerl gleichtun und sich in Luft auflösen könnte.

Inzwischen war es schon wieder Abend, ohne dass sie eine Lösung gefunden hatte. In dieser Klinik war im Moment einfach viel zu viel los, als dass sie sich ungesehen hätte fortbewegen können. Außerdem hatte sie nichts bei sich, bis auf das Patientenhemd, das sie anhatte. Fast alles andere war der Explosion im Motel zum Opfer gefallen. Sie brauchte nicht nur einen Plan, um aus der Klinik zu kommen, sondern auch um die Stadt zu verlassen.

Es kann nicht sein, dass ich mich so einfach erwischen lasse. Das kann ich doch besser!, dachte sie und setzte sich in ihrem Bett etwas weiter auf, um die Reste ihres Abendessens zu verspeisen, die sich gerade wie eine Henkersmahlzeit anfühlten. Bei der Bewegung ging ein unangenehmes Ziehen von den Wunden aus, wegen denen sie Stella bisher noch nicht gehen lassen wollte. Ich kann mich doch nicht von zwei kleinen Kratzern aufhalten lassen, versuchte sie, sich einzureden.

In dem Moment rollte Stella eine Trage durch die Tür und schloss diese eilig.

Nat zog einen Mundwinkel nach oben. „Ich habe dich noch gar nicht gesehen. Ist viel los heute?"

Stella atmete hörbar aus und sagte: „Ja, kann man so sagen. Hat sich heute schon jemand deine Wunden angesehen? Darf ich sie noch einmal sehen?"

„Ja, deine Kollegin war schon da. Aber du darfst sie auch sehen."

Ihre Stirn lag in Falten, als die Ärztin die Verletzungen eingehend begutachtete und die Verbände wechselte.

„Normalerweise würde ich dich bitten, noch zu bleiben, bis alles ein bisschen besser verheilt ist."

„Du findest, ich sollte aber gehen, jetzt wo es durch den Wachdienst und seine Durchsuchungsaktion gerade so schön gemütlich wird?"

„Ich glaube, dass sie dich entdecken könnten. Sie suchen zwar eigentlich jemand anderen, aber sie sind kurz davor dabei einfach jeden zu überprüfen."

Stella sah Natasha fragend an, so als hoffte sie, dass die ehemalige S.H.I.E.L.D-Agentin einen guten Plan hatte.

Aber sie sieht auch so aus, als hätte sie sich ihre eigenen Gedanken gemacht. Vielleicht hat sie eine Idee, die brauchbar ist.

„Hast du einen Plan, wie du mich verstecken kannst?", fragte Nat direkt.

Die Ärztin biss sich auf die Unterlippe und nickte vorsichtig. „Zumindest einen Ansatz habe ich. Der Rest geht hoffentlich auf."

„Klingt so, als könnte das ein spaßiger Abend werden." Sie nickte in Richtung der Trage. „Hat das da was mit deinem Plan zu tun?"

„Ja, du musst dich drauflegen", erklärte Stella knapp.

„Ist das schon der ganze Plan oder überlegst du dir den zweiten Teil noch?", versuchte Nat ein bisschen mehr aus der Ärztin herauszukitzeln.

Diese strich sich fahrig eine Strähne ihrer inzwischen lockigen Haare aus dem Gesicht. „Das ist noch nicht alles. Aber wir haben wenig Zeit, deswegen müssen wir jetzt zusehen, dass wir hier rauskommen."

„In Ordnung, dann lasse ich mich überraschen", sagte Nat schulterzuckend, ging zur Trage und legte sich drauf.

Stella nahm das Laken vom Fußende der Trage und deckte Nat komplett damit zu. Ihre wenigen Habseligkeiten legte sie mitsamt dem Plastikbeutel, in dem sie zu Nat ins Zimmer gebracht worden waren, an den Platz, an dem bis eben noch der weiße Stoff zusammengefaltet war.

„Ich soll mich also tot stellen?", versicherte Nat sich.

„Ja, das wäre gut."

„Okay das lässt sich machen."

Nat hörte, dass Stella die Tür öffnete und spürte, wie sich die Trage in Bewegung setzte.

