28. Die Verletzte
Seit Stellas Begegnung mit Tony waren ein paar Monate vergangen. Die CIA hatte sich inzwischen aus ihrem Umfeld zurückgezogen, da sich niemand Relevantes in ihrer Nähe gezeigt hatte.
In dieser Nacht hatte Stella Dienst in der Notaufnahme. Sie selbst hatte bisher nur ein paar einfachere Fälle versorgt. Einer ihrer Patienten war ein Hobbykoch, der mit einer tiefen Schnittwunde kam. Nachdem sie die Wunde mit wenigen Stichen genäht hatte, konnte der Mann bereits entlassen werden.
Sie hatte ihn gerade raus geschickt und ging ebenfalls in den Gang, um Rachel zu signalisieren, dass sie bereit für den nächsten Patienten war. In dem Moment kam ihr die Schwester bereits entgegen.
„Wir brauchen dich im OP", sagte diese bestimmt.
Stella hörte aufmerksam hin. Ihr Magen zog sich ein wenig zusammen. Sie befürchtete, dass es sich hierbei vielleicht nicht nur um einen Schnitt im Finger handeln könnte.
„Der Rettungswagen ist gerade hier angekommen und hat eine Frau, Mitte dreißig, gebracht. Sie wurde bei einer Explosion im Starlight-Motel schwer verletzt. Schrapnelle stecken in ihrer Bauchhöhle und in ihrem Oberschenkel", erklärte Rachel weiter.
Stella hatte jetzt den Eindruck, dass ihr ganzes Blut in ihre Beine gesackt war. Ich bin nicht mehr gut genug, um ihr zu helfen. Wenn ich das versuche, schade ich ihr nur.
„Was ist mit Dr. Erickson?", versuchte Stella einen Gegenvorschlag zu machen.
„Der ist noch im OP mit dem Motorradunfall. Mir ist schon klar, dass du seit deinem Unfall solche OPs nicht mehr durchgeführt hast. Aber du kannst das trotzdem und die Frau hat keine Zeit zu warten. Es gibt gerade keinen anderen Arzt, der helfen kann", seufzte Rachel.
Es fühlte sich falsch an, doch Stella schluckte und nickte dann.
„Wir haben sie direkt in den OP gebracht und sie wird gerade vorbereitet."
„In Ordnung. Ich bin auf dem Weg."
Nachdem sich Stella eilig gewaschen und die OP-Kleidung übergezogen hatte, ging sie in den Saal, indem wie versprochen bereits alles an seinem Platz war. Das Gesicht der Frau war hinter einem grünen Laken verborgen. Der Anästhesist hatte die Patientin aufmerksam im Blick und nickte Stella zur Begrüßung kurz zu.
Auf einem großen Monitor wurden bereits Röntgenaufnahmen der verletzten Stellen angezeigt und Stella verschaffte sich damit einen Überblick. Der Anästhesist nannte ihr die aktuellen Vitalwerte der Patientin.
Sie trat an den OP-Tisch heran und stieß sämtliche Luft aus, um anschließend einen tiefen Atemzug zu nehmen.
Sie widmete sich erst der Wunde im Oberschenkel. Hierüber hatte die Patientin bereits viel Blut verloren, da das Schrapnell die Arterie verletzt hatte.
Die OP-Schwester reichte ihr eine Pinzette, mit der sie vorsichtig das scharfe Metallstück herauszog. Sie suchte das umliegende Gewebe ab, um sicher zugehen, dass sich keine kleineren Splitter mehr in der Wunde befanden. Zwei Stückchen fand sie tatsächlich noch und ließ diese zu dem Schrapnell in die Schale wandern, die die OP-Schwester ihr hinhielt. Anschließend vernähte sie die Arterie und schließlich die äußere Wunde.
Der erste Teil war geglückt und Stella holte noch einmal tief Luft, bevor sie sich die Verletzung am Bauch ansah.
Die Patientin hatte Glück gehabt, denn das Metallstück hatte keines ihrer Organe getroffen. Doch es lag so ungünstig, dass Stella befürchtete, beim Herausziehen doch noch weitere Verletzungen zu verursachen.
Ein weiteres Blutgefäß zu verletzen war gefährlich, weil die Patientin bereits sehr viel Blut verloren hatte. Einen Nervenstrang zu verletzen könnte die Patientin für den Rest ihres Lebens schädigen. Das Schrapnell an Ort und Stelle zu belassen war hingegen auch keine Option, denn es könnte die Verletzungen auch bei jeder natürlichen Bewegung verursachen.
