30. Die Wahrheit

Es war jetzt der dritte Tag, an dem sich Stella um ihre besondere Patientin kümmerte. Sie hoffte immer noch sehr, dass niemand anderes Natasha erkannt hatte. Doch bisher machten alle den Anschein, nichts zu ahnen, und nannten die ehemalige S.H.I.E.L.D Agentin bei ihrem Decknamen.

Stellas Schicht neigte sich an diesem Tag bereits dem Ende. Antony war auf einem Schulausflug gewesen und die Mutter eines Klassenkameraden hatte ihn wie besprochen an der Klinik abgesetzt. Er war jetzt mit seiner Handheld-Konsole im Schwesternzimmer und wartete darauf, dass seine Mutter noch die letzten Handgriffe des Tages erledigte.

Mit Michael hatte Stella heute noch nicht ausgemacht, wann er heimkommt. Sie hatte versucht, es zu erfahren. So bedeckt, wie er sich gehalten hatte, vermutete sie, dass es länger gehen könnte.

Schon vor ein paar Minuten hatte sich Stella mit Estelle und den Schwestern der Station getroffen, um durchzusprechen, welche Patienten heute hier waren. Die beiden Ärztinnen verließen gleichzeitig den Raum, um jede für sich noch einmal nach ihren Schützlingen zu sehen.

Auf dem Weg in Natashas Zimmer hörte Stella Michaels Stimme: „Hey, ich dachte, du wärst hier schon fertig." Er lehnte lässig an dem Empfangstresen, der dem Schwesternzimmer vorgelagert war.

Stella lächelte ihn an. „Oh hi! Ich brauche nur noch ein paar Minuten, dann bin ich da. Willst du mit mir mitfahren?"

Michael richtete sich auf. „Ich will jetzt mit dir sprechen."

Sie hielt inne, sah seinen ernsten Blick und machte dann ein paar Schritte auf ihn zu. „Was ist denn los?"

„Du und deine Verrücktheiten habt mich lange genug ausgebremst. Damit ist jetzt Schluss."

Stella stellte sich direkt vor ihn und sah ihn aus großen Augen an.

Er hat ja schon öfter angedeutet, dass ich meine Macken habe. Aber worauf will er jetzt hinaus?

„Was meinst du damit?", hinterfragte sie.

„Ich will die Scheidung", antwortete er knapp.

Die Worte waren für sie wie ein Schlag in die Magengrube und sie brauchte einen Moment, um ihren Sinn zu erfassen.

Ich muss mich verhört haben.

„Hast du mich verstanden?", hakte er nach. Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er einen Stapel Papiere hervor und drückte sie ihr in die Hand. „Unterschreibe das."

„Das muss ein schlechter Scherz sein", hauchte sie so leise, dass es fast von dem Pochen in ihrem Ohr übertönt wurde.

„Nein, da steht es schwarz auf weiß."

Sie blätterte die Seiten durch, konnte aber nur wenige Schlagworte erfassen. Das reichte jedoch aus, um das Dokument als das zu identifizieren, was es war – ein Scheidungsantrag.

„Ich verstehe nicht, was das soll", versuchte sie noch einmal Antworten zu bekommen.

Er rollte mit den Augen. „Das habe ich dir eben schon gesagt. Die Jahre mit dir haben sich schlecht auf meine Karriere ausgewirkt. Es war ein Fehler dich überhaupt zu heiraten. Du warst hübsch, aber mehr hast du mir wirklich nicht gebracht."

Was er gesagt hatte, drang nur langsam zu ihr durch, so als wäre sie unter Wasser.

„Das kann nicht dein Ernst sein."

Im Augenwinkel sah sie, dass Estelle an der gegenüberliegenden Seite des U-förmigen Tresens stehen geblieben war.

„Das ist mein voller Ernst. Ich habe schon lange nicht mehr so klar gesehen wie heute. Unterschreib das. Ich werde die nächsten Tage bei Dad übernachten, bis wir geklärt haben, wer die Wohnung behält."

