21. Das Notizbuch

Während alle anderen entweder beim Dienst oder in der Schule waren, hatte Steve ein wenig Zeit draußen verbracht. Er war in die Wohnung zurückgekehrt, als es anfing, zu regnen.

Als er an der Haustür ankam, war der Postbote gerade dabei, die Briefkästen zu füllen. Steve ließ sich Stellas Post reichen, um sie gleich mit nach oben zu nehmen. Neben der Werbung enthielt der Stapel auch einen großen Umschlag aus Deutschland. Den Namen des Absenders erkannte Steve wieder, denn Stella hatte ihm vor einer Weile von ihrem ehemaligen Mitbewohner Antonio erzählt.

Er fand es schön, dass die beiden über die Jahre hinweg den Kontakt gehalten hatten und sich bis heute noch kleine Geschenke schickten.

Damit Stella das Päckchen bei ihrer Heimkehr sofort sehen konnte, legte Steve es gut sichtbar auf den Küchentisch.

So wie Steve es vorhergesehen hatte, freute sich Stella über die Überraschung und ein herzliches Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen, während sie den Umschlag öffnete und mit einem leichten Staunen das enthaltene spiralgebundene Buch durchblätterte.

Als sie fertig war, reichte sie es Steve und er selbst staunte ein wenig über die enthaltenen Bilder. Jede Seite enthielt ein in Grautönen gehaltenes Bild und die Motive zeigten Feen, Drachen und andere Fantasiewesen. Steve juckte es in den Fingern endlich mal wieder selbst zu zeichnen, als er die Bilder sah.

„Jetzt hat er mir schon ein zweites Buch gemacht", stellte Stella ein wenig ungläubig fest. „Dabei habe ich mich an das Erste noch gar nicht gewagt."

„Hat Antonio die Bilder gezeichnet?"

„Ja, er gehört zu den Leuten, die da wirklich Talent für haben, oder?"

Steve nickte.

„Als Tätowierer verdient er damit auch seinen Lebensunterhalt", erklärte Stella. „Die Idee mit dem Buch hat er sich von einem Typen aus Kanada abgeguckt, der sich mit so etwas schon eine große Fanbasis aufgebaut hat. Nur das Antonio das extra für mich gemacht hat."

Steve hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie sich davon ein wenig geehrt fühlte. Er fand es schön, dass ihr Freund auf diese Weise ihr Hobby unterstützte.

„Er würde sich sicher freuen zu sehen, was du daraus machst", stellte Steve fest.

Sie blickte verlegen auf die Tischplatte. „Damit überschätzt er mich aber sehr. Nichtsdestotrotz sollte ich mich bald bei ihm melden und ihm sagen, dass es gut bei mir angekommen ist", wehrte sie weitere Versuche sie zu ermutigen ab und räumte das Päckchen auf den Küchenschrank.

„Hast du vielleicht noch ein leeres Notizbuch da?", fragte Steve vorsichtig.

„Ja, im Arbeitszimmer im Regal neben dem Fenster liegen ein paar davon. Sowohl mit Linien also auch mit Blankoseiten. Bedien dich gerne, wenn du eins brauchst", antwortete sie, ohne zu zögern. „Ich kaufe die immer auf Vorrat, wenn ich beim Einkaufen drüber stolpere", gab sie lachend zu.

„Ich sollte so langsam mal einkaufen fahren, wenn wir heute Abend etwas essen wollen", verkündete sie schließlich. „Aber Michael wird dir sicher bald Gesellschaft leisten", fügte sie hinzu und verursachte damit einen kleinen Klumpen in Steves Magen.

Er sehnte sich nicht danach, mit ihrem Ehemann allein Zeit zu verbringen, auch wenn es sicher eine günstige Gelegenheit wäre, ihm die Meinung zu sagen. Nur befürchtete Steve, dass Stella im Moment nichts von seiner Meinung wissen wollte.

Nachdem Stella zu ihrem Einkauf aufgebrochen war, ließ Michael nicht mehr lange auf sich warten. Er begrüßte Steve freudig, so als ob sie immer noch gute Freunde wären.

Ich habe nach dem Vorfall in der einen Nacht tatsächlich nicht mehr mit ihm gesprochen. Vielleicht ahnt er wirklich nicht, dass ich sein Verhalten abstoßend finde. Aber so etwas muss man sich doch denken können, oder? Kann er wirklich so verblendet sein, dass er gar nichts merkt?, dachte Steve, während Michael ihm in einem Redeschwall von seinem Tag im Stützpunkt berichtete.

„Willst du auch einen Kaffee?", war schließlich der erste Satz, der wieder zu Steve durchdrang.

„Nein", sagte Steve knapp.

„Was anderes?"

Steve schüttelte den Kopf.

„Also ich nehm mir jetzt noch die Zeit dafür, bevor ich gleich zu Dad herüber muss. Ich darf heute seinen Rasen mähen", erzählte Michael einfach weiter.

Während sein heißes Getränk in die Tasse lief, sah er sich den Stapel Post an und entdeckte auch Antonios Brief, welchen er mit hochgezogenem Mundwinkel und einem kleinen Kopfschütteln zur Kenntnis nahm.

