18. Die Zuflucht
Stella fuhr mit Odin zum Flughafen und lieh einen der Jets ihres Vaters aus. Das Fluggerät hatte eine ähnliche Bauweise, wie die von S.H.I.E.L.D eingesetzten Quinjets, mit dem wesentlichen Unterschied, dass der Innenraum komfortabler ausgestattet war. Der Senkrechtstarter ließ sich durch die zahlreichen Assistenzsysteme recht einfach fliegen, weswegen Stella ihn auch mit ihrer einfachen Sportfluglizenz bedienen durfte.
Odin saß während des Fluges die meiste Zeit auf einem der Sitze und betrachtete die vorbeiziehenden Wolken.
Stella nutze die Zeit, um noch ein paar Telefonate zu führen.
Schließlich setzte der Jet sanft am Rand von Tønsberg auf.
Torm Jenssen hatte ein breites Lächeln auf seinem rundlichen Gesicht und er begrüßte die Ankömmlinge mit einem herzlichen Handschlag.
„Für Mr. Borson habe ich das Haus hier am Ortsrand vorbereitet", sagte er mit einem Augenzwinkern. Torm war ein begeisterter Fan von Thor und der nordischen Mythologie, was ihn schnell dazu verleitet hatte eine Verbindung von Mr. Borson zu Odin, Sohn von Bor, herzustellen. „Es ist alles da, was man zum Leben braucht. Und wie versprochen werde ich regelmäßig vorbeischauen und die Einkäufe erledigen."
„Wovon ich die Kosten übernehmen werde", forderte Stella.
„Ja, wenn Sie das so wollen, machen wir das so", bestätigte der junge Norweger und führte die beiden in das kleine Haus.
Gemeinsam mit Stella setzte er sich an den Esstisch und klärte die letzten Formalitäten, während Odin das Haus erkundete.
Nachdem alles erledigt war, verabschiedete Torm sich und ließ die beiden zurück.
Odin wollte vor dem Schlafengehen noch ein wenig spazieren, wobei Stella ihn begleitete. Sie machten auf der Anhöhe halt, die Stella in ihrem Traum gesehen hatte. Ein Fels diente Odin als Sitzplatz und sie machte es sich ihm gegenüber im Gras gemütlich.
„Ich werde gleich morgen Früh wieder aufbrechen. Zuhause warten noch Verpflichtungen auf mich, die ich nicht aufschieben will", verkündete sie, nachdem sie eine Weile die klare Luft genossen hatte.
Mit einem väterlichen Lächeln nickte Odin: „Du willst zurück zu deiner Familie. Das verstehe ich. Du hast einen Sohn, auf den du sicher stolz sein kannst."
„Das bin ich", bestätigte sie und fuhr dann vorsichtig fort: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Auch wenn sie ein wenig seltsam klingt?"
„Was möchtest du wissen?"
Sie zögerte einen Augenblick, doch sie musste diese Frage einfach loswerden. „Warum ist gerade Loki in meinen Träumen so präsent gewesen? Ich habe zwar nicht oft in meinem Leben von ihm geträumt, aber wenn, dann kam es mir so vor, als stünde er tatsächlich in meiner Nähe. Liegt das an seiner Macht?"
Zu Stellas Verwirrung schmunzelte Odin nur und fragte: „Gibt es in deiner Familie ein Erbstück, das seit vielen Generation weiter gereicht wird? Ein Schmuckstück aus Gold oder ein Edelstein?"
„Das ist mir nicht bekannt", antwortete sie skeptisch.
„Du solltest mal danach fragen. Und dann solltest du meine Söhne aufsuchen und sie darauf ansprechen. Sie werden dir eine Antwort geben können."
Odin klang so, als wolle er nicht näher auf ihre Frage eingehen, weswegen sie nicht weiter nachhakte. Er ergriff jedoch von sich aus wieder das Wort.
„Vielleicht ist dann auch die Zeit gekommen, zu der du anfängst, an deine Fähigkeiten zu glauben."
Sie sah ihn verwundert an.
„Ich merke, dass du die ganze Zeit über zweifelst. Wahrscheinlich haben die Menschen einfach über ihre neue Magie hinweg vergessen, welche Fähigkeiten manche von ihnen, auch wenn es selten vorkommt, haben können. Du musst dich wohl erst an den Gedanken gewöhnen, dass du all dies wirklich kannst. Und vermutlich noch mehr."
Sie öffnete den Mund, wusste aber nicht, was sie sagen sollte, und schloss ihn wieder.