„Du weißt, dass du damit nicht nur mich zurücklässt, sondern auch deinen Sohn", erinnerte sie ihn daran, welche Verantwortung er ihr gelobt hatte zu übernehmen, als er um ihre Hand angehalten hatte.

In dem Moment kam Antony aus dem Schwesternzimmer, stellte sich neben Stella und sagte: „Hi Dad!", bevor ihm der Blick seiner Mutter auffiel. Besorgt sah er seine Eltern an und fragte: „Was ist denn los?"

An Stella gerichtet sagte Michael. „Ich habe mir gedacht, dass du so etwas sagen würdest." Er drehte sich zu Antony und setzte ein hämisches Grinsen auf. „Du bist nicht mein Sohn."

Stella schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr. Warum sagst du so etwas?"

„Weil es wahr ist", antwortete er schlicht.

„Du hast es damals extra testen lassen, um mir zu zeigen, dass du sein Vater bist", bohrte sie nach.

„Das ist wahr, aber ich habe dir ein gefälschtes Ergebnis vorgelegt." Er blickte direkt in die weit aufgerissenen Augen des Kindes: „Du bist die Brut irgendeines Mistkerls."

Antony blieb ein paar Sekunden wie angewurzelt stehen, schluckte dann und rannte hinter den Tresen durch, an Estelle vorbei und um die Ecke.

„Wie kommst du darauf so etwas zu behaupten? Was ist in dich gefahren?", fuhr Stella ihren Noch-Ehemann an.

Er zog ein weiteres Stück Papier hervor und streckte es ihr mit einem Schulterzucken hin. „Das ist der Beweis. Du warst auf die Weise einfacher rumzukriegen."

Jetzt spürte Stella, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handballen bohrten und sicher noch für einige Zeit ihre Spuren hinterließen. Jede Faser ihres Körper war angespannt und sie glaubte fast, keine Luft mehr zu bekommen.

Mit ihrer rechten Faust hob sie die Scheidungspapiere hoch. „Ich werde das hier ganz sicher nicht hier und jetzt unterschreiben", presste sie hervor. „Und ich will dich hier nie wieder sehen. Du darfst diese Station erst wieder betreten, wenn du auf einer Trage hineingebracht wirst."

Er lachte und bäumte sich vor ihr auf. Dabei achtete er darauf, dass sie seine Rangabzeichen im Blick hatte. Erst vor kurzem hatte er seine zwei silbernen Streifen eines Captains in das goldene Blatt eines Majors eintauschen können. „Du willst mir Befehle geben?"

„Ja", antwortete sie so fest, wie es ihr gerade möglich war.

„Du vergisst, dass ich ranghöher bin."

„Du vergisst, dass der Klinikbetrieb in den Zuständigkeitsbereich des Medical Corps fällt, in dem ich im Gegensatz zu dir diene. Hier habe ich dir gegenüber Weisungsbefugnis. Wenn du mir das nicht glauben willst, kann dir der Wachdienst vielleicht die entsprechenden Paragraphen zitieren."

Im Augenwinkel sah Stella, dass Estelle sich das nächste Telefon geschnappt hatte. Sie hatte den Hörer abgehoben und ihr Finger schwebte über der Kurzwahltaste des Wachdienstes.

„Ich kann die Jungs sofort herrufen", verkündete sie.

Stella bedeutete ihr, abzuwarten und beobachtete, wie Michael mit dem Unterkiefer hin und her mahlte, bevor er sich endlich in Richtung Aufzug begab. „Unterschreibe die Papiere. Ich komme morgen vorbei, um sie abzuholen", sagte er noch bevor er in der Kabine verschwand.

Sie holte tief Luft, während Estelle den Hörer wieder auflegte und sie abwartend ansah. Verunsichert blickte Stella in Richtung Natashas Zimmer. Durch die offene Tür konnte sie sehen, dass die Spionin auf ihrem Bett saß und das Geschehen beobachtet haben musste.

