32. Der anonyme Patient

Nachdem Stella den Brief, der die offizielle Aufmachung der Air Force hatte, mehrfach gelesen hatte, wurde ihr langsam klar, dass der Inhalt wahr sein musste und dass es in ihm tatsächlich um sie ging.

In dem Schreiben wurde ihr der Befehl übermittelt, sich bereits am Montagmorgen in drei Wochen auf der Peterson Air Force Base in der Nähe von Colorado Springs zum Dienst zu melden.

Diese Versetzung bedeutete nicht nur, dass sie ihre Kollegen nicht mehr sehen würde. Dadurch dass der neue Posten am anderen Ende des Kontinents war, musste sie mit dem Umzug dahin auch Antony aus seinem Umfeld herausreißen.

Das war etwas, was sie ihrem Sohn nicht antun wollte, besonders im Moment nicht, nachdem Michael gerade erst die Scheidung gefordert und dabei seine Vaterschaft in Frage gestellt hatte.

Sie steckte den Brief zurück in den Umschlag und brachte ihn in ihr Arbeitszimmer auf den Stapel mit den anderen Papieren, um die sie sich noch kümmern musste. Sie wollte sich so bald wie möglich Zeit nehmen und abklären, ob es sich doch um einen Irrtum handelte oder ob der Befehl widerrufen werden könnte.

Sie hatte sich heute eigentlich den Nachmittag freigenommen, weil sie einen Videocall eingeplant hatte. Den Termin hatte sie schon festgelegt, als sie noch geglaubt hatte, ihr Leben jetzt wieder im Griff zu haben und es friedlich mit ihrer Familie fortsetzen zu können. Sie wollte ihn nicht absagen, doch musste gleichzeitig darum kämpfen, sich für den Moment auf diese Sache zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihre eigene Zukunft.

Eines nach dem anderen. Es wird sich irgendwie alles klären. Und ich sollte noch einen Handwerker anrufen, damit der das Schloss austauscht. Michael soll hier nicht mehr ungefragt hereinspazieren können, fand sie einen weiteren Punkt für ihre To-do-Liste. Doch jetzt geht es erst einmal um den Mann mit der Armprothese.

Relativ bald nachdem Stella sich von ihrem Sturz erholt hatte, hatte ihr Vater sie zu einem neuen Nebenprojekt ermutigt. Die Idee dazu hatten sie eigentlich schon vor dem Unfall grob umrissen, doch erst danach konnte sie sich dem Team, dass sich um die Umsetzung kümmerte, anschließen. Sie und ihr Vater hatten darüber nachgedacht, welche Energiequelle für die vom Hammond-Konzern entwickelten Prothesen zukünftig verwendet werden könnte. Ein Versuch, mit Tony einen Deal zu machen und kleine Ark-Reaktoren dafür zu verwenden, war bisher ins Leere gelaufen. Stellas Vater wollte aber ungern länger herkömmliche Akkus verbauen, weil diese regelmäßig geladen und viel zu oft ersetzt werden mussten. Sie hatte daher die Überlegung in den Raum gestellt, ob man nicht körpereigene Prozesse nachbilden könnte, um Energie zu gewinnen.

Aus dieser zunächst simpel formulierten Idee hatten ein Experten-Team und sie eine Schnittstelle entwickeln können, die in den Stumpf des ursprünglichen Körperteils implantiert werden sollte. Abgesehen von der Energie konnte diese zudem noch neurologische Signale an die Prothese übermitteln, um diese präzise steuern zu können.

Stellas Vater war verrückt genug gewesen, um sich als Testobjekt zur Verfügung zu stellen und die Schnittstelle in seinen eigenen Beinstumpf einsetzen zu lassen. Damit und mit der dazu passenden Prothese, war er zu ihrer Überraschung von Anfang an sehr gut zurechtgekommen und auch bisher hatten sich keine Probleme gezeigt.

Sie verbuchte das aber nicht als eigenen Erfolg, sondern glaubte, dass die Erfahrung ihres Vaters und das Können des Teams hauptsächlich zum Gelingen beigetragen hatten.

Umso überraschter war sie gewesen, als er ihr schließlich eine Anfrage aus Wakanda vermittelt hatte.

Die junge Frau hatte die Veröffentlichungen zu der Neuentwicklung gelesen und wollte einen ihrer eigenen Patienten damit versorgen. Wer dieser Mann war, hatte sie Stella nicht verraten, sondern ihr nur die nötigsten Daten zugesendet.

Jetzt, als sie sich hinsetzte und sich innerlich auf den nächsten Termin mit der Frau namens Shuri vorbereitete, kamen ihr wieder die Bilder von der Schulter des fremden Mannes in den Sinn.

Er musste seinen linken Arm bei einem schweren Unfall verloren haben. Unbekannte Ärzte hatten dann sein Schultergelenk abgetrennt und stattdessen einen aus Titan gefertigten Arm angebracht.

Angeflanscht, war das Wort, das Stella dazu auch jetzt wieder als Erstes in den Sinn kam. Man hatte dabei nicht viel Rücksicht auf die umliegenden Knochen und das natürliche Gewebe genommen. Den Fremden war es wohl nur darum gegangen, den Mann erneut in den Kampf schicken zu können. Zum Glück schien Shuri offen für meine Vorschläge zu sein, wie die Schulter wieder sinnvoll aufgebaut werden kann, überlegte sie weiter, während sie ihren Computer einschaltete. So kratzt er sich vielleicht nicht weiterhin die Haut drum herum so sehr auf und auch andere Folgeschäden können verhindert werden.