Aufmerksam lauschte sie danach, was um sie herum geschah. Die Schritte, die die Trage begleiteten, gehörten zu Stella. Ob sie überhaupt jemand anderen - in was auch immer sie vorhat - eingeweiht hat?

Zwischendurch grüßte sie beiläufig eine ihrer Kolleginnen, während sie Nat durch einen belebten Gang manövrierte.

Sie hielten an. Nat hörte das elektrische „Bing" eines Fahrstuhls und wurde gleich darauf ein Stück weiter geschoben. Mit einem leisen Rauschen schlossen sich die Türen der Kabine und Schnitten die Geräusche von draußen ab. Ob die Fahrt nach oben oder unten führte, wusste sie nicht. Aber als sich die Türen wieder öffneten, schob Stella sie in einen Gang, in dem so gut wie nichts los war. Die Luft hier roch abgestandener als auf der Station, aber war immer noch von dem krankenhaustypischen Desinfektionsmittel geprägt.

Fremde Schritte näherten sich. Stella beschleunigte ihren Gang ein wenig.

„Ma'am, warten Sie mal kurz!", forderte eine freundliche Männerstimme bestimmt.

Der muss vom Wachdienst sein!

Stella blieb stehen.

„Gibt es denn ein Problem?", fragte die Ärztin und Nat hörte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme.

Ich weiß zwar nicht, was sie vorhatte, aber wenn der Kerl zu neugierig ist, werden wir auffliegen, befürchtete Nat und versuchte so wenige Atembewegungen zu machen, wie möglich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Was machen Sie hier?", fragte der Mann plump.

Stella schien erst zu zögern, doch dann schnappte sie: „Wonach sieht es denn aus?"

„Das möchte ich gerade von Ihnen wissen."

„Ich kann Ihnen sagen, was Sie gerade machen: Sie halten mich von meiner Arbeit ab. Oder glauben Sie, dass ich zum Vergnügen hier unten bin?"

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen", antwortete der Mann schon etwas kleinlauter. „Ähm ... darf ich da mal drunter sehen?"

„Sie wollen ernsthaft sehen, was unter dem Tuch ist?", hinterfragte sie und spielte die Pikierte. „Da ist der arme Kerl drunter, der bei uns in der Notaufnahme gelandet ist, nachdem er in eine Schiffsschraube geraten war. Ist das etwa ein Anblick, auf den Sie scharf sind?"

„Nein, eigentlich nicht", stammelte der Fremde.

„Gut, ich bin es nämlich auch nicht. Und jetzt lassen Sie mich das endlich hinter mich bringen."

„Sicher Ma'am, aber ich muss fragen, ob Sie diesen Mann hier gesehen haben."

Nat vermutete, dass Stella sich jetzt das Foto des Wischmopp-Kerls ansehen musste.

„Ja, gestern bei der Visite."

„Und danach nicht mehr?"

„Nein. Ich habe im Moment wirklich genug anderes zu tun. Und ich bin für ihn nicht zuständig."

„In Ordnung. Danke für Ihre Zeit", gab der Mann endlich auf.

„Ja ja ... Schönen Abend noch", versuchte Stella genervt das Gespräch endgültig zu beenden.

Und tatsächlich entfernten sich die schweren Schritte und schienen in den Fahrstuhl einzusteigen. Dabei hörte Nat noch, wie der Mann einen Funkspruch durchgab, dass er den Keller vollständig durchsucht hat.

Die Aufzugtüren schlossen sich und Stella murmelte: „Dass das immer wieder klappt ..."

Sie setzten ihren Weg fort und Stella schob sie in einen Raum, indem es spürbar kälter war, als noch im Gang. Nat blinzelte, als die Ärztin das Laken von ihr runterzog. Sie setzte sich vorsichtig auf und sah sich um.

An der Decke des Raumes hing eine OP-Lampe. Die ersten drei Wände, die Nat erspähte, waren blau gekachelt. An ihnen standen Schränke mit medizinischer Ausrüstung. Ihr Blick blieb an der vierten Wand hängen, an der sich neben einer zweiten Tür eine Reihe von Edelstallklappen befand.

„Ah richtig, ich bin in eine Schiffsschraube geraten", folgerte Nat und unterdrückte das leichte frösteln, das dieser Ort bei ihr verursachte. „Gab es diesen Typ wirklich?"