Sie hatte eigentlich noch einmal nach Natasha sehen wollen, doch viel dringender war es nun für sie, herauszufinden, wo Antony hingelaufen ist.

„Ich kümmere mich um deine Patientin", durchbrach Estelle endlich die seltsame Stille. „Antony ist dahinten lang gelaufen", fuhr sie fort und zeigte in die entsprechende Richtung.

„Danke", flüsterte Stella und lief den Flur hinunter.

Sie spähte in jedes offene Zimmer, in dem sich der Junge allein aufhalten könnte. Am Ende des Ganges blieben nur noch ein Vorratsraum und ein Treppenhaus.

In der Kammer kann er nicht sein, die ist abgeschlossen, dachte sie und bog ins Treppenhaus ab.

Dort saß Antony auf dem Treppenabsatz, der nach oben führte. Er hatte seine Beine dicht an sich angewinkelt und seine Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Tränen glitzerten in seinen Augen und Stella spürte einen Stich in ihrem Herzen, als sie ihren Sohn so sah.

Sie konnte selbst noch nicht einordnen, was passiert war. Fest stand, dass Michael mit seinen Worten ihrem Kind weh getan hatte. Bei dem Gedanken kochte Wut in ihr hoch, die sie mit aller Kraft beiseiteschob.

Michael wird sich dafür noch rechtfertigen müssen, dachte sie und versuchte dabei, auch ihre eigenen Tränen zu unterdrücken.

Sie schluckte und fragte sanft: „Darf ich mich zu dir setzen?"

Antony nickte kaum sichtbar. Sie ließ sich neben ihm auf der kalten Stufe nieder und überlegte, wie sie jetzt alles erklären sollte.

„Ist es wahr, was er gesagt hat? Ist er wirklich nicht mein Vater?"

Sie holte tief Luft und sah ihrem Kind in die Augen. Sie schämte sich dafür, dass sie keine bessere Antwort auf diese Frage wusste. Gleichzeitig wollte sie ehrlich zu ihm sein, um sein Vertrauen nicht zu verlieren.

Dass Michael ihm das einfach so an den Kopf geworfen hat, ist schlimm genug.

„Ich weiß es nicht. Wir werden das herausfinden", sagte sie und hoffte, dass Antony nicht weiter nachhaken würde. Für tiefer gehende Fragen wusste Stella keine Antwort, die sie ihrem Kind zumuten wollte.

Eine Träne kullerte seine Wange hinunter und Stella folgte dem Drang, ihn vorsichtig in eine Umarmung zu ziehen ohne den Blick von ihm abzuwenden.

„Aber egal, wie die Antwort lautet. Ich werde immer deine Mutter sein. Und egal, was passiert - ich werde dich immer lieb haben."

Ihr Sohn schlang seine Arme um ihren Oberkörper und drückte sich fest an sie. Sie versuchte ihm, so viel Halt zu geben, wie sie konnte. Trotz mehrfachen Schluckens drängten ihre Tränen nach draußen und sie hielt ihr Kind ein wenig fester.

„Egal, was passiert, wir werden das durchstehen", sagte sie leise, nachdem ihre Stimme ihr endlich wieder gehorchen wollte.

Nach einigen Minuten löste Antony sich aus ihrer Umarmung, wischte seine letzten Tränen mit seinem Ärmel fort und fragte: „Aber was machen wir jetzt?"

„Wir werden jetzt, wenn wir so weit sind, unsere Sachen holen und dann nach Hause fahren."

„Und dann?"

„Ich werde mir durchlesen müssen, was er mir mit gegeben hat. Aber heute sollten wir gar nichts mehr entscheiden, okay? Wir werden was Gutes zu Abend essen und später versuchen, trotz allem zu schlafen. Und morgen werden wir dann in Ruhe überlegen, wie es weitergeht."

Er nickte still und folgte ihr, als sie aufstand und in den Flur zurückging.

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