„Oh, er hat ihr noch so ein Malbuch gebastelt?", fragte er, ohne von Steve eine Antwort zu erhalten. Steve wartete ab, worauf Michael hinaus wollte.

„Hat sie dir schon von ihrem neuen Tick erzählt?"

„Tick" war ein Wort, das Steve bei dieser Frage sauer aufstieß. Er versuchte, seine Anspannung zu verdrängen, und zuckte mit der Schulter.

„Sie beschäftigt sich da neuerdings jeden Abend vor dem Schlafengehen mit. Kaum zu glauben, dass Erwachsene sich tatsächlich mit Malbüchern beschäftigen. Aber damit ist sie nicht mal allein. Es gibt im Internet haufenweise Leute, die das machen und alles rund um das Thema sammeln."

„Meinst du mit >>neuerdings<< etwa so ungefähr, nachdem sie auf mysteriöse Weise die Treppe heruntergefallen ist und irgendwann zum Glück wieder einen Stift halten konnte?", musste Steve einfach sticheln.

„Ja, ich weiß, dass das so eine Art Kunsttherapie für sie ist", gab Michael zu. Sein fröhliches Grinsen begann aus seinem Gesicht zu verschwinden.

„Aber ich verstehe nicht, warum sie sich dann so ziert das Buch von ihrem Kumpel auszumalen. Der hat doch einfach nur die Originale eingescannt, ausgedruckt und gebunden. Das kann er doch notfalls immer wieder tun, oder?"

Weil es Stella nicht um das Material geht, fuhr es Steve durch den Sinn, während er aufstand und sich in voller Größe vor dem Piloten aufbaute. Sie freut sich über die Geste. Darüber, dass er die Bilder für sie ausgewählt hat. Sicher hat er dabei auch ihren Geschmack berücksichtigt.

„Weil sie es zu schätzen weiß, was ein Freund für sie tut", fasste Steve seine Gedanken laut zusammen.

„Und ich glaube, dass du immer noch nicht zu schätzen weißt, was du an ihr hast", fügte er hinzu und machte einen Schritt nach vorne.

Michael wich automatisch einen Schritt zurück. Nach ein paar weiteren Schritten stieß Michael mit dem Rücken gegen die Wand und blickte mit großen Augen zu Steve auf.

„Gerade du solltest sie in allem unterstützen, was ihr hilft", machte Steve seinem Ärger weiter Luft und packte sein Gegenüber am Kragen. „Ich verstehe immer noch nicht, wie sie dich einfach wieder in ihr Leben lassen konnte, nach dem, was du ihr angetan hast. Vielleicht werde ich das nie verstehen. Aber eines steht fest: Wenn du ihr noch einmal weh tust, bin ich da."

Michael schluckte und wollte wohl gerade etwas sagen, als die Wohnungstür aufging und Stellas freundliches „Hallo" durch die Wohnung hallte.

Steve ließ ihn los, behielt ihn aber noch mit seinem Blick fixiert.

Stella stand im Türrahmen und fragte: „Na ihr beiden, alles klar bei euch?"

Michael lächelte sie an und antwortete: „Ja, ich habe ihn gerade gefragt, ob er mit zu meinem Dad kommt. Aber er steht wohl nicht so sehr auf Gartenarbeit."

„Bist du dann zum Abendessen zurück?", wollte sie wissen.

„Ja, bestimmt. Ich mache mich gleich auf den Weg und beeile mich", verkündete Michael und setzte sich in Bewegung.

Als Michael endlich weg war, stieß Steve leise sämtliche Luft aus und ließ einen Teil seiner Anspannung von sich fallen.

Stella war inzwischen emsig damit beschäftigt, die Einkäufe zu verstauen und anschließend die Wäsche zu machen und das Essen vorzubereiten. Steves Versuch, ihr dabei zu helfen lehnte sie ab.

„Du bist hier im Urlaub, also lass dich doch ruhig ein wenig verwöhnen", begründete sie ihre Weigerung.

Er ahnte, dass er darüber nicht mit ihr zu diskutieren brauchte, und beschloss, sein Vorhaben mit dem Zeichnen anzugehen.

Nachdem er sich in Stellas Arbeitszimmer kurz umgesehen hatte, fand er schnell das Regalfach mit den leeren Büchern. Während er nach einem Geeigneten suchte, fiel ihm eines entgegen, welches bereits dicht beschriebene Seiten aufwies.

Er wunderte sich über seine Entdeckung und er ahnte, dass er es am besten wieder zuklappen und beiseite stellen sollte. Doch das Buch weckte seine Neugier und automatisch blieb sein Blick an den Zeilen hängen.

Stella hatte hier einen ihrer Träume aufgeschrieben. Mit zahlreichen Details beschrieb sie, wie sie einem weißen Wolf in eine Wohnung in Bukarest folgte. Hinter dem Wort Bukarest stand ein kleines Fragezeichen. Offenbar war sie sich hierbei nicht sicher. Worin sie sich sicher war, waren aber die Umgebung und das karge Innere der Wohnung. Sie wusste wohl nicht, wem die Wohnung gehören könnte, aber der Besitzer hatte auf einem der wenigen Möbelstücke ein Notizbuch gelagert, in dem er Zeitungsartikel über Captain America gesammelt hatte. Unter der ausführlichen Beschreibung stand die Frage, was der Wolf mit Steve zu tun haben könnte?