Der Allvater winkte freundlich ab. „Es ist in Ordnung. Deine Zeit wird kommen und du wirst deinen Weg finden. Fürs Erste solltest du wirklich schlafen gehen. Morgen hast du noch eine lange Reise vor dir."
Stella nickte still und verabschiedete sich für die Nacht.
Während Odin sich in seinem neuen Haus einrichtete, nutze sie die Schlafkoje im Jet.
Am nächsten Morgen versicherte sie sich schließlich, dass Odin wirklich alles hatte, was er brauchte, und brach dann auf.
Der Flug verlief problemlos, doch die vielen Stunden waren trotzdem ermüdend. Umso dankbarer war Stella, als der Jet endlich wieder am New Yorker Flughafen aufsetzte.
Als sie die Luke öffnete, rechnete sie damit, dass ihr das Personal entgegenkam, das für die Unterbringung der Maschine zuständig war. Aber der erste Mensch, den sie erblickte, war ihr Vater, der mit verschränkten Armen darauf wartete, dass sie ausstieg.
Sie spürte, dass er sie zur Rede stellen wollte, und hielt ihre Begrüßung entsprechend kurz.
„Wir haben heute noch die letzten Formalitäten vor uns. Morgen früh würde ich dann gerne direkt nach Cape Canaveral zurückfliegen", erklärte ihr Vater, statt Fragen zu stellen.
Er hebt sich das für später auf. Das heißt, dass er es genau wissen will. Was soll ich ihm nur zu den letzten Tagen sagen? Und dazu, dass ich im Namen der Firma recht viel Geld für diese Aktion ausgegeben habe?
Sie folgte ihrem Vater brav zum Auto, mit dem sie zum Hammond-Building fuhren, um dort ihre Termine wahrzunehmen.
Als alles erledigt war, fuhren sie mit dem Aufzug ins Penthouse.
„Ich muss mit dir reden", kündigte ihr Vater an, nachdem sie das Wohnzimmer betreten hatten, und wies mit der Hand auf die Couch.
Stella setzte sich hin und wartete ab, was er zu sagen hatte.
„Du hast also dieses Fischerdorf gekauft. Wie kommt es dazu?"
Einen Augenblick ertappte sich Stella dabei, ihm einfach die ganze Wahrheit erzählen zu wollen. Doch dann besann sie sich auf die abgespeckte Version, die sich für sie deutlich rationaler anfühlte.
„Es war auf allen Nachrichtensendern, dass die Leute von Roxxon das Dorf aufkaufen wollten. Aber sie haben auch versucht die ehemaligen Bewohner um ihr Geld zu prellen. Und die Ölbohrplattform, die sie errichten wollten, hätte sich wahrscheinlich in eine Umweltkatastrophe verwandelt."
„Das mag stimmen, aber es ist eine ziemlich plötzliche Investition ..."
„Es hat erstaunlich wenig gekostet, dafür, dass es hier um ein ganzes Dorf geht. Hier in New York ist so manch ein einzelner Wohnblock teurer."
„Das mag sein. Aber der hat auch keinen so abgelegenen Standort."
„So abgelegen ist das gar nicht. Mit einer kurzen Autofahrt kommt man in die nächste Stadt und kann sich mit allem versorgen."
„Und wer soll sich da zukünftig versorgen?"
„Flüchtlinge."
„Flüchtlinge? Aber die Leute aus Sokovia sind inzwischen längst versorgt und arbeiten eher daran, in ihre Heimat zurückzukehren," wandte ihr Vater skeptisch ein.
„So wie sich die Welt in den letzten Jahren entwickelt, kann auch erneut eine Katastrophe eintreten. Von den Naturgewalten, die die Menschen heimsuchen könnten, ganz abgesehen."
„Das heißt, wir heben jetzt ein leerstehendes Dorf auf, für den Fall, dass es mal jemand gebrauchen kann?"
„Torm hat sich bereit erklärt, sich um den Erhalt der Bausubstanz zu kümmern und um die Probleme mit den örtlichen Behörden, sobald die neuen Bewohner eintreffen."
Er wischte sich erschöpft durchs Gesicht und sah ihr tief in die Augen. „Du hast etwas gesehen, oder? Was war es?"
„Die Nachrichten", wehrte sie ab. „Und ein nettes Dorf, in dem im Moment aber niemand mehr wohnt."
Er rollte genervt mit den Augen. „Das ist nicht das, was ich meinte, und das weißt du."
Sie presste die Lippen fest aufeinander und schwieg.
Will er wirklich hören, dass ich vermutlich auf die Empfehlung eines alten, dementen Mannes hin gehandelt habe?
„Wie sollen die Flüchtlinge da hinkommen? Wer entscheidet, an wen das Dorf vergeben wird?"
