2. Der Heimweg
Auf dem Weg aus dem Krankenhaus heraus kam Steve an einer offenen Tür zu einem Behandlungsraum vorbei.
„Was hat dir diese Aktion jetzt genützt?", hörte er Estelle in dem Raum schimpfen und schaute durch die Tür, um zu sehen, wen sie meinte.
Michaels Kamerad Stan saß auf der Behandlungsliege und ließ sich gerade von Estelle seine Blessuren behandeln. Er hatte ein blaues Auge, seine Nase blutete und seine Handknöchel waren leicht aufgeschürft.
Auf Estelles Frage hin zuckte er nur kleinlaut mit den Schultern.
„Ich kann dein Bedürfnis, ihm eine reinzuhauen echt nachvollziehen. Das kann hier vermutlich jeder. Aber er wird sich trotzdem wie ein Wurm herauswinden und am Ende schadet es deiner Karriere. Was hat man dir denn jetzt für eine Strafe aufgebrummt?"
„Bis zu einer Anhörung bin ich erstmal suspendiert", gestand Stan leise.
Estelle schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Und dann? Womöglich versetzen sie dich jetzt an den Arsch der Welt."
Stan zuckte erneut mit der Schulter und sah vorsichtig zu der Ärztin hinauf.
„Es wäre am besten, wenn du diese Nacht zur Beobachtung hierbleiben würdest", sagte Estelle schließlich.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht so einfach. Morgen Früh muss ich nach meinem Großvater sehen. Außerdem geht es mir gar nicht so schlecht. Ich habe keine Kopfschmerzen und mir ist auch nicht übel."
„Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen."
„Ich komme schon klar. Und sollte sich was ändern, komme ich einfach hierher zurück", versicherte Stan.
Estelle verdrehte die Augen und sagte: „Wenn du unbedingt meinst. Zwingen kann ich dich nicht. Aber behaupte nicht, dass ich dir nicht dazu geraten hätte!"
„Mach ich nicht."
Kopfschüttelnd sagte sie leise „Du Idiot", bevor sie ihm einen Kuss auf die Wange gab und den Raum verließ.
Vor der Tür grüßte sie Steve und verschwand dann im Gang.
Stan sah ihr überrascht hinterher, schwang sich von der Liege und kam zu Steve in den Flur.
„Hallo Steve! Ich wusste nicht, dass du hier bist. Du hast bestimmt nach Stella gesehen, oder?"
„Ich musste einfach herkommen. Ich hatte mir Sorgen gemacht. Was ist mit deinem Gesicht passiert?"
Stan lächelte schief. „Kleine Auseinandersetzung mit meinem direkten Vorgesetzten."
„Michael?"
„Japp. Aber wenigstens hat er auch was abbekommen. Und ich konnte ein Küsschen von Estelle ergattern."
„Seid ihr ein Paar?"
„Schön wär's. Nein, ich habe mich bisher nicht getraut sie zu fragen. Eher würde ich einen Fallschirmsprung machen. Von der Stratosphäre aus. Ich glaube, ich bleibe dabei, meine Wange jetzt nie mehr zu waschen."
„Estelle würde sie vermutlich eher noch mal küssen, wenn du sie doch wäschst", versuchte Steve sich ein müdes Lächeln abzuringen. „Wo hält sich Michael auf?", stellte er schließlich seine dringendste Frage.
„Er ist immer noch in der Zelle beim Wachdienst. Irgendwer recht weit oben hat angeordnet, dass er dort erstmal gelassen wird. Da hat sein Dad wohl sein Vitamin B genutzt. Aber niemand hat gesagt, wie gut er behandelt werden soll, und die Jungs vom Wachdienst sind auch nicht sonderlich begeistert, dass sie ihn die ganze Zeit über unterbringen sollen. Eigentlich sind das ja nur bessere Ausnüchterungszellen. Da muss er schon mit wenig Komfort auskommen. Oder sich entscheiden, sich der Polizei zu stellen."
„Gibt es eine Chance, ihn zu besuchen?"
„Nein, für Leute, die nicht in diesem Stützpunkt stationiert sind, gar nicht. Es tut mir leid. Es gibt nichts, was wir jetzt tun können. Aber sie werden ihn nicht ewig da drin lassen. Und keine Angst, die Jungs werden schon noch fair bleiben. Niemand hat Lust, sich die Hände an ihm schmutzig zu machen. Man muss dazu schon ein ziemlicher Idiot sein."
Steve nickte still und fragte sich, ob Tony möglicherweise ausreichend Kontakte in der Air Force besaß, um hierauf Einfluss zu nehmen.
Es darf nicht sein, dass Michael einfach so davon kommt.
„Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?", fragte Stan und riss Steve aus seinen Gedanken.