Shuri hatte sich bisher nie mit langen Begrüßungen aufgehalten und so fiel diese auch heute eher kurz aus. Ihr breites Lächeln kündigte aber gute Neuigkeiten an.

„Ich konnte die Schnittstelle ohne Probleme bei ihm implantieren. Alles ist bereits gut verheilt", verkündete sie. Stellas Mundwinkel zogen sich bei dieser Nachricht nach oben.

„Kommt er auch mit dem Arm gut zurecht?"

Shuri hatte vorgehabt bei dem Arm deutlich von den Spezifikationen, die die Hammonds in ihrer Veröffentlichung beschrieben hatten, abzuweichen. Das offensichtlichste Merkmal war dabei, dass das Material das seltene, aber äußerst robuste, Metall Vibranium sein sollte. In den Original-Plänen bestanden die Prothesen aus einem Titan-Skelett und einer Silikon-Haut.

„Er konnte ihn beim Test wie einen natürlichen Arm bewegen. Aber im Moment bewahre ich ihn trotzdem in meinem Labor auf. Es ist, wie Sie bereits vermutet haben – wir müssen uns jetzt um sein geistiges Wohl kümmern."

Auch wenn sie sein Gesicht und seinen Namen nicht kannte, hatte Stella anhand der wenigen Bilder, die sie in einem der ersten Gespräche gesehen hatte, die Vermutung geäußert, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Mann handelte. Sie befürchtete, dass er deutlich mehr Verletzungen davon getragen hatte, als diejenigen, die man ihm von außen ansah.

„Wie schlägt er sich, was das angeht?", wollte Stella jetzt wissen.

„Er macht erste Fortschritte. Ich habe Ihre Idee aufgegriffen und ihn auf einer kleinen Farm untergebracht. Er hütet dort Ziegen. Damit hat er eine sinnvolle Aufgabe."

„Und ist einer ruhigen Umgebung und kann das ordnen, was immer gerade in ihm vorgeht."

„Ja richtig. Und dafür bekommt er von uns so viel Zeit, wie er braucht", versprach Shuri. „Ich möchte Ihnen für Ihre Unterstützung danken. Und meine Familie lädt Sie dazu ein, uns hier in Wakanda zu besuchen. Es wäre auch eine gute Gelegenheit, unseren gemeinsamen Patienten persönlich kennen zu lernen."

Dieses Angebot ließ Stellas Herz einen Moment lang höher schlagen. Zum einen weil Wakanda ein geheimnisvolles fernes Land war, das sich lange Zeit komplett von der Außenwelt abgeschottet hatte. Einen Fuß auf diesen Boden setzen zu dürfen war eine große Ehre. Zum anderen war Stella sehr gespannt, wer der fremde Mann sein könnte. Außer dass er weiß war und seinen linken Arm verloren hatte, wusste sie nichts über ihn. Es war ungewohnt für sie ihren Patienten so fern zu sein.

Die Vernunft musste jedoch über ihre Neugier siegen. Sie sah einen Augenblick vom Bildschirm weg und schluckte den Kloß herunter, der im Moment ihr ständiger Begleiter war.

„Das ist ein großzügiges Angebot und ich fühle mich sehr geehrt", begann sie vorsichtig. „Ich würde es liebend gerne wahrnehmen, aber im Moment gibt es hier recht viel, um das ich mich kümmern muss."

„Es verfällt auch nicht sofort. Sie können darauf zurückkommen, wenn es bei Ihnen wieder besser passt", sicherte Shuri ihr zu.

„Danke", fand Stella zu ihrem vorherigen Lächeln zurück.

Nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, atmete Stella kurz durch und überlegte, was sie als Nächstes noch erledigen wollte, bevor Antony nach Hause kam.

Sie beschloss, bei ihren Vorgesetzten anzurufen und sich nach ihrer Versetzung zu erkundigen. Die Antwort, die sie auf dem Weg erhielt, war niederschmetternd. Bis jetzt hatte sie noch gehofft, dass es ein Irrtum war. Doch man bestätigte ihr, dass es sich um keinen Fehler handelte und dass sie Folge leisten musste.

Man konnte oder wollte ihr jedoch nicht beantworten, was zu diesem plötzlichen Beschluss geführt hatte.

Mit aller Kraft schluckte sie ihren Frust herunter. Es gibt noch genug zu tun. Ich muss später entscheiden, was ich daraus jetzt mache.

Sie atmete tief ein, stand von ihrem Stuhl auf und kümmerte sich um den Haushalt, bis ihr Sohn nach Hause kam.

Später aßen sie gemeinsam zu Abend, aber im Gegensatz zu sonst, kam kaum eine Unterhaltung zu Stande. Sie sah ihrem Sohn an, dass er Fragen hatte, die er sich nicht traute zu stellen und von denen sie hoffte, sie nicht beantworten zu müssen. Zu all der Last wollte sie nicht noch die Nachricht von der Versetzung hinzufügen, also verschwieg sie es.

Aber ich werde es ihm bald sagen müssen. Er soll die Gelegenheit haben, sich von seinen Freunden richtig zu verabschieden, dachte sie.

„Darf ich übermorgen mit Grandpa ins Kino?"

Dad hat die Karten schon längst reserviert und Antony hat sich sehr auf den Film gefreut, fiel Stella wieder ein. Wie konnte ich das vergessen?

„Ja klar", antwortete sie. „Holt er dich ab?"

„Ja, ich wollte gleich nach der Schule zu ihm. Ich möchte ihm mein Referat zeigen. Am Montag bin ich ja mit dem Vortrag dran und ich will es einfach noch einmal geübt haben."

„Zeigst du es mir auch?"

„Gleich jetzt?"

„Wenn du magst, gerne."

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