Ist der weiße Wolf etwa ihr weißer Wolf, von dem sie schon immer geträumt hatte? Ist er doch jemand, den ich kennen könnte?, fragte sich Steve, während er wissbegierig durch die anderen Seiten blätterte und sie grob überflog. Der Traum wiederholte sich in leichten Abwandlungen.

„Was machst du da?", holte Stellas Frage ihn ins hier und jetzt zurück. Sie trat ein wenig näher, als er sich zu ihr umdrehte und somit den Blick auf das Buch in seiner Hand freigab.

Die Enttäuschung in ihren Augen versetzte ihm einen Stich.

„Liest du etwa mein Tagebuch?", fragte sie entsetzt.

Er hatte eigentlich sofort gewusst, dass es falsch war, darin zu stöbern, und er wusste selbst nicht, warum er seinem Wissensdrang nicht widerstehen konnte.

„Es ist mir entgegen gefallen, als ich nach einem leeren Buch gesucht habe", versuchte er zu erklären.

„Und warum hast du es nicht einfach zurückgestellt?", fragte sie und streckte die Hand danach aus.

Er gab es ihr bereitwillig und fuhr sich mit der anderen Hand über den Nacken. „Du hast von dem weißen Wolf in Bukarest geträumt. Was hat es damit auf sich?", konnte er es trotz allem nicht lassen, das Gelesene zu hinterfragen.

„Was?"

„Der weiße Wolf – ist es das gleiche Tier, von dem du schon immer geträumt hast?", hakte er nach.

„Ich weiß nicht, was du meinst", wehrte sie ab.

Er hörte, wie ihr Herz schneller schlug und er sah, wie sich ihre Muskeln leicht anspannten. Sie drückte das Buch unbewusst an sich.

„In der Nacht nach Tonys Party hast du mir erzählt, dass du manchmal nicht einfach nur träumst, sondern auch Dinge vorhersehen kannst. Und dass du oft von einem weißen Wolf geträumt hast", erklärte er seine Frage.

„Du weißt ganz genau, dass ich damals betrunken war", verteidigte sie sich weiter. „Ich habe einfach nur dummes Zeug erzählt. Das gibt dir kein Recht, in meinem Tagebuch zu lesen. Was ist in dich gefahren?"

„Ich weiß es nicht", antwortete er leise, um gleich darauf ihren Blick zu fixieren und bestimmt hinzuzufügen: „Aber wenn es eine Chance gibt, dass da irgendwo der weiße Wolf ist – sollten wir da nicht nachsehen, ob es wirklich so ist?"

Steve sah ihr an, dass sie mehr verängstigt als wütend war. Er hatte sie mit seinen Fragen in eine Ecke gedrängt und es tat ihm leid. Aber er verstand auch nicht, warum sie nicht einfach zu ihren Fähigkeiten stand.

„Noch einmal: Es war nur ein Traum. Aber wenn du zufällig nach Bukarest kommst, kannst du ja nachsehen, ob da wirklich ein Wolf in einer Wohnung sitzt. Wenn du ihn findest, kannst du ihn von mir knuddeln", giftete sie weiter, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

„Es tut mir leid, ich hätte das nicht tun dürfen", lenkte Steve schließlich ein. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Normalerweise ist das gar nicht meine Art", versuchte er weiter zu erklären.

„Das dachte ich auch", sagte sie leise.

„Ich werde das nie wieder tun. Aber vorhin, habe ich wohl geglaubt ein wenig schlauer aus dir werden zu können", fügte er sanft hinzu. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, und ich möchte dich einfach nur verstehen."

„Ich habe dir gesagt, dass alles in Ordnung ist. Glaub mir das einfach. Und lass die Finger von meinen Notizen", forderte sie.

Er nickte schnell. „Ich fasse hier nichts mehr an", schwor er und hoffte, dass sie ihm weiterhin vertrauen konnte.

Sie atmete durch und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke die Augen trocken. Still schritt sie an ihm vorbei zum Regal und stellte ihr Buch zurück. Mit einer gezielten Bewegung holte sie ein anderes hervor, blätterte kurz darin und fragte: „Möchtest du lieber weiße oder gelbliche Seiten?"

„Ich nehme das, was du mir gibst", antwortete er bescheiden. Er fand, dass er sich das Recht auf irgendwelche Sonderwünsche verspielt hatte.

Sie reichte ihm das Buch, dass sie gerade in der Hand hatte und sah ihn abwartend an.

„Danke", sagte er. „Kannst du mir verzeihen?"

„Ich möchte mich nicht mit dir streiten", sagte sie nach einem Seufzer. „Aber mach das nie wieder, ja?"

„Nie wieder", bestätigte er.

Sie nickte.

„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mir mit dem Gurkenglas helfen kannst", fügte sie versöhnlich hinzu.

„Na klar", versicherte Steve und folgte ihr in die Küche.

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