„Nein, ich bin mit dem Motorrad da."
„Wo übernachtest du?"
„Stellas Eltern haben mir ein Zimmer angeboten."
„Alles klar. Grüß die beiden von mir. Wenn ich was für sie tun kann, sollen sie sich melden."
Steve nickte und ging gemeinsam mit Stan auf den Parkplatz. Dort trennten sich ihre Wege und Steve fuhr zum Haus von Stellas Eltern.
Während Steve im Krankenhaus war, hatte Susan bereits ein Zimmer für ihn vorbereitet. Antony begrüßte ihn begeistert und zeigte ihm, wo er im Haus alles fand.
Nach dem Rundgang setzten sie sich zu Kenai an den Esstisch, auf dem der Großvater bereits eine warme Mahlzeit angerichtet hatte. Während des Essens herrschte Schweigen.
Nach dem Essen musste Antony noch den Rest seiner Hausaufgaben machen.
Steve wollte sich unbedingt um das dreckige Geschirr kümmern und Kenai sah ein, wie wichtig es ihm war, sich nützlich zu machen.
Viel gab es hierbei jedoch nicht zu tun. Die Teller und das Besteck waren schnell in der Spülmaschine verstaut und der Rest war ebenso fix abgewaschen.
Als alles erledigt war, ging Steve in das Obergeschoss und ging zu Kenais Arbeitszimmer, dessen Tür offen stand. Er klopfte leise am Türrahmen und wurde hereingewunken.
Im Arbeitszimmer sah Steve sich einen Moment lang um. Der Tomahawk, der Steve schon beim letzten Besuch in diesem Raum aufgefallen war, hing immer noch an der gleichen Stelle. Nur wirkte die Kriegsaxt jetzt so, als sei sie erst vor kurzem frisch poliert worden.
„Vorsicht, die Klinge ist immer noch recht scharf!", verhinderte Kenai Steves Impuls, das Metall anzufassen.
Er wandte sich von der Axt ab und setzte sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch.
„Ich habe vorhin Stan getroffen und soll euch von ihm grüßen", erzählte Steve.
„Das ist nett. Wie geht es ihm?"
„Er hat ein blaues Auge und eine angeknackste Nase."
„Was ist passiert?", wunderte Kenai sich.
„Er hat sich irgendwie mit Michael angelegt. Aber er sagt auch, dass Michael weiterhin quasi in Schutzhaft beim Wachdienst im Stützpunkt ist."
Kenai lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß frustriert die Luft aus. „So lange das so ist, kommt niemand an ihn heran. Ein erstaunlich intelligenter Zug von ihm."
„Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, zu ihm zu gelangen?"
„Nein. Nichts, was legal wäre. Auch für dich nicht", betonte Kenai. „Außerdem, was soll passieren, wenn du vor ihm stehst? Er ist es nicht wert, dass du dir wegen ihm irgendeine Form von Ärger einhandelst."
Steve spannte sich leicht an und presste die Lippen aufeinander.
„Ich weiß, dass es unglaublich frustrierend ist, in der Sache nichts unternehmen zu können. Das empfinde ich auch so, das kannst du mir glauben. Aber gerade du kannst deine Energie für Besseres als Michael einsetzen. Und so schlimm es auch ist: Auch wenn Michael bestraft wird, ändert es nichts an Stellas Zustand."
Steve blickte betreten auf die Tischplatte und entdeckte einen Notizzettel, der in Stellas Handschrift geschrieben wurde. Er kniff die Augen zusammen und versuchte den Text, der aus seiner Sicht auf dem Kopf stand, zu lesen. Es handelte sich um eine Adresse für eine Klinik und eine Telefonnummer.
„Auch wenn es unwahrscheinlich klingen mag, habe ich Angst, dass Stella ihn einfach weitermachen lässt, wenn sie wieder aufwacht", gab Steve zu bedenken.
Kenai nickte und nahm nachdenklich den Notizzettel in die Hand. „So unwahrscheinlich ist das gar nicht. Sie hatte darauf gehofft, dass er sich melden würde, um zu reden. Als Bedingung für ihre Rückkehr zu ihm wollte sie ihn aber dazu überreden sich in eine Entzugsanstalt einweisen zu lassen. Sie muss diesen Zettel hier geschrieben haben, kurz bevor Michael dann aufgetaucht ist", sagte er und legte den Zettel wieder ab. „Es wäre meine Aufgabe gewesen, sie vor ihm zu schützen, und ich habe auf voller Länge versagt", fügte er leise hinzu und Steve sah ihm an, dass seine starke Schale nun bröckelte.
Die Situation nimmt ihn ziemlich mit. Wenn man gegen Michael etwas tun könnte, würde er es machen, oder?