Stella schluckte und atmete tief durch. Sie glaubte, dass ihre rechte Hand gleich verkrampfen könnte, also legte sie die Pinzette auf dem Tablett neben sich ab. Sie öffnete und schloss ihre Hand mehrfach, in der Hoffnung, dass das krampfartige Gefühl weggehen würde und dass sie nicht zu stark anfangen würde, zu zittern.
„Soll ich eine Stehhilfe holen?", bot die Schwester an.
„Nein, es geht schon", versuchte Stella auch sich selbst zu überzeugen. Sie blickte zu dem Anästhesisten herüber und er nannte ihr erneut die Vitalwerte, ohne dass sie ihre Frage laut stellen musste.
Sie atmete noch einmal durch und nahm die Pinzette wieder in die Hand. Damit zog sie behutsam an dem Schrapnell. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis es endlich vollständig draußen war. Mit einem leisen Seufzer ließ sie schließlich auch dieses Stück in die Schale fallen.
Sofort untersuchte sie die Stelle nach weiteren Verletzungen, doch augenscheinlich war alles gut gegangen. Sie reinigte die Wunde und verschloss sie.
„Hat die Frau bei der Explosion weitere Verletzungen erlitten?", fragte Stella, nachdem die zweite Stelle versorgt war.
„Ein paar oberflächliche Hautabschürfungen und Verbrennungen. Sie hat wohl großes Glück gehabt."
Stella nickte. „Ja, das hat sie." Sie machte sich daran, gemeinsam mit der Schwester noch die anderen Wunden zu versorgen, bevor die Patientin in den Aufwachraum gebracht wurde.
Nachdem Stella die OP-Kleidung abgelegt hatte, ließ sie sich auf die kleine Sitzbank im Umkleideraum sinken.
Sie hob ihre Hände und beobachtete, wie sie zitterten. Einerseits verspürte sie gerade einen großen Bewegungsdrang, andererseits wollte sie gar nicht aufstehen.
Die Patientin wurde eben tatsächlich lebend aus dem OP gebracht, dachte sie.
Sie schlang die Arme um ihren Körper und unterdrückte eine Träne, die gerade ausbrechen wollte.
Rachel klopfte am Türrahmen und lehnte sich dann daran an. „Ich habe gehört, dass es der Patientin so weit gut geht. Also kannst du es doch noch", zwinkerte sie.
Stella wollte gerade den Mund aufmachen und protestieren.
„Da dulde ich jetzt keine Widerrede. Ich weiß, dass du schon Schlimmeres behandelt hast. Und du hast es geschafft, dass dich dieser verdammte Unfall nicht mehr ausbremst."
„Für den Moment sieht das wohl so aus", seufzte Stella. „Lass uns abwarten, wie es ihr Morgen geht, bevor wir in Jubel verfallen, okay?"
„Also gut. Magst du jetzt einen Kaffee?"
„Nein. Ich gehe mal in den Aufwachraum und sehe nach ihr."
Im Aufwachraum blieb Stella einen Moment regungslos neben der Patientin stehen und betrachtete ausgiebig ihr Gesicht. Die blonden Haare waren neu, doch die erstaunlich sanft wirkenden Züge kamen ihr sehr vertraut vor.
Ist sie das wirklich?, ging es ihr durch den Kopf.
Sie nahm die Patientenakte in die Hand. Dort hatte man den Namen „Darja Petrowa" notiert und vermerkt, dass man ihn dem Führerschein, den die Frau dabei hatte, entnommen hatte. Die Frau war allein in dem Motelzimmer gewesen und es gab keine Adresse, über die etwaige Verwandte hätten kontaktiert werden können.
Darjas Augenlider flatterten kurz. Sie drehte den Kopf ein wenig umher und murmelte etwas auf Russisch.
Jetzt, wo Stella auch die Stimme der Frau gehört hatte, war sie sich sicher, dass ihr Führerschein eine Fälschung sein musste.
Das ist Natasha! Aber was macht sie hier? Hat jemand anderes sie schon erkannt?
Schließlich schlug Natasha ihre Augen halb auf und fragte auf Englisch „Wo bin ich hier?"
Stella berührte sie vorsichtig an der Schulter und sah sie aufmunternd an. „Es ist alles gut, Darja. Sie wurden bei einer Explosion in Ihrem Motel verletzt und Sie werden ein paar Tage brauchen, um sich davon zu erholen. Aber wir werden gut auf Sie Acht geben."
In ihrem derzeitigen Zustand brauchte Natasha einige Sekunden, um sich mit dem neuen Namen angesprochen zu fühlen und das Gesagte einzuordnen. „Fühlt sich an, als hätte ich gerade keine andere Wahl, als einfach liegen zu bleiben", sagte sie resigniert.