So weit hatte ich tatsächlich noch nicht nachgedacht. Aber Dad will jetzt wohl sofort eine Antwort.
„Ich würde gerne Steve eine Vollmacht ausstellen, das Dorf zu vergeben", kam ihr schließlich doch ein passender Einfall.
„Weil die Avengers meistens vorne mit dabei sind, wenn eine Katastrophe passiert", brachte ihr Vater den Gedanken zu Ende.
„Bitte verkaufe das Dorf nicht wieder", fügte Stella nach einem stillen Moment leise hinzu.
Er stieß die Luft aus und sagte dann: „Werde ich nicht machen. Vielleicht werde ich deine Hilfe in Anspruch nehmen, wenn es darum geht die Wogen zu glätten, die Roxxon im Moment verursacht. Die sind von deiner Idee nicht sehr angetan. Und eines Tages will ich die ganze Geschichte hören, okay?"
Sie nickte zunächst. Schließlich platzte eine Sache aus ihr heraus, die sie seit dem Treffen mit Michael beschäftigt hatte.
„Ich habe neulich Michael getroffen", begann sie.
Seine Augen weiteten sich ein wenig, aber er blieb ruhig sitzen und hörte zu.
„Er hat gemeint, du hättest ihm gedroht", fuhr sie fort.
Ihr Vater schwieg weiter.
„Du wolltest ihn die Treppe herunterstoßen, wenn er sich nicht in die Klinik einweisen lassen wollte. Ist das wahr?"
Jede Sekunde, die ihr Vater schwieg, ließ ihren Herzschlag beschleunigen. Seine knappe Antwort traf sie schließlich wie ein Tritt in den Magen.
„Ja."
„Ja?", hinterfragte sie. „Warum und mit welchem Recht?"
„Warum? Weil er dir weh getan hat und es nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, dass er dir wieder etwas angetan hätte. Er sollte sich von dir fernhalten, so lange er noch trinkt."
„Und du glaubst nicht daran, dass er sich bessern kann?", nahm sie ihren Ehemann instinktiv in Schutz. „Vermutlich wäre er auch von sich aus in die Klinik gegangen."
„Nein, ich glaube nicht, dass er sich von allein bessert. Ich denke, du hattest ihm bereits mehr als eine Chance gegeben und dass ihm das einfach egal war."
„Du siehst nur das, was du sehen willst. Er hatte sich gebessert, aber hatte es in letzter Zeit auch einfach nicht leicht. Dass anscheinend jeder etwas gegen ihn hat, macht es nicht besser."
Ihr Vater setzte dazu an, etwas zu sagen, doch sie fuhr fort: „Als ich ihn getroffen habe, sah er schon deutlich gesünder aus. Und soll ich dir was sagen? Er ist tatsächlich trocken. Es geht ihm gut und er verhält sich normal."
„Triffst du ihn jetzt etwa wieder regelmäßig?"
„Er ist immer noch mein Ehemann und es ist mein Recht, mit ihm zu sprechen."
„Ich glaube, dass er dich blendet."
„Du glaubst also, dass ich mich von ihm hinters Licht führen lasse? Hältst du mich für so naiv?" Sie stand von der Couch auf und tigerte nun davor auf und ab, während sie weiter redete. „Ich bin mittlerweile erwachsen, Dad. Du musst mir meine eigenen Entscheidungen zutrauen."
Er hob beschwichtigend die Hand. „Ich habe nie an dir gezweifelt, Chenoa. Aber du neigst manchmal dazu, zu sehr an das Gute in den Menschen zu glauben."
„Und all die Jahre, in denen ich glücklich mit ihm zusammengelebt habe? Sind die etwa bedeutungslos? Niemand macht einem jahrelang etwas vor. Und ich möchte nicht, dass du dich weiter darin einmischst. Du hast kein Recht, jemandem zu drohen. Und wann hattest du vor, mir etwas davon zu erzählen? Oder wolltest du es für dich behalten?", die letzten Sätze klangen lauter, als sie es wollte, aber sie wollte sie auch nicht zurücknehmen.
Ihre Nase kribbelte und ihre Muskeln waren angespannt. Sie versuchte mit aller Macht, ihren Atem zu entschleunigen. Im Augenblick wollte sie nichts mehr von ihrem Vater hören.
„Ich werde jetzt ins Bett gehen", presste sie hervor und zog sich eilig in ihr Zimmer zurück.
Es war Jahre her gewesen, dass sie mit ihrem Vater aneinandergeraten war, und sie fühlte sich ein wenig wie ein Teenager, der nicht mit seinen Freunden mitgehen durfte. Nur ging es jetzt um ihre eigene kleine Familie, die sie gegründet hatte.