„Ja, leider. Er wurde aber schon vor einer halben Stunde weggebracht", seufzte Stella.

„Und was machen wir jetzt?"

Stella zeigte auf eine Trage, auf der ein Leichensack bereit lag. „Du musst da rein."

„Bei anderen Leuten würde ich das vielleicht als Drohung auffassen", bemerkte Nat.

„Ich weiß, wie das aussehen mag. Aber es ist mehr eine Bitte. Auf die Weise kann ich dich ungesehen hier rausbringen. Ich sorge dafür, dass du da drin auch genug Luft bekommst, und ich lasse dich raus, sobald es sicher ist", versprach Stella.

„Ich frage mich immer noch, was du vorhast ..."

„Es ist wichtig, dass wir rechtzeitig hier wegkommen, wenn du aus der Stadt raus willst", stellte die Ärztin etwas fester klar.

„Also gut, ich mach's", gab Nat nach und kletterte in das unheimliche Ding hinein.

Stella zog den Reißverschluss zu und ließ wie versprochen einen ausreichenden Spalt offen, sodass Nat ohne Probleme weiter atmen konnte. Sie spürte, wie die Ärztin sie auf der Trage festschnallte und das Gefährt in Bewegung setzte.

Sie passierten mehrere Türen, bis schließlich die Luft zunächst kühler und frischer wurde. Dann hörte Nat, wie eine große Autotür geöffnet wurde. Mit einem leichten Ruck wurde sie weitergeschoben, bevor die Tür wieder geschlossen wurde.

Jemand stieg vorne in das Auto ein und startete den Motor, um behutsam loszufahren.

Nat schätze, dass sie ein paar Minuten unterwegs waren, bevor der Wagen langsam zum stehen kam.

Der Leichensack wurde losgeschnallt und schließlich geöffnet. Nat blinzelte, als die kleine Lampe an der Decke des Autos in ihre Augen schien. Stellas Gesicht schob sich in ihr Blickfeld und dämpfte dadurch das grelle Licht. Jetzt konnte sie sich besser umsehen. Sie hatte während der Fahrt geglaubt, sich in einem typischen Leichenwagen zu befinden. Doch hierbei handelte es sich um einem zum Leichentransport ausgebauten Lieferwagen und Stella konnte aufrecht stehen.

So ein Wagen ist von außen unauffälliger. War das gut mitgedacht oder ein Zufall?, dachte Nat.

„Geht es dir gut?", erkundigte sich die Ärztin.

„Ja, besser als den meisten, die so transportiert werden, schätze ich", antwortete sie und richtete sich vorsichtig auf, wobei Stella ihr half. „Sind wir jetzt am Ziel?", wollte Nat wissen.

„Noch nicht ganz. Aber du solltest dort nicht im Patientenhemd auftauchen. Deswegen habe ich kurz angehalten, damit du dich umziehen kannst."

Sie nahm vom Beifahrersitz ein Bündel Kleidung und reichte es Nat. Danach drehte sie ihr den Rücken zu und gönnte ihr damit ein bisschen Privatsphäre.

Die ehemalige Agentin streifte das Patientenhemd ab und schlüpfte in ihr neues Outfit. Es war ein wenig weiter geschnitten, als die Sachen, die sie normalerweise gern trug, aber sie passten. Die bequeme Jeans, das helle Shirt und die dunkle Sweatjacke gehörten eher zu Stellas Freizeitlook. Nat schloss daraus, dass Stella sie in der Eile einfach aus ihrem eigenen Kleiderschrank genommen hat.

Sie hat auch eine ähnliche Größe wie ich, schätzte Nat. Obwohl sie im Moment ein wenig dünner als sonst zu sein scheint.

„Ich bin umgezogen. Und wie geht es jetzt weiter?", wollte Nat wissen.

„Wir fahren noch ein Stück. Es ist nicht mehr weit. Du darfst auf den Beifahrersitz, wenn du magst", erklärte Stella kurz und kletterte auf den Fahrersitz.

„So langsam bin ich echt neugierig, was du vorhast ..."

„Und ich bin gespannt, ob du meine Idee gut finden wirst. Wir werden es in ein paar Minuten erfahren."

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