„Ja, das ist fürs Erste das beste. Ruhe dich aus, ich sehe später noch einmal nach dir", versprach Stella.
Auf dem Weg aus dem Raum blieb sie kurz bei der Schwester stehen, die die Patienten überwachte. „Wir sollten sie noch eine Stunde hier unten behalten. Danach können wir sie hoch auf die Station bringen. Zimmer 420 sollte frei sein."
Das Zimmer war eines derjenigen, die durch eine Wand vom Rest der Station abgetrennt waren. Einblick gewährten nur die Tür, die meistens offen stand und die großen Fenster, die jedoch durch Jalousien verdeckt werden konnten. Die meisten Patienten, bei denen die Versicherungslage noch nicht geklärt war, wurden normalerweise im großen Saal am Anfang der Station untergebracht. Stella hatte jedoch gewusst, dass hier fast kein Bett mehr frei war.
Das einzige andere Hindernis war, dass der Flur vor dem Zimmer im Augenblick als Sparmaßnahme nicht mehr direkt beleuchtet war. Die Klinikleitung hatte angewiesen, das Licht auszulassen, so lange die Betten in dem Teil nicht belegt waren.
Das Zimmer selbst war aber voll funktional ausgestattet und Stella glaubte, dass es wichtig war, dass nicht jeder, der durch die Station lief, Natasha gleich sah.
Als Stella später in den kleinen Raum kam, schlief Natasha fest. Sie überprüfte ihre Werte und war erleichtert, dass diese weiterhin stabil waren. Sie nahm sich vor, vor dem Ende ihrer Schicht noch einmal nach Natasha zu sehen und ging leise hinaus in den Flur.
Im Augenwinkel glaubte sie, eine Bewegung gesehen zu haben und drehte ihr Gesicht zum dunklen Teil des Ganges. Ein Schatten huschte durch das schwache Licht des Notausgangsschilds.
Stella spürte, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen und für einen Augenblick dachte sie daran, einfach den Wachdienst zu rufen.
Vielleicht bin ich einfach nur müde oder es war das Licht, das durch die Fenster fällt, versuchte sie sich das Phänomen zu erklären. Sie folgte dem Impuls weiter in den Gang hinein zu gehen und nachzusehen, was den Schatten geworfen haben könnte.
Sie war fast am hintersten Ende angekommen, als jemand aus der Tür neben ihr stürzte und sie zu Fall bringen wollte. Sie konnte sich am Türrahmen abstützen und somit einen Sturz verhindern. Der Angreifer packte sie jedoch von hinten und nahm sie in den Schwitzkasten.
In dieser Haltung versuchte er sie in den hintersten Raum zu zerren. Auf halber Strecke dahin konnte Stella nach einem Putzwagen greifen und zog einen Wischmopp heraus.
Mit dem Stiel versuchte sie zunächst das Knie des Fremden zu treffen. Der wich dem ersten Versuch aus, doch hatte seine Beine so weit nach rechts verlagert, dass Stella jetzt von dieser Seite treffen konnte. Er lockerte seinen Griff und Stella konnte sich zu ihm umdrehen.
In der Dunkelheit war sein Gesicht nicht erkennbar. Doch in dem schwachen Licht sah Stella Metall aufblitzen. Sie konnte nicht sehen, ob es ein Messer oder eine Schusswaffe war. Doch sie war sich sicher, dass er sie nicht gehen lassen würde.
Sie versuchte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, doch er blockte geschickt ab und war im Gegenzug darum bemüht, ihr den Mopp zu entreißen. Sie traf ihn in den Rippen und er wich einen Schritt zurück, nur um zum erneuten Angriff anzusetzen. Dann versuchte sie, seinen Hals zu treffen. Sie zielte auf die Stelle zwischen Schulter und Kieferansatz, doch sie traf seine Schläfe. Der Holzstock traf mit genügen Schwung auf, sodass der Fremde dadurch zu Boden ging und keuchend liegen blieb.
Einen Moment blieb Stella stehen und lauschte, ob der Mann weiterhin atmete. Dann ließ sie den Mopp fallen und lief zurück in den Flur. Eine Schwester hatte das Gepolter gehört und eilte ihr bereits zur Hilfe.
Der Bewusstlose wurde untersucht und behandelt. Stella sorgte dafür, dass er starke Schmerz- und ein Schlafmittel bekam und ließ ihn im großen Raum auf der Station unterbringen.