„Sie ist erwachsen und trifft ihre eigenen Entscheidungen. Du wirst ihr deswegen nicht immer helfen können."
„Ich muss es trotzdem versuchen", entgegnete Kenai und lächelte leicht. „Sie sagt manchmal, dass wir uns viel zu viel Sorgen um sie machen. Aber ich glaube, je älter Antony wird, desto mehr versteht sie uns, weil sie sich letzten Endes genauso viele Sorgen um ihn macht. Wenn man ein Kind hat, ist das einfach für den Rest des Lebens so."
„Ich bin froh, dass sie Eltern, wie euch hat. So weiß ich, dass sie nicht allein ist, auch wenn Tony oder ich nicht für sie da sein können", sprach Steve seinen Gedanken laut aus.
Die beiden verfielen in einen Moment des Schweigens und Steve versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Ich kann nichts für Stella tun. Ich kann ihren Zustand nicht verbessern und ich kann auch nicht für Gerechtigkeit sorgen. Ich bin hier völlig nutzlos, folgerte er. Vielleicht wäre es besser, wenn ich mich gleich morgen von Nat abholen lasse und mich im Tower auf die kommenden Missionen vorbereite. Ich hoffe, die Hammonds werden nicht enttäuscht sein.
„Ich werde morgen bereits wieder abreisen", verkündete Steve seinen Plan. „Würdet ihr mich auf dem Laufenden halten?"
Kenai nickte verständnisvoll. „Ja, natürlich. Es tut mir leid, dass wir dich nicht gleich angerufen haben."
„Das verstehe ich. Ihr musstet selbst erstmal damit klar kommen."
Er ließ Kenai allein in seinem Arbeitszimmer zurück und vertrat sich um das Haus herum noch ein wenig die Füße.
Im Garten fand er eine Bank, auf der er Platz nahm und einen Augenblick lang die Aussicht über das Grundstück hinweg auf das Meer genoss. Er holte sein Smartphone aus der Tasche und versuchte zunächst, Nat anzurufen. Als sie nicht ranging, mühte er sich ab, eine Textnachricht zu verfassen und sie auf dem Weg zu bitten, ihn abzuholen.
Kurz nachdem er die Nachricht endlich abgeschickt und das Gerät wieder in seine Tasche zurück geschoben hatte, kam Antony heraus in den Garten.
„Darf ich mich dazu setzen?", fragte das Kind.
„Ja, natürlich."
Der Junge setzte sich hin und zeigte Steve zuerst seinen Spielzeugroboter. Er erklärte ihm, dass er ihn jetzt schon ein paar Jahre hatte und er jedes Jahr zum Geburtstag ein Erweiterungsset bekam, um die Fähigkeiten des Roboters auszubauen.
„Ich wollte es Mom zeigen, aber an dem Tag hatte sie den Unfall", schloss er seine Erklärungen ab.
Antony braucht Trost, aber was kann ich einem Kind sagen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken oder es zu verängstigen?
„Dann zeig es ihr, wenn sie wieder wach ist", antworte Steve.
Antony nickte und erzählte dann weiter: „Gestern wollte ich sie besuchen, doch ich habe es nur ein paar Sekunden in ihrem Zimmer ausgehalten. Dann bin ich rausgerannt wie ein Feigling."
„Du bist deswegen kein Feigling. Es ist ein schwerer Anblick, sie so zu sehen."
„Ich verstehe nicht, wie sie das macht. Sie hatte bestimmt schon viele Patienten, die so daliegen wie sie, oder? Aber sie geht jeden Tag zu ihnen, bleibt bei ihnen und hilft ihnen. Sie ist irgendwie stark, finde ich."
„Ja, das ist sie", bestätigte Steve.
„Also nicht so wie du. Anders stark halt", versuchte Antony weiter zu erklären.
Stella kann Stolz auf ihren Sohn sein. Er hat verstanden, dass Stärke nicht unbedingt etwas mit Muskelkraft zu tun hat. Damit ist er klüger als manche Erwachsene.
„Ich weiß, was du meinst. Und du hast recht damit. Sie wird sich bestimmt freuen, wenn du ihr das sagst, sobald sie wieder aufwacht."
„Antony, du musst langsam ins Bett. Morgen musst du zur Schule", sagte Kenai, durch die offene Terrassentür.
Der Junge sprang auf und wünschte Steve noch eine gute Nacht.
Bevor Steve ebenfalls ins Bett ging, bekam er von Nat noch eine kurze Antwort, dass sie am Vormittag am Flughafen sein wird.
Nach dem Gespräch mit Antony war Steve sich nicht mehr so sicher, ob er das Richtige tat, wenn er jetzt einfach wegging. Doch er wollte auch Nat nicht wieder absagen. Stattdessen hoffte er, dass sie nicht allzu viele Fragen stellen würde.
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