Als sie sich ein wenig abgeregt hatte, nahm sie ihr Handy und schrieb eine Nachricht an Michael. Sie wollte sich nach ihrer Rückkehr in Cape Canaveral mit ihm treffen und schlug ihm einen passenden Zeitpunkt vor.
Michael antwortete schnell und freute sich auf das Treffen.
Er hat schließlich noch eine Chance verdient, oder?, dachte sie, nachdem sie sich den Termin im Kalender eingetragen hatte. Er muss ja nicht gleich wieder zu uns in die Wohnung ziehen. Aber unsere gemeinsamen Jahre können doch auch nicht einfach so verpuffen, versicherte sie sich selbst, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Am nächsten Tag sprach Stella kaum ein Wort mit ihrem Vater und blieb den kompletten Flug über still.
Sie war froh, als sie endlich wieder in ihrer eigenen Wohnung angekommen war und freute sich darauf, ihren Sohn wieder zu sehen.
***
Kenai stieß erschöpft seine komplette Luft aus, nachdem er die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Susan war noch mit Antony unterwegs, weswegen ihn niemand begrüßte und alles still war.
Sein Blick wanderte zu der Stelle, an der er seine verletzte Tochter gefunden hatte. Als er an das hilflose Gefühl und die Angst, sie zu verlieren, zurück dachte, bildete sich ein Kloß in seinem Hals.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, seufzte und schnappte dann seinen Koffer, um ihn in die Waschküche zu bringen. Sein nächster Weg führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Schon vor einer Weile hatte Elane versucht, ihn zu erreichen, und er nahm sich jetzt die Zeit, sie zurück zurufen.
Ihre Begrüßung fiel wie immer knapp aus und sie begann ohne große Umschweife mit ihrem Bericht.
„Die Wachmänner, die diese Woche abends Dienst hatten, haben berichtet, dass deine Tochter einen alten Mann mit in die Wohnung gebracht hat."
„Ein alter Mann? Kennen wir seinen Namen?"
„Nein. Sie hat ihn anscheinend mit nach Norwegen genommen und dort gelassen."
„Wen sollte sie nach Norwegen bringen? Kannst du das herausfinden?"
„Ich werde sehen, was ich tun kann", versicherte seine Sicherheitschefin und legte auf.
Am nächsten Tag rief sie Kenai erneut an: „Ich habe ein wenig mehr über den Mann herausgefunden. Sie hat ihn aus einem Seniorenheim abgeholt, in dem sie ihn an den beiden Tagen zuvor besucht hatte. Sein Name ist Fred Borson. Er war von seinem gesetzlichen Vormund eingeliefert worden, der aber wie vom Erdboden verschluckt ist, und wurde anschließend von niemandem besucht. Verwandte gibt es laut seiner Akte nicht."
„Warum sollte Stella gerade ihn aus einem Altenheim holen?"
„Ich glaube, dass er nicht der ist, für den er gehalten wurde. Ich habe dir eben ein Foto von ihm geschickt. Und ein paar Auszüge aus alten Büchern, auf die ich meine Theorie gerade stütze, auch wenn sie zugegebenermaßen recht wild ist."
„Und was ist deine Theorie?", wollte Kenai die Zusammenfassung hören.
„Er ist Odin, Sohn von Bor."
„Das ist tatsächlich eine wilde Theorie."
„In Anbetracht der Tatsache, dass auch Thor und Loki bereits auf der Erde gesichtet wurden, aber längst nicht unmöglich."
„Und was sollte Odin hier verloren haben? Warum war er in einem Altenheim?"
„Hat deine Tochter dir wirklich nichts davon erzählt?"
„Nein, und ich glaube auch nicht, dass ich in nächster Zeit etwas aus ihr herausbekomme. Als ich hörte, dass sie dieses Dorf gekauft hatte, hatte ich schon den Verdacht, dass sie etwas gesehen haben muss. Deine Theorie passt irgendwie dazu. Nur leider leugnet sie immer noch ihre Fähigkeiten aus irgendeinem Grund. Ich weiß nicht, ob sie je an sich glauben wird. Ich weiß nur, dass sie im Moment gar nicht mit mir redet."
„Sie hat ihn in einem Haus in Tønsberg untergebracht. Soll ich mal hinfliegen und mit ihm reden? In den letzten Jahren schien es immer kein gutes Zeichen zu sein, wenn sich ein Ase auf der Erde aufhielt."
„Ja, ich möchte wissen, was hier vor sich geht", bestätigte Kenai Elanes Vorschlag und verabschiedete sich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top