Der dunkel gekleidete Fremde hatte keinen Ausweis bei sich getragen und keine der Schwestern kannte ihn, doch in seinem Zustand würde er erstmal keine Gefahr mehr darstellen.
Stellas Schichtende war schon längst überschritten und nach einem letzten Blick in Natashas Zimmer machte sie sich auf den Weg nach Hause.
***
Als Natasha ihre Augen langsam öffnete, wurde sie von dem hellen Licht um sie herum geblendet. Sie blinzelte, um sich langsam daran zu gewöhnen, und nahm Stück für Stück mehr von ihrer Umgebung wahr.
Die Wände des kleinen Raumes waren weiß gestrichen und von großen, jalousiebehangenen Fenstern durchbrochen. Es roch nach Desinfektionsmittel. Neben ihr piepste ein Apparat stetig vor sich hin. An ihrem Arm steckte ein Schlauch. Ein weiterer Schlauch war um ihre Nase gelegt worden und etwas klemmte an ihrem Finger.
Mit den Sinneseindrücken kehrten auch die Erinnerungsfetzen zurück, was passiert war. Sie war in die Stadt gekommen um eine Gruppe in Augenschein zu nehmen, die es wohl darauf abgesehen hatte, einen von Tonys Satelliten zu sabotieren. Es war ihr gelungen, den Verantwortlichen aufzuhalten, doch gleichzeitig hatte er fliehen können.
Um in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachdenken zu können, war sie in das etwas abseits gelegene Motel eingekehrt. Und dann hatte es die Explosion gegeben. Sie konnte ein Zufall gewesen und durch einen defekten Gasboiler verursacht worden sein. Doch Natasha glaubte in solchen Fällen nur ungern an Zufälle.
Danach war ihre Erinnerung verschwommen.
War es ausgerechnet Stella, die mich behandelt hat? Sie wird mich wiedererkannt haben, schoss ihr gerade durch den Kopf.
„Guten Morgen, Darja", hörte sie eine vertraute Stimme von der Tür aus. „Wie geht es dir heute?", fragte Stella, bevor sie sich in Bewegung setzte und die Apparate neben dem Bett überprüfte.
„Ich habe gerade überlegt, ob ich nachher noch einen Marathon laufen sollte", versuchte Natasha zu scherzen.
„Daraus wird heute nichts werden", entgegnete Stella. „Darf ich mir deine Wunden einmal ansehen?"
Natasha nickte. Stella zog die Jalousien zu und hob die Bettdecke und das Patientenhemd an. Dabei wurden die beiden Stellen freigelegt, die jeweils mit einem Verband abgedeckt waren.
Stella entfernte den ersten Verband und untersuchte wortlos die darunter befindliche Naht und tastete sie vorsichtig mit dem Finger ab, bevor sie sie mit frischem Material wieder abdeckte. Ebenso machte sie es mit der zweiten Stelle. Sie deckte Natasha wieder zu und zog dann ein Fieberthermometer aus ihrer Kitteltasche, das sie ihr an die Stirn hielt.
„Deine Wunden sehen so weit gut aus", sagte die Ärztin mit hochgezogenen Augenbrauen. „Und deine Werte sind auch in Ordnung."
„Soll mich das beruhigen, dass du so überrascht klingst?"
„Du hast eine Explosion überstanden, da hätte weitaus mehr passieren können", entgegnete Stella eilig.
„Ach, das war gar nichts", schmunzelte Nat. „Wann darf ich hier raus?"
„Ich verstehe, dass du ungern bleiben möchtest. Aber ein paar Tage solltest du dich noch gedulden. Die Wunden können wieder aufreißen. In deinem Oberschenkel war eine Arterie verletzt – wenn die wieder aufgeht, könntest du verbluten."
Sie wägte ihre Möglichkeiten ab und kam zu dem Schluss, dass sie gerade keine andere Möglichkeit hatte, als auf die Ärztin zu hören.
Stella hatte sich kurz abgewandt, um die Jalousien wieder zu öffnen. Gerade als Nat noch etwas antworten wollte, glitt ihr Blick zu einem Mann, der gerade in einem Bett durch den Flur geschoben wurde.
Den habe ich im Motel gesehen! Gehört er zu den Saboteuren?
„Was ist mit dem da?", fragte Nat und nickte in Richtung Flur.
„Der ist heute Nacht über einen Mopp gestolpert. Wir kümmern uns gut im ihn."
„Gestolpert?", hinterfragte Nat.
Stellas Wangen röteten sich leicht und sie nickte still.
Nat musste ein wenig grinsen. „Er hätte besser aufpassen sollen, wo er hinläuft."
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